# taz.de -- Hausbesuch Hanna Müller wurde vom Nachbarn im Aufzug vergewaltigt. Das Gericht zweifelte die Glaubwürdigkeit der geistig behinderten jungen Frau an. „Weißt du noch, Mama“, sagt sie immer: Ein Frauengeheimnis
       
 (IMG) Bild: Hannas neues Dirndl
       
       von Maria Gerhard (Text) und Quirin Leppert (Fotos)
       
       Veronika Müller lebt in einer kleinen Wohnung in einem Münchner Vorort.
       Früher wohnte auch ihre Tochter Hanna hier.
       
       Draußen: Drei Wohntürme, grau und trist. Jede Wohnung hat einen Balkon in
       Kaffeefleckenbraun. Zwei winterkahle Laubbäume sind die einzige Barriere
       vor der Hauptstraße. Neben dem schmalen Weg zu Hausnummer 12 steht ein
       Zigarettenautomat. Achtzehn Briefkästen sind in die Wand eingelassen. Im
       Treppenhaus fährt ein Fahrstuhl bis in den neunten Stock.
       
       Drinnen: Der Sonnenuntergang ist aus ocker- und orangefarbener Wolle
       gewebt. Der flauschige Teppich hängt an der Wohnzimmerwand. Daneben Fotos
       mit ähnlichem Motiv: Abendröte, im Vordergrund ein See. „Die habe ich
       gemacht“, sagt Veronika Müller. Mit Tochter Hanna sitzt sie am Tisch. Sie
       spielen Memory. An einer Orchidee im Fenster hängen rote Herzen. Veronika
       Müller nennt es ihr „Liebesfenster“ und fasst sich an die Brust. „Ich
       brauche das!“ Sechzig Quadratmeter hat die Dreizimmerwohnung. Früher hat
       sie auf der Couch geschlafen. Von ihrem Mann hatte sie sich getrennt. Ihre
       zwei Söhne teilten sich ein Zimmer, Hanna hatte ein eigenes.
       
       Die Mutter: Veronika Müller, blauer Lidschatten, blonde, lockige Haare,
       manikürte Hände. Als sie sich über das Memory-Spiel beugt und zwei Karten
       aufdeckt, wirkt sie müde, erschöpft. Gerade ist sie fünfzig Jahre alt
       geworden. Sie arbeitet als Kinderpflegerin in einem Förderzentrum für
       geistig Behinderte. Unter anderem wickelt sie Zehnjährige mit Downsyndrom.
       In dieser Schule wurde auch Hanna unterrichtet.
       
       Die Tochter: Hanna hat die blauen Augen der Mutter. Ihr Körper ist weich
       und rund, die Schultern lässt sie gern hängen. 24 Jahre ist sie. Sie wirkt
       kindlich; ist mal vertrauensselig, mal schüchtern. Beim Memory-Spielen
       deckt sie ab und zu drei Karten auf. Sie sagt nur kurze Sätze; es ist mehr
       ein Stottern. Hanna kam mit einer geistigen Behinderung zur Welt, außerdem
       leidet sie an Epilepsie. Ihr Zimmer sieht noch so aus wie vor zehn Jahren.
       Mittlerweile wohnt sie in einer Behinderteneinrichtung und kommt nur ab und
       zu zu Besuch. Der Abnabelungsprozess war für Mutter und Tochter schwer. Vor
       allem nach dem, was damals passierte. Noch heute, sieben Jahre danach,
       erschrickt Hanna, wenn sie Polizeisirenen hört. Dann wiegt sie sich hin und
       her und sagt immer wieder einen einzigen Satz: „Weißt du noch, Mama?“
       
       Das Frauengeheimnis: Ein Tag im September 2009, die Sonne ist bereits
       untergegangen. Veronika Müller bringt den Müll raus. Sie macht sich Sorgen
       um Hanna, die nur ums Haus laufen wollte und noch nicht zurück ist. Die
       Mutter rennt zwischen den Wohnblocks hin und her, sucht, ist verzweifelt,
       betritt wieder die Wohnung. Da sitzt Hanna steif auf dem schwarzen
       Ledersofa. Sie war damals bereits im Schlafanzug. Veronika Müller stutzt.
       Hanna sagt: „Ich hab ein Frauengeheimnis.“
       
