# taz.de -- Zeugen Am Ende wog die Mutter nur noch 26 Kilo. Hat die Familie sie verhungern lassen? Vor Gericht fragen sich selbst Polizisten und Gutachter, wie trügerisch das Gedächtnis ist: Jedem die eigene Wahrheit 
       
       Von Alexander Krützfeldt (Text)und Anselm Hirschhäuser (Illustration)
       
       Der Polizist hatte eine ganze Weile überlegt. Auf die Frage des Richters,
       an was er sich wirklich erinnern könne, sah man: In seinen Augen begann der
       kleine Mann mit Bart und Flanellhemd, sich mit der Schaufel durch sein
       Gedächtnis zu graben.
       
       „Ich weiß es nicht“, sagt er dann. „Ich weiß nur, was ich aufgeschrieben
       habe – und darauf muss ich vertrauen. Denn die Notizen habe ich direkt am
       Tatort gemacht, und es wird also genauso gewesen sein, denke ich, aber
       hundertprozentig sicher bin ich mir nicht.“
       
       Wo er sicher ist: Gegen 22.20 Uhr klingelt das Telefon in der
       Polizeidienststelle Achim, südlich von Bremen. Die Notrufnummer, über die
       Zentrale zugestellt. Eine ältere Frauenstimme meldet sich, ihre
       Schwiegertochter sei gerade verstorben, es müsse jemand kommen und sich
       kümmern.
       
       „Als wir dort ankamen“, erzählt die 53-jährige Notärztin Hildegard
       Holland-Letz, die in ihrem Beruf schon so einiges gesehen hat, „war die
       Polizei bereits da. Vater und Tochter standen im Garten, der Vater hatte
       eine Fahne, die Tochter blickte kaum von ihrem Handy auf.“
       
       Es ist etwa viertel vor elf, als Holland-Letz den Hauseingang erreicht.
       „Die Rettungssanitäter sagten, es gebe da einen entsetzlichen Gestank, der
       die Treppe hinab in Flur zieht“, erzählt sie. „Sie sagten: Da liegt jemand.
       Oben. Auf dem Sofa.“
       
       Die Angeklagten – Vater und Tochter – meinten, man habe nicht sehen können,
       in welch kritischem Zustand sich Anke T. befand. „Das kann ich nicht
       bestätigen, dass es keine Anzeichen gab“, sagt Holland-Letz fast empört.
       „Uns war allen klar, dass wir nicht mehr reanimieren müssen, das hätte
       selbst ein Laie zweifelsfrei erkannt.“
       
       Der Polizist habe unterdessen mit einer Grillzange die Daunendecke auf der
       Leiche angehoben. „Darunter waren tausende Maden“, sagt die Ärztin.
       „Überall. Am Körper. In den offenen Wunden der Beine, sogar im Kot. Eines
       stand fest: Anders als vom Angeklagten behauptet war diese – seine – Frau
       sicher nicht morgens noch durch die Wohnung spaziert. Die Tote war nur Haut
       und Knochen und muss Wochen in diesem Zustand auf dem Sofa gelegen haben.“
       
       Sie schüttelt sich. „Das ist ganz, ganz furchtbar, da fröstelt es mich ja
       noch heute. Und ich habe wirklich vieles gesehen.“
       
       In Strafverfahren vergehen oft Monate, manchmal Jahre von der
       Erstvernehmung bei der Polizei bis hin zur Anhörung vor dem Richter. Die
       Gerichte sind ausgelastet. Laut dem Personalbedarfsberechnungssystem der
       Justiz – genannt: „Pebbsy“ – hat ein Richter im Schnitt etwa 15 Minuten
       Bearbeitungszeit pro Akte. Und die Zeugenaussagen, ihre frischen
       Erinnerungen sind wie Fleisch, das man an der Luft liegen lässt: Sie werden
       mit der Zeit ledrig, trocken und ranzig.
       
       An besonders schreckliche und eindrückliche Bilder erinnern wir uns sehr
       genau. Aber sie saugen auch alles andere auf, schon Details, die erst gar
       nicht wichtig erscheinen oder im Nebenraum spielen, sind dann wie
       ausradiert. In dem Prozess um die Frau auf dem Sofa am Verdener Landgericht
       geht es um diese Details.
       
