# taz.de -- Mitmachen: Die Medaillen an der Pinnwand
       
       > Für die Ausrichter geht es um mehr Teilhabe: Fast 5.000 Athletinnen und
       > Athleten starteten bei den Special Olympics in Hannover – auch Agnes
       > Wessalowski.
       
 (IMG) Bild: Nach 100 Metern im Ziel: Agnes Wessalowski wurde Dritte
       
       HANNOVER taz | Vor dem Lauf braucht sie Ruhe. Konzentriert schaut Agnes
       Wessalowski auf die Aschenbahn vor sich, schüttelt ihre Hände aus, klopft
       sich über Arme und Beine. Sie steht an der Startlinie zum
       100-Meter-Lauf-Finale, es geht um Medaillen. Als ihr Name über den
       Lautsprecher angekündigt wird, ertönt Jubel, die 35-Jährige selbst lässt
       sich davon nur kurz aus ihrer Konzentration reißen. Dann der Startschuss.
       Wessalowski ist die Kleinste in ihrer Startgruppe, aber sie hält gut im
       Hauptfeld mit. Es bleibt eng bis zum Schluss. Ihre Zeit – egal. Darum geht
       es nur am Rande. Sie wird Dritte; eine weitere Medaille für ihre Sammlung.
       
       Agnes Wessalowski ist eine von rund 4.800 Athletinnen und Athleten, die in
       Hannover bei den Special Olympics angetreten sind – den nationalen Spielen
       für Menschen mit geistiger Behinderung. Vom vergangenen Montag bis zum
       Freitag maßen sie sich in 18 Sportarten, darunter Leichtathletik, Fußball
       und Schwimmen, Judo, Kanu und Reiten.
       
       Wie viele Medaillen sie schon hat? Wessalowski winkt ab: „Ganz viele.“ Die
       sammelt sie an einer großen Pinnwand in ihrer Wohngruppe in Nettelnburg,
       einem Ortsteil von Hamburg-Bergedorf. Wessalowski ist vielseitig: Sie räumt
       auch beim Schwimmen regelmäßig ab. „Ich schwimme sehr gut“, sagt sie
       selbstbewusst. Am liebsten Brust oder Freistil, „Rücken eher selten“.
       
       Vom Schwimmtraining kennt sie auch Jens, ihren „Mitbewohner und Geliebten“.
       Er wohnt in derselben Wohngruppe, dienstags und donnerstags treffen sie
       sich in seinem Zimmer – zum Fernsehen: Dienstags gibt es „Baywatch“ von der
       DVD – die alten Folgen mit David Hasselhoff. Donnerstags, nach dem
       Training, schauen sie gemeinsam „Alarm für Cobra 11“ – „unsere
       Lieblingsserie“. Agnes isst dazu Chips, Jens Salzstangen. Tagsüber arbeitet
       sie als Schauspielerin im Theater Klabauter. Derzeit ist sie dort die
       Scherenschleiferin im Stück „Glücklos glücklich“. Da singt sie auch: „Ich
       singe sehr gerne.“
       
       Beim 100-Meter-Lauf lief es für sie besser als vorher beim Weitsprung: zwei
       von drei Versuchen ungültig. „Ich bin zweimal übergetreten“, sagt sie etwas
       enttäuscht. Weil der Abstand zwischen Absprunglinie und Sandgrube in jedem
       Stadion anders ist, passiert das leicht mal. „Damit hatte ich in L.A. schon
       Probleme“, sagt Wessalowski und meint die Sommerweltspiele im vergangenen
       Jahr. Da konnte sie sich auch Hollywood anschauen. „Das hat Spaß gemacht“,
       erzählt sie begeistert. Auch in Südkorea war sie schon, und für die
       nationalen Spiele in München und Düsseldorf. Ihre Familie hat sie immer
       dabei: Ein kleiner Stapel Fotos hat sie von ihren Eltern, ihrer Schwester
       und von Jens. „So kann ich ihnen besser gute Nacht wünschen“, sagt sie.
       „Ohne meine Familie kann ich nicht leben.“
       