       Das Unvorstellbare: Als Hanna zum ersten Mal ihre Periode bekam, hat die
       Mutter mit ihr dieses Codewort ausgemacht. Über manches würde man einfach
       nicht reden. In diesem Fall stand das Wort jedoch für etwas anderes – für
       das Unvorstellbare. Ein Nachbar hatte sie in den kleinen Aufzug des
       Nachbargebäudes gezerrt, bedrängt und zum Oralsex gezwungen. Außerdem habe
       er ihr die Hose ausgezogen und sich „so bewegt“. Danach konnte Hanna nicht
       mehr richtig sprechen. Sie hatte Schmerzen im Rachen. Im ersten Moment war
       Veronika Müller wie versteinert: „Am Anfang glaubst du es nicht, begreifst
       es nicht.“ Die Polizei wollte nicht kommen, erschien dann aber doch. Hanna
       wurde zur Befragung aufs Revier gefahren – mit lauter Sirene. Sie wurde
       verhört, allein. Seitdem hat sie Angst vor Polizeiautos.
       
       Vor Gericht: Zunächst sah es so aus, als würde es eine faire Verhandlung.
       Ein Nachbar hatte den Täter erkannt. Doch das Verfahren zieht sich hin, der
       Mann kommt vorläufig frei und kehrt in seine Wohnung zurück. „Ich hab ihn
       häufig beim Einkaufen gesehen“, sagt die Mutter, „am liebsten hätte ich ihn
       erschlagen.“ Sie formt ihre Hand zu einer Faust. Doch sie ist ruhig
       geblieben. „Schau ihn nur an!“, sagt sie sich, „du musst ihn auch vor
       Gericht anschauen.“
       
       Glaubwürdigkeit: Hanna erfindet gerne Geschichten, eben wie ein Kind.
       Einmal habe sie dem Psychologen von einem Hund erzählt, der in ihrem Bett
       schlafen darf. „Der Mann hat lange gebraucht, bis er begriffen hatte, dass
       es sich um einen Stoffhund handelt“, sagt Veronika Müller. Sie lacht, ihre
       Augen blicken traurig. Hannas Glaubwürdigkeit wurde von den Richtern in
       Zweifel gezogen.
       
       Das Urteil: Der Täter wird zu einer Geldstrafe verurteilt, Schmerzensgeld,
       3.000 Euro. „Wir haben es nicht angenommen“, sagt Veronika Müller, „was
       sollten wir damit machen? Einen Pullover kaufen? Essen gehen?“ Später kommt
       der Mann doch ins Gefängnis. An helllichtem Tag vergewaltigte er eine
       65-Jährige. Dafür gab es genug Zeugen.
       
       Vertrauen: Vertrauen haben Mutter und Tochter nur zu wenigen Menschen.
       Einer ist Michael Schwarz, Diplompsychologe und Traumatherapeut im
       KinderschutzZentrum in München. Er glaubt Hanna. „Er hat uns lange
       begleitet“, sagt Veronika Müller. Sie mischt die Memory-Karten erneut.
       Hanna hat gewonnen. Sie lacht vergnügt und trommelt mit dem Finger auf der
       Tischkante. „Man hat an Hannas Brust Speichelproben des Täters gefunden –
       und die waren unter der Kleidung und nicht darauf“, erzählt die Mutter,
       während Hanna kurz in die Küche geht. Außerdem habe ihre Tochter die
       Geschichte wieder und wieder erzählt, im Detail. Das könne sie sich nicht
       ausgedacht haben. Und dann diese plötzliche Angst vor Männern. Ein
       Gutachten habe Hanna attestiert, dass sie bei konkreten Aussagen als
       vertrauenswürdig einzustufen sei. Trotzdem kam der Täter davon. Veronika
       Müller ist überzeugt, dass mit zweierlei Maß gemessen wurde.
       
       Die Pferdekoppel: Zusammen mit Hanna hat der Psychologe einen Ort
       entwickelt, an dem sich die junge Frau in ihrer Fantasie sicher fühlt.
       Hannas Schutzort ist eine Pferdekoppel. Über dem Kinderbett in ihrem alten
       Zimmer hängt ein Pferdeposter. Ihre Mutter war bei der Traumatherapie immer
       dabei. „Wir sind heulend rein und lachend raus“, erzählt sie.
       
       Angst: Neulich kam Post von der Polizei. Er sei wieder frei, stand in dem
       Schreiben. Sie bekam eine Liste mit fünf Nummern, die Veronika Müller im
       Notfall anrufen kann. Die Liste liegt jetzt in der Schublade unter dem
       Telefon. Hanna weiß nichts davon.
       
       Und wie findet sie Merkel. „Sie müsste dafür sorgen, dass solche Fälle
       schneller verhandelt werden. Sonst wird man wieder und wieder aufgewühlt“,
       sagt sie nur.
       
       27 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Maria Gerhard
       
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