# taz.de -- Die Wahrheit: Überzeugungsarbeit überm Abgrund
       
       > Wenn auf den eigenen Vormund schon kein Verlass ist: Wie soll es dann nur
       > im Leben weitergehen und ganz besonders mit der Berufswahl?
       
       Der Vormund ließ sich nicht davon beeindrucken, dass Frank eine „Vision“
       von dem hatte, was er werden wollte, sondern verordnete ihm kurzerhand die
       Ausbildung zum Ingenieur. „Zieh dich an, wir gehen aus“, befahl der
       Vormund. Unterwegs wurde kein Wort gesprochen. Der Vormund stürmte mit
       entschlossener Miene voran, Frank hielt widerwillig Schritt, ohne zu
       wissen, wohin sie gingen.
       
       Erst in den Straßenschluchten eines entfernten Stadtviertels machte der
       Vormund halt. Sie betraten den übelriechenden Hausflur einer
       Gründerzeit-Mietskaserne und stiegen unzählige Stufen hinauf, bis es nicht
       weiterging. Das Treppenhaus war an dieser Stelle schadhaft, der
       darüberliegende Teil des Gebäudes mit Balken und Stahlträgern abgestützt.
       
       Ohne zu zögern hängte sich der Vormund, in Hut und Mantel, wie er war, an
       eine quer verlaufende Metallstange und bewegte sich durch Weitergreifen der
       Hände seitwärts, bis er genau über dem gewiss vier Stockwerke tiefen
       Abgrund zwischen den umlaufenden Treppen baumelte.
       
       Vor den Augen seines Schützlings begann er alsdann, vor und zurück zu
       schwingen, dazu rief er laut um Hilfe. Es war früher Abend, weshalb die
       meisten Mieter zu Hause waren und nun neugierig aus ihren Wohnungen kamen.
       Der Vorgang war Frank entsetzlich peinlich. Es wurde laut geschimpft und
       gefragt, was der Unfug zu bedeuten habe.
       
       „Wie kommt ein feiner Herr wie Sie auf so etwas?“ – „Aus Kummer über mein
       Mündel, den jungen Mann hier oben auf der Treppe“, erwiderte der Vormund.
       „Wenn er wollte, könnte er mich durch ein einziges Wort retten; er allein
       trägt die Schuld, wenn ich in den Tod stürze.“
       
       Einige Männer kamen mit Seilen heraufgelaufen. Sie stießen Frank beiseite
       und bemühten sich, dem Vormund die Seile um den Leib zu schlingen. „Hangeln
       Sie sich zur Treppe zurück“, riefen sie, „wir halten Sie.“ Der Vormund war
       damit nicht einverstanden: „Danke, meine Herren, Sie sind zu freundlich.
       Ich muss Sie jedoch bitten, sich nicht einzumischen. Es liegt allein bei
       meinem Mündel …“
       
       Die Männer zogen ihn, ohne seinen Einwand zu beachten, auf die Treppe
       zurück und banden ihn los. Dann drohten sie: „Nun macht aber bloß, dass ihr
       wegkommt! Und wagt ja nicht, hier noch mal so was aufzuführen!“ Vormund und
       Mündel gingen schweigend heim. Am nächsten Tag fragte der Vormund wieder:
       „Frank, mein Junge, wirst du die Ausbildung zum Ingenieur absolvieren?“ –
       „Nein.“
       
       Umgehend wurde die Mietskaserne aufgesucht, wo der feine Herr, dem man so
       etwas gar nicht zutrauen mochte, dann wieder oben an der Stange hing und
       schrie. Diesmal erschien die Polizei, um der Vorstellung ein Ende zu
       bereiten. Da Frank trotzdem widerspenstig blieb, wurde die Übung noch
       einige Male wiederholt – ein Wunder geradezu, dass er jedes Mal wieder
       mitging. Erst nachdem die Männer ihn und den Vormund mit Stricken geknebelt
       über Nacht an der Stange über dem Treppenhausabgrund hatten hängenlassen,
       gab er nach im kläglichen Bewusstsein, Verrat an den eigenen Idealen zu
       begehen.
       
       15 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eugen Egner
       
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