       Ein Name, der immer wieder fällt, ist der ihres Trainers Björn. Weil Björn
       von Borstel zum Organisationsteam der Special Olympics Deutschland gehört,
       kann er sie in Hannover leider nicht begleiten. Aber sie weiß, dass er in
       der Nähe ist, im Büro in der Tribüne, oben im Erika-Fisch-Stadion. Verlässt
       er diese Schaltzentrale, ist er sofort umringt von Menschen mit Problemen:
       Startaufstellungen, Teamzusammenstellungen, Reglementierungen, es gibt viel
       zu klären – und von Borstel hat für alle ein Ohr.
       
       Der nationale Koordinator für Leichtathletik ist Trainer im
       Behindertensport, seit er 17 Jahre alt ist. „Ich habe einen Bruder mit
       Down-Syndrom, der manchmal mit mir trainiert hat“, erzählt er. Als
       Knieprobleme seine eigenen sportlichen Ambitionen zunichte machten, suchte
       er nach einer neuen Aufgabe. „Ich habe sehr früh den Trainerschein gemacht,
       weil ich bei meinem Bruder gesehen habe: Die brauchen ein vernünftiges
       Training.“
       
       Die Special Olympics kleckern nicht: HDI-Arena, Stadionbad, Sportpark,
       Maschsee, fast 2.300 freiwillige Helfer, knapp 1.800 Quadratmeter
       Containerfläche, rund 30 Kilometer Stromkabel. „Es geht um die Teilhabe am
       Leben“, sagt von Borstel. Für seine Arbeit im Behindertensport wird der
       44-Jährige von Borstel nicht bezahlt. Hauptberuflich arbeitet er in einer
       Sonderschule. „Sportler, die trainieren, wollen sich auch messen. Wenn sie
       Erfolg haben, merken sie: Training bringt was.“ Wenn sie dann nach Hause
       kämen, bekämen sie Anerkennung, seien stolz auf ihre Leistungen. Ein großer
       Schritt auch für die Angehörigen: Wenn das Kind mit Handicap zum ersten Mal
       alleine wegfährt und mit einer Erfolgsgeschichten zurückkehrt, dann merken
       viele Eltern: Der kann das. Dann lernen auch sie selbst vielleicht, dem
       Kind mehr Selbstständigkeit zuzutrauen.
       
       Seit 25 Jahren gibt es die Special Olympics Deutschland, in 170 Ländern
       existieren vergleichbare Organisationen, offiziell anerkannt vom
       Internationalen Olympischen Komitee. Schirmherrin in Deutschland ist
       Daniela Schadt, Lebensgefährtin von Bundespräsident Joachim Gauck. „Special
       Olympics Hannover 2016 hat viele Menschen angezogen und begeistert“, sagte
       ein beeindruckter Oberbürgermsiter Stefan Schostok bei der
       Abschlussveranstaltung. Er sprach von einem „erfolgreichen Praxistest“ für
       die Landeshauptstadt, „sowohl als Sportstadt als auch auf dem Weg zur
       inklusiven Stadt“. Alles in allem hat die Veranstaltung rund 14.000 Gäste
       nach Hannover gelockt. Etwa 25.000 Zuschauer kamen an die Austragungsorte,
       um die Athleten anzufeuern.
       
       Mit dem Anfeuern kennt sich Agnes Wessalowski aus: Sie ist
       Dauerkartenbesitzerin beim HSV, fährt zu jedem Heimspiel, zusammen mit
       anderen Sportlern aus ihrem Verein, dem SV Nettelnburg-Allermöhe, mit
       Björn, ihrem Trainer – „und mein Papa kommt manchmal auch mit“. Und sollte
       der HSV mal absteigen, „dann gibt es eine Katastrophe“.
       
       13 Jun 2016
       
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