# taz.de -- Glamouröses Neukölln
       
       > Blick von außenAn einem Abend mal Cher, Freddie Mercury und Michael
       > Jackson auf einer Bühne erleben? Doch, das geht. Unsere dänische
       > Gastautorin Henriette Harris hat sich dafür auf den Weg ins Estrel
       > gemacht
       
 (IMG) Bild: Schmuck mit fremden Federn: die Fast-so-wie-Cher-Cher im Estrel Festival Center
       
       von Henriette Harris
       
       Schon zu Hause versuche ich Stimmung zu machen. Ich lege eine CD ein mit
       dänischen Sängern, die Lieder von Elvis singen. Die elfjährige Rebekka
       verschwindet sofort mit einer Freundin in ihrem Zimmer. Die vierzehnjährige
       Franca, die mich an diesem Abend begleiten soll, trägt Lippenstift auf und
       verdreht die Augen.
       
       Am Bahnhof Schönhauser Allee geht es weiter mit den Coverversionen. Hier
       steht ein Typ mit Strickmütze und spielt Gitarre. Franca erkennt das Lied
       nach zwei Takten. „Das ist Passenger, ‚I See Fire‘“, sagt sie nur und
       findet das Original auf ihrem Handy. In der S-Bahn hören wir die Nummer,
       mit je einem Kopfhörer. Bis wir an der Sonnenallee aussteigen, spielt sie
       mir weitere Lieblingslieder vor.
       
       Wir gehen ins Estrel Festival Center, wo ich noch nie war. Das Estrel ist
       eigentlich ein Hotel, und im Festival Center läuft seit 1997 eine Show mit
       Doppelgängern von Stars. Von Mittwoch bis Sonntag. Jede Woche. Vier
       Millionen Menschen haben bereits „Stars in Concert“ (wie die Show heißt)
       gesehen. Sagt man im Estrel. So viele, wie Michael Jackson bei dessen
       letzter Welttournee 1996/97 in 82 Konzerten erlebt haben.
       
       Ein paar Dänen rufen nach dem Kellner. Etwas zu laut. Franca schaut sich um
       im tatsächlich vollbesetzten Saal und sieht zum ersten Mal vergnügt aus.
       „Wie bei den Golden Globes! Da sitzt man auch an runden Tischen“, sagt sie.
       Sie ist ein Filmfreak und weiß zum Beispiel genau, wann Meryl Streep ihre
       Oscars bekommen hat und wie viele Takes man brauchte, bevor die letzte
       Szene von „Air Force One“ im Kasten war. Ich bestelle eine Cola für sie und
       den Cocktail „Jailhouse Rock“ für mich. Der Abend fing ja mit Elvis so
       schön an. Finde ich.
       
       ## Synchrone Bewegung
       
       Cher kommt auf die Bühne und gibt „The Shoop Shoop Song (It’s in His
       Kiss)“. Ein Lied, das ursprünglich aus dem Jahr 1963 stammt. Das kann
       Franca nie gefallen, denke ich und erzähle ihr sofort, dass Cher eine
       Sängerin ist, aber auch einen Oscar gewonnen hat. Für die Hauptrolle in dem
       Film „Mondsüchtig“. Das gefällt Franca, die zugesteht, dass die Tänzerinnen
       toll sind und dass unsere Cher eine gute dunkle Stimme hat.
       
       Als sie „Believe“ singt, sieht man an der Wand die andere Cher bei
       Konzertauftritten. Unsere Cher trägt das gleiche weiße Kostüm mit Fransen
       und bewegt sich synchron mit der Frau hinter ihr. Das männliche Publikum
       ist mit dem Gay-Publikum bei Cher-Konzerten weniger synchronisiert. Im
       Estrel tragen die Männer bunt karierte Hemden mit kurzen Ärmeln und waren
       schon lange nicht mehr in der Sonne. Unsere Cher bedankt sich und sagt, wir
       seien „fantastic“ gewesen.
       
       Ich warte immer noch auf meinen Cocktail, als ein paar Tänzerinnen mit
       Staubsaugern die Bühne betreten. An der Wand sehen wir Freddie Mercury mit
       nacktem Oberkörper. „Ich hoffe nicht, dass der Sänger jetzt auch oben ohne
       ist“, sagt Franca. Die jungen Leute sind so puritanisch eingestellt. Ist
       unserer Freddie aber nicht. Nicht oben ohne. Er trägt ein Unterhemd mit
       Marilyn Monroe drauf, sein Schnurrbart lässt einiges zu wünschen übrig und
       seine Zähne stehen auch nicht genug nach vorne. Er singt „I Want to Break
       Free“. Seine Stimme ist eigentlich okay, aber wer kann wie Freddie Mercury
       singen? Die höheren Töne in „We Are the Champions“ erreicht er nicht immer.
       Um ihm zu helfen, hebt das Publikum die Arme. Die, die dazu noch imstande
       sind.
       
