# taz.de -- Artensterben Die botanischen Gärten galten einst als die Pyramiden unserer Zeit, fast für die Ewigkeit gebaut. Doch ihre Blüte scheint vorbei: Biologen forschen lieber im Labor, Mittel werden gekürzt, und die Gärten geraten zu Salsa-Party-Kulissen. Allein, wir brauchen sie noch – nicht nur aus Tradition: Panik in der Botanik
       
       > Pflanzenarten wachsen im Botanischen Garten in Berlin, der 43 Hektar groß
       > ist. Er gehört damit zu den größten seiner Art
       
 (IMG) Bild: Das Große Tropenhaus ist das Wahrzeichen des Berliner Botanischen Gartens – und als Motiv auch für die touristische Vermarktung geeignet
       
       Aus Berlin und BonnAnjana Shrivastava und Helmut Höge
       
       Ein etwas unwahrscheinlicher deutscher Politiker mit langen Haaren geht
       langsam durch den Botanischen Garten von Padua. An einer brillantgrünen
       Fächerpalme hält Anton Hofreiter an. Chamaerops humilis, Zwergpalme, sie
       steht hier schon seit langer Zeit.
       
       Johann Wolfgang von Goethe hat bereits vor mehr als 200 Jahren vor diesem
       Baumexemplar gestanden und es bewundert. Schon damals war die Palme, im 16.
       Jahrhundert gepflanzt, eine kleine grüne Ewigkeit alt – was Goethe
       seinerzeit veranlasste, über einen in der Vorzeit gemeinsamen Ursprung
       aller Pflanzenarten zu spekulieren: die Urpflanze.
       
       Hofreiter, der Fraktionsvorsitzende der Grünen auf Italienreise, ist
       Botaniker. Irgendwie kann man ihn sich gut vorstellen an diesem Ort, von
       dem er erzählt, im 1545 gegründeten Botanischen Garten der Universität
       Padua, Europas ältestem seiner Art. Als Tropenbotaniker schleppte sich
       Hofreiter einst mit gebrochenem Wadenbein durch den peruanischen Regenwald;
       er promovierte über die Systematik von Inka-Liliengewächsen. Ihn umweht
       ein Hauch Humboldt-Romantik.
       
       Doch Hofreiter, anders als Alexander von Humboldts Zeitgenosse Goethe,
       sinniert beim Anblick von Chamaerops humilis, der Zwergpalme, nicht über
       den Ursprung und die Ewigkeit, sondern über die unmittelbare Zukunft: Wird
       es in 20 oder 30 Jahren solche Palmen in solchen alten europäischen
       Gewächshäusern noch geben?
       
       Es ist Frühjahr 2016, und die Frage ist: Ist die Ewigkeit bald vorbei?
       
       Europas botanische Gärten sind eine gefährdete Art, was für engagierte
       Botaniker wie Hofreiter ein Anlass zur Sorge ist. Der 1952 gegründete
       Botanische Garten der Universität Saarbrücken etwa ist im April dieses
       Jahres geschlossen worden – wegen plündernder Pflanzendiebe sogar noch
       einen Monat früher als geplant. Seitdem ist das Saarland das erste
       Bundesland ohne einen botanischen Garten für die Bevölkerung.
       
       Der Garten in Saarbrücken – einer von knapp 75 deutschen Gärten im Verband
       Botanischer Gärten – ist vergleichbar der ersten ausgestorbenen Froschart
       im heutigen Regenwald geworden: ein unheimliches erstes Zeichen einer viel
       radikaleren Krise, eines Artensterbens.
       
       Längst fragen sich andere Gartendirektoren, sogar Direktoren größerer und
       besser finanzierter Einrichtungen wie Hamburgs Botanischer Garten mit
       seinen zwei Standorten, welche Einrichtung als Nächstes schließe. Unter
       Botanikern wird diskutiert, dass der Saarbrückener nicht der letzte
       Gartentod gewesen sein wird. In Berlin zum Beispiel möchte sich die
       Humboldt-Universität von ihrem Treptower Arboretum trennen, dem
       Gehölzgarten. In den gartenvernarrten Niederlanden wurden in den
       vergangenen Jahren mehrere Gärten aufgegeben. Anderswo, von Großbritannien
       bis Tschechien, werden sie zunehmend vernachlässigt.
       