       Stand ein Getränk neben ihr? Ja oder nein?
       
       Haben die Angehörigen sie mit Nahrung und Wasser versorgt – oder nicht und
       damit in Kauf genommen, dass sie verhungert?
       
       War ihr kritischer Zustand sichtbar, hätten sie also von sich aus einen
       Arzt rufen müssen?
       
       War es fahrlässige Tötung, Totschlag oder gar Mord?
       
       Und wer hat recht?
       
       „Wir raten immer: Machen Sie sich Notizen als Gedankenstütze“, erklärt
       Staatsanwalt Lutz Gaebel, der ein bisschen aussieht wie Sky Dumont in
       sympathisch. Links und rechts stapeln sich bunte Akten – rote, gelbe und
       graue. Sein Büro ist aufgeräumt, die Rollläden sind runtergelassen, im Flur
       lässt eine große Palme braune Blätter hängen.
       
       ## Zeugen sagen selten etwas mit Absicht falsch
       
       „Neben den Zeugenaussagen gibt es noch die harten Indizien, den
       Urkundsbeweis, die Spuren am Tatort, solche Sachen. Das sind objektive
       Beweise. Haben wir ein Verfahren ohne sie, steht Aussage gegen Aussage“,
       meint der Staatsanwalt. „Abhängig von der Aufmerksamkeit, dem
       gesundheitlichen Zustand, dem persönlichen Interesse und der verstrichenen
       Zeit sind die Schilderungen von Zeugen insgesamt sehr fehleranfällig und
       müssen daher sehr gewissenhaft gewürdigt werden.“
       
       An was er sich erinnern könne, fasst der Richter nach und blickt den Zeugen
       ein wenig streng von unten an. Der Polizist zuckt mit den Schultern,
       rutscht auf dem Stuhl hin und her und weiß nicht, wohin mit seinen Armen.
       „Was auf dem Zettel steht“, sagt er.
       
       „Haben Sie in den Kühlschrank geschaut?“, fragt der Richter. „Haben Sie
       dort etwas gefunden, was uns sagen könnte, ob die Angehörigen der Frau noch
       Essen zubereitet haben?“
       
       Der Polizist überlegt. „Nein“, sagt er dann.
       
       „Nein, Sie können sich nicht erinnern – oder nein, Sie haben nicht
       geschaut?“
       
       „Ich habe nicht geschaut.“
       
       „Sie haben nicht geschaut? Sie müssen doch am Tatort überprüft haben, was
       in der Küche war?“ Der Richter ist etwas fassungslos.
       
       „Ja.“
       
       „Ja?“
       
       „Ja, kann sein. Dass ich geschaut habe“, sagt der Polizist und fühlt sich
       nun sichtlich unwohl. „Ich weiß doch nur, was auf dem Zettel steht. Und da
       steht es nicht drauf.“
       
       „Gut“, sagt der Richter und meint vermutlich das Gegenteil: „Das hilft uns
       nicht weiter. Dann ist der Zeuge entlassen.“ Er blickt zur Protokollantin.
       
       „Dass wir Dinge vergessen oder nicht mehr genau rekonstruieren können, ist
       nur die eine Sache“, sagt Staatsanwalt Gaebel und lehnt sich zurück, denn
       jetzt kommt die Pointe: „Wir bilden uns auch Sachen ein, die in
       Wirklichkeit gar nicht passiert sind – oder die wir so nicht gesehen haben.
       Unser Gehirn ergänzt mit der Zeit plausible Puzzleteile: Das bekannteste
       Beispiel ist der Knallzeuge.“
       
       Der Knallzeuge hört den Zusammenstoß zweier Autos, sieht aber nur den
       abgeschlossenen Unfall – zwei rauchende Fahrzeuge am Straßenrand. „Nicht
       selten sagt ein solcher Zeuge später aus, er habe den Unfall kommen sehen,
       wie die Autos ineinanderkrachen“, erklärt der Staatsanwalt. Das Gehirn fügt
       Bilder hinzu, zum Beispiel aus dem Kino. „Wir denken dann, wir hätten
       tatsächlich etwas gesehen, obwohl wir es nur gehört haben.“ Gaebel blickt
       hinaus auf die Straße. „Der Zeugenbeweis ist das schwächste Glied in der
       Beweiskette.“
       
       Geraten wir unter Druck, beginnt das Gehirn fieberhaft nach der Wahrheit zu
       suchen: Was habe ich übersehen? Warum fehlt ein Stück? Habe ich nicht
       vielleicht doch in den Kühlschrank geguckt?
       