       Mein Cocktail taucht auf. Wie auch Michael Jackson. „Wow! Er ist cool!“,
       sagt Franca. Unser Michael Jackson ähnelt dem anderen so, dass es fast
       unheimlich ist. Hat er sich etwa operieren lassen?
       
       Er singt gut und tanzt noch besser. Zu „Billie Jean“ macht er einen
       ziemlich schlauen Moonwalk, und ich erzähle meiner Tochter, dass wir in der
       vierten Klasse an Geburtstagen zu diesem Lied zu tanzen anfingen. So was zu
       wissen findet sie peinlich, aber dann kommt die Pause. „Es ist nicht so
       schlimm, wie ich dachte“, sagt sie und erzählt, dass das beliebteste
       Mädchen ihrer Klasse gesagt hat, dass sie auf einem Konzert mit Michael
       Jackson war. Franca guckt sich den eigenen Instagram-Account an, und ich
       schaue ins Internet, weil ich nicht mag, wenn Leute meinen Kindern
       „Geschichten an die Ärmel binden“. So sagt man auf Dänisch, wenn jemand
       nicht ganz die Wahrheit sagt. Und sage Franca, dass, wenn das coole Mädchen
       nicht bereits als Vierjährige beim World Music Awards in London war, es
       unmöglich sei, dass sie je auf einem Michael-Jackson-Konzert war. Oder war
       sie im Estrel?
       
       Eine Bekannte hat mir neulich erzählt, dass sie bei einem Konzert von Sting
       eingeschlafen ist. Jetzt ist tatsächlich er an der Reihe. Wie kommt man auf
       die Idee, der Doppelgänger von Sting zu sein? Franca sagt nur, es sei gut,
       dass er Bass spielt. „Sonst wäre es noch langweiliger.“
       
       Als Bette Midler kommt, wacht sie aber auf. Die singt „Boogie Woogie Bugle
       Boy“. „Das kenne ich aus ‚Pitch Perfect 2‘“, erklärt Franca begeistert und
       findet Bette Midler richtig gut. Ist sie auch. Zu ihrem Vorteil trägt sie
       auf der Bühne keinen Badeanzug, was die andere Bette zu tun pflegte, als
       sie jünger war. Unsere Midler ist anständig in Schwarz. Franca meint, dass
       sie auch eine Karriere als sie selbst hätte haben können.
       
       Als Bette Midler „Midnight in Memphis“ singt, ist sie danach so außer Atem,
       dass sie in das Mikro stöhnt: „Ich bin zu alt für diese Scheiße!“ Als sie
       als Letztes „When a Man Loves a Woman“ gibt, kommen mir die Tränen.
       
       The Blues Brothers sind die Letzten der Show. Pädagogisch erkläre ich
       Franca, dass, was sie erlebt, eine Art Musikgeschichte ist und dass die
       Stars, die sie mag, auf den Schultern von diesen Menschen stehen. Also von
       den anderen, meine ich. „Ja, ja“, sagt sie und findet die Blues Brothers
       lustig. Der Dicke bewegt sich gut, und wer kann auf dem Stuhl sitzen
       bleiben, wenn Songs wie „Shake a Tail Feather“ und „Everybody Needs
       Somebody to Love“ gespielt werden?
       
       Das Publikum im Estrel jedenfalls nicht. Alle stehen auf und rufen „You,
       you, you!“
       
       Danach stehen die Stars im Foyer. Leider verbietet mir Franca, ein Selfie
       mit Michael Jackson zu machen. Aber wir kommen nah genug, um zu sehen,
       dass er sein Gesicht mit Klebeband verändert und sich keiner Operation
       unterworfen hat. Gut für ihn.
       
       ## Karriere machen
       
       In der Hotellobby, in der es nach Weihnachten aussieht mit Lichterketten in
       den Pflanzen, klimpert ein Pianist vor sich hin. Auf dem Weg zur S-Bahn
       sage ich, dass ich es ziemlich verrückt finde, dass es Menschen gibt, die
       eine Karriere daraus machen, anderen Menschen zu ähneln und wie die
       aufzutreten. Franca bleibt unbeeindruckt und sagt nur: „In Los Angeles gibt
       es eine Frau. Sie ähnelt Kim Kardashian und hat sich operieren lassen, dass
       sie ihr noch mehr gleicht. Sie hat auch die gleichen Klamotten gekauft,
       damit sie auf der Straße rumlaufen und Kim Kardashian ähneln kann. Aber sie
       verdient kein Geld damit, weil Kim Kardashian nichts kann. Das finde ich
       noch verrückter.“
       
       Da hat sie recht, denke ich.
       
       Die Autorin lebt als Journalistin in Berlin und schreibt für dänische
       Medien. Sie hat ein Buch über Berlin (auf Dänisch) geschrieben, aber die
       Stadt ist für sie noch längst nicht auserzählt. In ihrer Serie „Blick von
       außen“ schaut sie sich in loser Folge in Berlin um.
       
       11 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Henriette Harris
       
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