       Nur die Biophilia, die natürliche Liebe des Menschen zu anderen Spezies,
       die der Biologe E. O. Wilson beschrieb, hat bisher die meisten deutschen
       botanischen Gärten immer noch am Leben gehalten, wenn sie gefährdet waren.
       Drohende Schließungen rufen stets wütende Bürgerproteste hervor. In Berlin,
       Hamburg und Köln haben Proteste in den letzten Jahren mittelfristig
       Abschaffungspläne vereiteln können. Nur der Protest von tausenden
       Saarbrückern hat diesmal nicht ausgereicht.
       
       Gestresste Städter suchen solche grünen Oasen, wo Kinder zwischen
       Blumenbeeten das Laufen lernen und Alte unter mächtigen Bäumen auf Bänken
       sitzen, ohne Lärm und Unterhaltungsprogramm. Ein botanischer Garten ist für
       den Städter wie die Natur selbst: etwas, das da ist und immer da war.
       
       Also warum sind die Gärten bedroht, wenn doch eigentlich niemand gegen sie
       ist?
       
       Die Universität Saarbrücken begründete den Abwicklungsbeschluss ihres
       Botanischen Gartens damit, dass er für Forschung und Lehre nicht mehr
       gebraucht werde; mit seinem Jahresetat von 500.000 Euro könnten drei
       Professorenstellen finanziert werden.
       
       „Das Problem der Gärten ist das knappe Budget der Länder und Städte. Und
       dazu die wissenschaftliche Abkehr von der ‚organismischen Biologie‘ zur
       profitablen Molekularbiologie“, sagt Anton Hofreiter in seinem Berliner
       Büro.
       
       ## Der Unterschied zwischen Hafer und Gerste
       
       Die Abkehr, die Hofreiter meint, ist eine Abkehr vom Feld und eine
       Hinwendung zum Labor. Die organismische Biologie beschäftigt sich mit der
       Vielfalt und den Beziehungen der Organismen untereinander sowie unter
       Umständen mit ihrer Gefährdung durch den Menschen. Wissenschaftler haben
       heute ein zunehmend peripheres Interesse an lebenden Pflanzen, weil sie
       diese mehr und mehr auf genetischer und molekularer Ebene untersuchen.
       
       Es gehört zur Bestimmung der botanischen Gärten, die Studenten der
       Naturwissenschaften mit lebenden Pflanzen vertraut zu machen.
       Gartendirektoren beklagen, dass viele Studenten nicht einmal mehr den
       Unterschied zwischen Gerste und Hafer kennen würden. In der organismischen
       Biologie kann man einen solchen Wissensmangel aufwiegen, doch bald
       experimentieren die Laborbiologen in Gewächshäusern mit bloß noch einer
       Art, und das über Jahrzehnte. „In Deutschland ist diese Wende sogar
       radikaler vollzogen worden als selbst in den USA“, sagt Hofreiter.
       
       Die Entwicklung ist nicht neu. Schon in den Sechzigerjahren beklagte der
       brillante ukrainisch-US-amerikanische Biologe Theodosius Dobzhansky, obwohl
       selbst Genetiker, dass seine Kollegen in der organismischen Biologie
       inzwischen als „Schmetterlingsammler und Vogelbeobachter“ abgetan würden.
       Der französische Genetiker und Nobelpreisträger François Jacob sagte es so:
       „Es geht nicht mehr um ‚das Leben‘, heute interessiert sich die Biologie
       für die Algorithmen des Lebendigen.“
       
       Hinzu kommt heute, dass die botanischen Gärten nun, in Zeiten der ewigen
       Mittelverknappung, wie Dinosaurier wahrgenommen werden, als Verschlinger
       üppiger Ressourcen. Zahlreiche Gärtnerstellen sind in den Gärten unbesetzt.
       Haushaltskürzungen werden von den Trägern, den Universitäten, direkt an sie
       weitergegeben. Die neoliberale Lösung zielt auf Verschlankung,
       Verdienstleistung und Selbstausbeutung.
       