       Das sind keine Einzelfälle.
       
       Im November 2014 starb die Offenbacher Lehramtsstudentin Tuğçe Albayrak
       nach einem Sturz, dem ein Schlag ins Gesicht vorausgegangen war: Zwei
       Wochen später kam ein Überwachungsvideo in Umlauf, das die
       entscheidenden Minuten auf dem Parkplatz vor dem McDonald’s zeigte. Für die
       Zeugen war das Durcheinander perfekt. Viele hatten Schwierigkeiten zu
       unterscheiden, was sie selbst und was sie auf dem Film gesehen hatten.
       Quellenamnesie.
       
       Rechtsgeschichte haben auch die sogenannten Wormser Prozesse von 1993
       geschrieben. In insgesamt drei Verfahren waren 25 Personen aus Worms und
       Umgebung angeklagt, als Teil eines „Pornorings“ massenhaft Kinder
       missbraucht zu haben. Das Medienecho war gewaltig. Die Beweislast sei
       erdrückend, hieß es unisono. Medizinische Gutachten wurden beauftragt, die
       Kinder mit anatomisch korrekten Puppen, Märchenerzählungen und
       verhörähnlichen Techniken befragt. Die Verteidigung meinte am Ende, die
       Frauen hätten in den Befragungen auf die ahnungslosen Kinder eingewirkt,
       bis sie vom Missbrauch berichteten.
       
       Trotz empörten Widerspruchs der Staatsanwaltschaft endeten die Prozesse mit
       dem Freispruch aller Angeklagten. Sämtliche Schilderungen der Kinder waren
       durch Suggestion erzeugt worden. Der Vorsitzende Richter Hans E. Lorenz
       begann sein Urteil mit dem Satz „Den Wormser Massenmissbrauch hat es nie
       gegeben.“ Im Jahr 1999 führte der Bundesgerichtshof Mindestanforderungen
       für Glaubhaftigkeitsgutachten ein, also die Überprüfung von Zeugenaussagen.
       Für solche Gespräche werden Rechtspsychologen wie die Leipzigerin Melanie
       Ehrhardt gerufen, die Vernehmungen im Beisein der Polizei oder
       Staatsanwaltschaft oder eines Ermittlungsrichters durchführen.
       
       „Die Wormser Prozesse machten die Macht der Suggestion deutlich, Kinder
       haben eine Ja-Sage-Tendenz“, sagt Melanie Ehrhardt und stellt ihren
       schwarzen Tee auf den Tisch, unter dem ihre quietschbunten Turnschuhe
       hervorlugen. „Zum Beispiel fragt eine Mutter: Hat dich der Papa angefasst?
       Das Kind antwortet: Nein. Dann fragt sie: Hat der Papa dich wirklich nicht
       angefasst? Und das Kind sagt Ja, weil es denkt, dies ist die bessere, die
       richtige Antwort.“ Weil die Befragung von Missbrauchsopfern oder Kindern
       eine besondere Herausforderung darstellt, werden Ehrhardt und ihre Kollegen
       häufig vom Gericht oder von der Staatsanwaltschaft dazu um Hilfe gebeten.
       „Wir begutachten nicht, ob der Zeuge XY lügt“, erklärt die
       Rechtspsychologin. „Das können wir gar nicht. Wir prüfen: Ist es glaubhaft
       oder nicht, was der Zeuge uns sagt – und hat er die Dinge wirklich so
       erlebt oder gibt es einen anderen Grund für die Aussage?“
       
       ## Der kriminalistische Trick: Wohlfühlatmosphäre
       
       Zunächst vergleichen die Psychologen die Aussagen von Zeugen oder
       Geschädigten im Laufe der Verfahren – Täter vernimmt Melanie Ehrhardt in
       der Regel nicht. Dabei ist die zeitliche Reihenfolge entscheidend: Sagen
       Zeugen bei der Erstvernehmung durch die Polizei etwas, das der späteren
       Version beim Gutachter oder vor Gericht widerspricht, werden die
       Psychologen hellhörig. Sie stellen dann Fragen zum Geschehen. „Wo gingen
       sie lang, als sie den Laden verlassen haben?“ oder: „Können sie noch mal
       sagen, was gegen 14 Uhr passierte?“ Ehrhardt sagt, „selbst Zeugen, die
       traumatisiert sind, können diesen Faden meist schnell wieder aufnehmen.
       Einen Zeugen, der sich das ausdenkt, bringen solche Kleinigkeiten mitunter
       sehr in Stress.“
       
       Die Gutachter erarbeiten dabei vor ihrer Befragung Hypothesen – in der
       Regel haben sie ein bis zwei Termine mit dem Zeugen, oft mehrere, ermüdende
       Stunden. „Wir sind gesetzlich dazu verpflichtet“, erklärt Ehrhardt, „für
       unsere Hypothesen anzunehmen, dass das, was der Zeuge sagt, so nicht
       passiert ist. Wir stellen also die Frage: Warum kommt die Aussage trotzdem
       zustande?“ Dabei gebe es drei Möglichkeiten: „Der Zeuge lügt und sagt
       absichtlich etwas Falsches, um sich nicht zu belasten oder beispielsweise
       aus Rache. Es kann auch Induktion sein: Jemand hat vorher dem Zeugen
       gesagt, er solle so antworten. Oder es ist Suggestion. Dem Zeugen wurde
       etwas eingeredet, das nicht passiert ist, das er nun aber glaubt. Schwierig
       wird es dadurch, dass es auch unbewusst und unbeabsichtigt geschieht.“
       
       Das treibt mitunter seltsame Blüten: An der kanadischen University of
       British Columbia gab es dazu einen bemerkenswerten Versuch: 30 Teilnehmern,
       im Durchschnitt 20 Jahre alt, wurde erklärt, sie sollten verschüttete
       Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit ausgraben. Dazu wurden ihnen Aussagen
       vorgehalten und Bilder gezeigt. Immer weiter wurde ihnen suggeriert, es
       habe da einen strafrechtlich relevanten Vorfall in ihrer Kindheit gegeben,
       den sie verdrängt hätten. Obwohl ohne Erinnerung gaben sie unter dem Druck
       der Bilder und Vorhalte nach: Am Ende legten 21 der 30 Probanden
       Geständnisse ab.
       
       Melanie Ehrhardt blickt sich um: Ein Mädchen steht an der Hand ihrer Mutter
       plötzlich im Türrahmen. Wir hatten uns wegen der ruhigen Umgebung in das
       Spielzimmer des Cafés gesetzt. „Irgendwann“, sagt die Psychologin beim
       Rausgehen, „werden wir vieles von dem vergessen, was wir heute besprochen
       haben. Aber an eine Unterhaltung über Kindesmissbrauch im Spielzimmer eines
       Cafés werden wir uns wohl immer erinnern.“
       
       Auf dem Sofa hatte ein vertrocknetes Brötchen mit Hack gelegen. Der Vater
       hatte ein Kissen mit Hundemotiv auf das Gesicht der Toten gelegt, seine
       17-jährige Tochter sollte den Anblick nicht ertragen müssen. In der Küche:
       Teller, Messer, etwas vergammeltes Essen und acht Scheiben Käse. Neben der
       Leiche lag ein frisch angefangenes Puzzle auf dem Fußboden. Das Fenster
       stand einen Spaltbreit offen.
       
       „Die Tochter hat in der Vernehmung gesagt, dass sie ihre Mutter hasst“,
       sagt die Staatsanwältin, die auf Mord plädieren will. „Und Hass ist doch
       ein klares Wort.“
       
       „Frau Staatsanwältin“, sagt der Richter. „Jugendliche hassen heute alles
       Mögliche, die gebrauchen das Wort nicht wie Sie.“
       