       Anton Hofreiter allerdings glaubt, dass die Gärten noch gebraucht werden –
       und nicht nur um des bloßen Erhalts eines Kulturguts willen. Er verlangt
       eine radikale Neuerfindung: „Ein botanischer Garten muss eine Arche Noah
       für den Erhalt der Artenvielfalt sein.“ Wir kommen darauf zurück.
       
       ***
       
       Der Berliner Botanische Garten der Freien Universität in Dahlem, eine
       ehrwürdige Institution mit derzeit noch 22.000 Pflanzenarten, hat das
       Potenzial zur Arche Noah. Er siedelt seltene Pflanzen aus aller Welt an,
       vermehrt sie und siedelt sie zum Teil wieder aus.
       
       Da ist die Welwitschia mirabilis, die nur in Namibia wächst. Da ist ein 160
       Jahre alter Palmfarn. Da ist ein 25 Meter hoher Bambus. Da sind die
       feuchtigkeitsliebenden Pflanzen der nordamerikanischen Atlantikküste. Da
       sind alte Eichen, ein Prachtexemplar neben dem anderen. Da ist das üppige
       Viktoriagewächshaus mit seiner berühmten brasilianischen Riesenseerose,
       einst der Stolz des kaiserzeitlichen Berlins.
       
       Über dem Eingang des Gartens an der Königin-Luise-Straße steht ein Satz von
       Goethe: „Habt Ehrfurcht vor den Pflanzen, denn alles lebt durch sie.“
       
       Man kann hier allerdings auch beobachten, wie eine Neuerfindung des
       botanischen Gartens der vergangenen Jahre tatsächlich aussieht: weniger
       nach Arche Noah als nach Veranstaltungskulisse.
       
       Besucht man eine der sogenannten Tropischen Nächte im Berliner Palmenhaus,
       sieht man wenig von der von Goethe angemahnten Ehrfurcht – zwischen den
       Cocktailbars, die alle paar Meter zwischen Pflanzen stehen, ist auch kaum
       Platz dafür. Die Besucher trinken Caipirinhas und trippeln im Lauf des
       Abends immer schwankender durch die schmalen Pfade zwischen Gewächsen wie
       der Seychellen-Palme.
       
       Die Palme ist so schön, dass sie auf praktisch keiner Marketingbroschüre
       für die Tropischen Nächte fehlt. Sie ist aber nicht nur schön, sondern auch
       fast ausgestorben, weil ihr Habitus auf den Seychellen, den Inseln im
       Indischen Ozean, schwindet. Und weil jeder ihrer Samen – es sind die
       größten der Pflanzenwelt – ungefähr so schwer wie ein Kleinkind ist; und
       damit zu schwer, um von den Seychellen mittels Wind und Wasser woanders
       hingetrieben zu werden.
       
       Die Besucher, die nicht recht wahrzunehmen scheinen, dass sich in ihrer
       Mitte ein Wunder befindet, wippen zu Salsa-Musik, die von leicht
       bekleideten Sängerinnen geboten wird.
       
       Früher, bei den „Sonnenaufgängen im Regenwald“, die der Botanische Garten
       organisierte, standen noch die Pflanzen im Mittelpunkt, Kulisse war nur die
       Soundcollage. Heute, bei den „Tropischen Nächten“, ist es umgekehrt: Die
       seltenen Bäume fungieren als grüne Tapete.
       
       Die Veranstaltung ist ein Sinnbild für den neuen Umgang mit den Gärten, den
       wissenschaftlichen wie den politischen.
       
       Ein Fachgärtner im Berliner Botanischen Garten, der nicht namentlich
       genannt werden will, weil er ohnehin Angst um seinen Job hat, kritisiert,
       die Wissenschaftler würden sich gar nicht für die Pflanze interessieren,
       sie wollten nur kurz in sie hineingucken.
       
       Und mit dem sinkenden Stellenwert der Gärten in den Wissenschaften steigt
       der Sachzwang, sie anders zu verwerten. Für die tanzenden Abendtouristen
       wie für nichtorganismisch orientierte Biologen wird die lebende Natur zum
       Beiwerk für distinktiven Lifestyle und wissenschaftliche Ideologien.
       
       Thomas Borowka ist der Leiter der Gewächshäuser. Er wird zusammen mit den
       Palmen und dem Palmenhaus als Gesamtpaket für die „Tropische Nacht“ an die
       veranstaltende Firma mitvermietet. Er zeigt den angeheiterten Besuchern bei
       der Salsa-Nacht Fotos von Monokulturen wie Soja, die den südamerikanischen
       Regenwald quadratkilometerweise veröden lassen. Das ist nicht das
       Lateinamerika von Salsa und Bacardi-Rum.
       
       Borowka, so könnte man es frei interpretieren, zeigt mit den Bildern der
       Verödung des Regenwalds auch die drohende Verödung der botanischen Gärten.
       
       ***
       
       Die hochspezialisierten Gärtner der botanischen Gärten sind die Steinmetze
       unserer Zeit. Sie reisen durch Europa, um Wasserpflanzen in Breslau
       kennenzulernen oder Kakteen in Amsterdam, so wie einst die Steinmetze alle
       gotischen Kirchen auf der Suche nach neuen handwerklichen Fähigkeiten
       aufsuchten. Wie lange aber wird es in der Atmosphäre des Sparzwangs und der
       Degradierung der Gärtner zu Dienstleistern diese Bildungsreisen noch geben?
       
       Bereits 2003 entging der Berliner Botanische Garten nur knapp der
       Schließung. Seine Lage ist seitdem prekär. 2007 wurde eine
       Betriebsgesellschaft gegründet, die nicht nach Tarif bezahlt, ein
       100-prozentiges Tochterunternehmen der Freien Universität – ein Stiefkind.
       Nun wird gespart; es wird in Gebäude investiert, aber Stellen bleiben
       unbesetzt, Blumenbeete lässt man verwildern, und es wird über zündende
       neoliberale Lösungen nachgedacht.
       
       „Die drastischen Kürzungen der Landesmittel werden seit Jahren seitens der
       Freien Universität ohne Rücksicht auf Verluste an den Botanischen Garten
       weitergegeben“, kritisieren Gruppen wie „Work Watch“, eine Initiative, die
       mit der Gewerkschaft Verdi eng zusammenarbeitet; Günter Wallraff ist ihr
       bekanntester Aktivist. „18 offene Stellen sorgen dafür, dass den
       Gärtnerinnen und Gärtner die Arbeit buchstäblich über den Kopf wächst.“
       
       ## Professoren sitzen auf KW-Stellen – „kann weg“
       
       Bei jeder Veranstaltung der „Tropischen Nächte“ gibt es eine Schar linker
       Schüler und Studenten, Vertreter der „Revolutionär-kommunistischen Jugend“,
       die gegen den Arbeitgeber Freie Universität agitieren, wegen der schlechten
       Behandlung einfacher Arbeitnehmer wie Putzfrauen und Wachpersonal, wegen
       Lohndumpings und Tarifflucht.
       
       Im neu gewählten Studierendenparlament der FU setzten sie als Erstes eine
       Solidaritätsadresse an die Angestellten des Botanischen Gartens durch. Bei
       den nächtlichen Events versuchen sie, die Palmenhausbesucher zu agitieren,
       bevor die im Rausch des Abends womöglich nicht mehr aufnahmefähig sind.
       
       Die Spartendenz zieht sich durch zahlreiche Institutionen in mehreren
       Städten.
       