       Er wendet sich dem Gerichtsmediziner zu: „Müssen die Angeklagten nicht
       zwangsläufig – neben dem Geruch – auch die Fliegen wahrgenommen haben, die
       Maden auf der Leiche?“ Der Forensiker, ein gestandener Mann der
       Gerichtsmedizin des Hamburger Uniklinikums Eppendorf, schaut vorsichtig.
       „Wenn gelüftet worden ist, kann es sein, dass keine Fliegen sichtbar waren.
       Auch die Flüssigkeit in der Harnblase, die wir gefunden haben, muss nicht
       heißen, dass sie etwas zu trinken bekommen hat. Ich gehe davon aus, dass
       die Versorgung schon eine ganze Zeit nicht mehr stattgefunden hat, selbst
       an den Organen konnten wir keine Fettschicht mehr feststellen, so dünn war
       die Leiche.“
       
       „Hätte man das also sehen müssen?“
       
       „Ich schätze schon, eine andere Erklärung habe ich nicht.“
       
       Dietmar Heubrock wäre ein guter Protagonist für einen Krimi: Mit
       Schnauzbart, V-Ausschnitt, Hemd, Krawatte, immer ein paar Schritte gehend,
       wenn er raucht. Heubrock leitet das Institut für Rechtspsychologie an der
       Uni Bremen. Er hat viel Erfahrung, wie sich Menschen erinnern. Nur ein
       Beispiel: Sei eine Waffe im Spiel, falle auf, dass Opfer wenig andere
       Details parat haben. „Sie erinnern sich dann an die Mündung, die Klinge des
       Messers und mehr fast nicht. Auch daran“, sagt der Psychologe, „erkennt
       man, ob Menschen die geschilderten Details wirklich erlebt haben.“
       
       Auch von der Stimmung sei abhängig, an was sich ein Zeuge erinnere: „Fühlen
       Sie sich wohl, dann fallen Ihnen Details leichter wieder ein“, meint
       Heubrock. „Wir haben das mit Ermittlern getestet, die waren ganz
       überrascht.“ Aus diesem Grund rät er ab, bei Befragungen Druck auszuüben.
       Stress blockiert nur.
       
       „Es ist nicht gut“, sagt Heubrock, wenn Beamte in Vernehmungszimmern „fast
       teilnahmslos hinter ihrem Rechner sitzen und mitschreiben. Eine gute
       Vernehmung beginnt mit einem offenen Teil, in dem der Befragte einfach
       erzählt und Vertrauen aufgebaut wird. Dann arbeitet man sich trichterförmig
       zu den Details vor.“
       
       Nach dieser Methode arbeitet auch Kriminalhauptkommissar Mario
       Kurzendörfer, Vernehmungsexperte bei der Leipziger Polizei. In keinem Fall
       Druck aufzubauen, das hält er allerdings für falsch. Ihm geht es nicht um
       Zeugen oder Ersttäter. „Gewerbsmäßige Schwerkriminelle, die reden fast gar
       nicht mit uns – da müssen wir mit kriminalistischer List arbeiten.“
       
       Eine davon: Zwei verschiedene Stühle. Für den Zeugen einen bequemen, für
       den Beschuldigten einen unbequemeren aus Holz oder Stühle ohne Armlehnen,
       damit die Hände frei sind und man sehen kann, was die Person damit macht.
       „Bei renitenten Straftätern, zum Beispiel Wiederholungstäter sind, müssen
       wir oft autoritärer auftreten“, so Kurzendörfer. Sportsakko. Modische
       Frisur. Den Blick eines Röntgengeräts. „Der Rest ist auch Erfahrung.
       Vernehmungen mit Gutachtern sind die Ausnahme.“
       
       Prozesspause. Die Presse erwartet das Urteil – vermutlich eine mehrjährige
       Freiheitsstrafe für Vater und Tochter. Totschlag durch Unterlassen.
       
       Ein Mann aus der Zuschauerbank wackelt auf uns zu. Er hebt den Zeigefinger.
       Die Presse solle auch mal nicht nur Lügen berichten – sondern die ganze
       Geschichte. „Das sind gute Menschen.“ Böse, sagt er, sei nur die Frau
       gewesen – sie habe sich schließlich nie gekümmert, nur gesoffen und es auch
       ein bisschen verdient. Dann wackelt er davon, eine alte Alkoholfahne hinter
       sich herziehend wie einen schweren Vorhang. Jeder hat auch seine eigene
       Wahrheit.
       
       Alexander Krützfeldt, 30, ist freier Gerichtsreporter
       
       26 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Alexander Krützfeldt
       
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