       Nicht nur Putzfrauen, Wachpersonal und Techniker sind bedroht, auch die
       organismische Biologie, die sich mit den Beziehungen der Lebewesen
       zueinander beschäftigt, wird eingedampft. Ihre Vertreter sitzen oft auf
       einer KW-Stelle – KW heißt: „kann weg“, sobald ein Stelleninhaber
       ausscheidet.
       
       An der Universität Potsdam zum Beispiel fiel der ganze feldbiologische
       Bereich mit der Emeritierung des Zoologen Hans-Dieter Wallschläger weg.
       
       Was den Botanischen Garten in Berlin-Dahlem betrifft, ihm steht ein derzeit
       mit 14 Millionen Euro veranschlagtes Bauprogramm bevor. Es soll angeblich
       den Garten für Touristen besser vermarktbar machen. In einem Exposé, das
       der taz vorliegt, wird die angeblich unterbewertete Anlage als
       „Dornröschen“ bezeichnet, welches „wir gerne wecken würden“: mit neuen
       Gebäuden, einer Multimediainstallation, Smart-Technologien wie einem
       3-D-Leitsystem und einem elektronischen Kassen- und Zutrittssystem für
       Besucher. Investitionen in die Gartenarbeit aber sind nicht vorgesehen.
       
       Manche Gärtner in Berlin gehen davon aus, dass der Botanische Garten mit
       seinen 22.000 Arten irgendwann nur noch einer mit 16.000 Arten sein und
       sich langsam zu einer Art Freizeitpark entwickeln wird.
       
       In anderen, sogar in reicheren Städten, gibt es vergleichbare
       Entwicklungen.
       
       In Hamburg verhinderte ein Bürgerprotest zwar die Schließung des Gartens.
       Beschnitten wurde er trotzdem. Als er 2012 in Loki-Schmidt-Garten umbenannt
       wurde, gab der Referent des Naturschutzbunds für Umweltpolitik, Malte
       Siegert, der taz ein Interview. Die Artenvielfalt „wird im Botanischen
       Garten aus Finanznot seit Jahren stetig reduziert“, sagte er: die
       Naturschutzabteilung des Gartens, in der im Freiland geschützte Arten
       gezeigt wurden – geschlossen. Die sogenannte Kleine Salzwiese –
       zugeschüttet. Der Heidegarten – eingestellt. „Wir befürchten, dass das
       nicht alles ist“, sagte Siegert. „Wenn die Einsparungen weitergehen, wird
       der Botanische Garten irgendwann ein Park mit viel Rasen, aber wenig
       Pflanzenvielfalt – einfach weil dessen Pflege weniger personalintensiv und
       somit kostengünstiger ist.“
       
       An vielen Orten also ganz ähnliche Tendenzen: ein Umbau zulasten des
       Wesentlichen seit den Anfängen der botanischen Gärten in Padua – der
       intensiven Beschäftigung mit lebendigen Pflanzen.
       
       Die Reduktion der Artenvielfalt im botanischen Garten der Gegenwart wirkt
       deshalb so absurd, weil sie so leicht vermeidbar wäre – wenn man sie
       vermeiden wollte. Etwa durch die Kommunalisierung der Gärten und eine
       Bürgerschaft, die bereit wäre, für das Wesentliche Opfer zu bringen.
       
       ***
       
       Alfred Döblin, der Berliner Schriftsteller und Nervenarzt, schrieb im
       Inflationsjahr 1923 als Theaterkritiker von der tiefen Ruhe und
       Zufriedenheit, die er im Berliner Botanischen Garten empfinden konnte –
       mitten in den Katastrophen von Weimar. Ginge Deutschland vor die Hunde,
       blieben die Pflanzen des Gartens für ihn wie ein Labsal, schrieb er.
       
       Döblin sah in dem Garten nicht weniger als ein Weltwunder, das die Weimarer
       Krisen überdauern würde. Gebaut von Generationen von Gärtnern, von
       Entdeckern wie Alexander von Humboldt, der die südamerikanische Sammlung
       begründet hat, von Botanikern wie Adelbert von Chamisso, der als Kustos des
       Gartens erstaunliche Beobachtungen an den Korallenriffen der Südsee machte.
       Döblin sah das Ensemble der Pflanzen auf einer Stufe mit den Pyramiden, mit
       unendlicher Mühe für die Ewigkeit gebaut.
       
       Als in Europa die gotischen Kathedralen errichtet wurden, wurden die
       mittelalterlichen Städte und Gesellschaften bis an den Rand ihrer
       technischen, politischen und finanziellen Möglichkeiten gebracht. So
       kostspielig die botanischen Gärten in Berlin oder Hamburg auch sein mögen –
       wer würde behaupten, dass sie nicht zu erhalten wären?
       
       Es geht dabei, wenn man Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter folgt, nicht
       nur um den Erhalt eines Kulturguts, es geht um die Zukunft. Einen
       zwingenden Grund, an den botanischen Gärten festzuhalten, sieht er darin,
       dass sie helfen können, Erkenntnisse über das sogenannte Artensterben zu
       gewinnen.
       
       „Die Reduzierung der ‚organismischen Biologie‘ ist deswegen zu bedauern,
       weil vor allem das derzeitige Artensterben noch völlig ungenügend erforscht
       ist“, sagt er. Es ist eine Biologie, die übergreifende Zusammenhänge
       erforscht und auch den Einfluss des Menschen einbezieht. „Inzwischen sind
       über 30 Prozent der Arten gefährdet, sie stehen auf der ‚Roten Liste‘, man
       spricht bereits vom ‚Sechsten Massensterben‘.“ Alle fünf Massensterben von
       Arten davor waren Naturerscheinungen – der Asteroid, der die Dinosaurier
       aus der Evolution ausradierte, zum Beispiel. Doch jetzt, sagt Hofreiter,
       führten menschliche Einflüsse dazu, dass immer mehr Arten akut bedroht
       seien.
       
       Südamerikanische Frösche sterben massenhaft in den Regenwäldern wegen eines
       importierten heimtückischen Pilzes namens Chytrid.
       
       Korallenriffe, jene Oasen des Lebens im Ozean, sterben nach Millionen von
       Jahren Wachstum an der Erwärmung und Übersäuerung des Meeres.
       
       „Ohne die organismische Biologie wird die Menschheit nicht einmal eine
       Diagnose der Situation in der Hand haben. Zur Biologie gehört das
       Kennenlernen der Vielfalt.“ Und die, sagt er, würde in den botanischen
       Gärten gezeigt, und die Studierenden würden darin geschult.
       
       ***
       
       Maximilian Weigend läuft durch die Pflanzengeografie seines botanischen
       Gartens. Er ist einer von Hofreiters Studienfreunden aus der Universität
       Regensburg. Heute ist er Direktor der Botanischen Gärten in Bonn.
       
       Er geht von den Sumpfbäumen aus den Südstaaten bis zu den südostasiatischen
       Bäumen mit riesigen lila Blüten.
       
       „Ein botanischer Garten ist kein Rummelplatz“, sagt der energische Bayer
       Weigend. Die Events, die in vielen Gärten stattfinden, betrachtet er als
       Verlustgeschäfte, weil sie so viel Kapital und Fachkräfte unentgeltlich
       binden und weil sie seiner Meinung nach eher Verschleiß als Gewinn für den
       Garten bringen.
       
       Aber was dann? Maximilian Weigend sagt, die Zukunft der Gärten sei in
       diesem Zeitalter des Artensterbens so wichtig, dass man sich ernsthaft
       Gedanken über alternative Finanzierungen machen sollte. Die Bonner
       Botanischen Gärten sehe er bei der Universität der Stadt gut aufgehoben,
       sagt er. Dennoch, man müsse nachdenken darüber, ob es andere, geeignetere
       Träger gibt als die Universität, die sich zur Industrie und nach
       Drittmitteln streckt.
       
       Als Präsident des Verbands Botanischer Gärten befürwortet er die gänzliche
       oder teilweise Kommunalisierung der Gärten. Auch Stiftungen als Träger kann
       er sich vorstellen. Nur nichts tun – das gehe nicht, sagt er mit Blick auf
       die Schließung des Saarbrücker Gartens im April.
       
       In Saarbrücken habe es schon vor vielen Jahren die ersten Warnzeichen
       gegeben. „Viele Pflanzen wandern aus ihrem angestammten Gebiet, wenn das
       Klima sich wandelt.“ So wie sich die Pflanzen dann eine neue Nische suchen,
       so müssten auch die Gärten aufbrechen. Eine Hauptaufgabe in den nächsten
       Jahren werde etwa die ökologische Bildung sein.
       
       Weigend gehört, wie Hofreiter, einer jungen Generation von Botanikern an,
       die als Entdecker unerforschter Gebiete zu verstehen sind. Entdecker, das
       sind heute nicht mehr Leute auf der Suche nach der Nilquelle. Sondern auf
       der Suche nach den evolutionären Folgen des menschlichen Einflusses in der
       Welt; nach den Auswirkungen des Anthropozäns. Sie erforschen etwa die sich
       entwickelnde Mobilität von Pflanzen, die sich ein neues Klima suchen
       müssen; die Biodiversität. Botaniker sind heute so unentbehrlich für die
       Klimawissenschaftler wie einst Anatomiker für die Ärzte der Renaissance.
       
       Anton Hofreiter sagt: „Wir brauchen eine Offensive für die
       Diversitätsforschung und dazu Lobbyarbeit. Dafür müssen neben den Gärtnern
       und den interessierten Bürgern auch die Wissenschaftler gewonnen werden.
       Die vorhandenen Gelder dürfen nicht nur für die Genetik und die
       Molekularbiologie verwendet werden.“
       
       ## Die Ekstase des Ablaichens und der Horror
       
       Maximilian Weigend schimpft, während er durch den Botanischen Garten läuft,
       zwischendurch auf die Hörigkeit gegenüber „Big Data“ bei der Vermessung der
       Welt des Klimawandels. Big-Data-Apologeten „denken, dass grottenschlechte
       Daten über Pflanzen aussagekräftig werden, wenn man sie nur massenweise
       erhebt“.
       
       Das sei aber nicht so, sagt er, und da sind wir wieder bei den Anfängen der
       botanischen Gärten, in Padua, im 16. Jahrhundert. Bei der intensiven
       Beschäftigung mit dem Leben. Und bei der Sorge, dass diese kleine Ewigkeit
       enden könnte.
       
       Wer einmal eine tropische Nacht auf einem Korallenriff erlebt hat, in der
       Zeit des Massenablaichens, das in nur einer orgiastischen Nacht des Jahres,
       zu Beginn des Sommers, stattfindet, der hat die Ekstase und den Horror
       gleichzeitig erlebt: die Ekstase über ein natürliches und immer
       wiederkehrendes Wunder, wenn rosafarbene Eier plötzlich millionenfach durch
       das Wasser nach oben pulsieren. Und den Horror über den drohenden Verlust
       dieser Unterwasser-Oasen, die Millionen Organismen im kargen tropischen
       Gewässer am Leben erhalten.
       
       Wie die Korallenriffe spielen die botanischen Gärten eine helfende und
       revitalisierende Rolle, jetzt, da unsere Welt an Arten immer ärmer wird.
       
       Es sind beide Wunder vom Zerfall bedroht.
       
       Anjana Shrivastava wurde in Großbritannien geboren, wo sie die botanischen
       Gärten des Königreichs kennenlernte. Dann zog sie in die USA, wo die
       Wildnis im Mittelpunkt steht, und studierte Europäische Geschichte in
       Harvard.
       
       Helmut Höge wurde 1947 in Bremen geboren, studierte Sozialwissenschaften in
       Berlin und Bremen, arbeitete danach als landwirtschaftlicher Betriebshelfer
       und ist seit 1970 journalistisch tätig
       
       28 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anjana Shrivastava
 (DIR) Helmut Höge
       
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