# taz.de -- Sozialer Wohnungsbau in London: Streit um Broadwater Farm
       
       > In Tottenham droht der Abriss von Siedlungen aus den 60er-Jahren. Sie
       > gelten als soziale Brennpunkte. Die Einwohner fürchten Verdrängung.
       
 (IMG) Bild: Zurück zum Beton: die Wohnsiedlung Broadwater Park.
       
       London taz | Im Zentrum der Siedlung mit ihren mehrstöckigen Häusern im
       Corbusier-Stil steht ein verspielter Terrassenbau aus Beton. In Broadwater
       Farm im Stadtteil Tottenham in Londons Norden gibt es rund 1.100 Wohnungen.
       Marode Wasserleitungen und dunkle Häuserecken offenbaren einen
       beklagenswerten Zustand der Betonsiedlung. Eine Sanierung wäre überfällig.
       
       Doch die Zeichen stehen auf Abriss. Premier David Cameron hat sich der
       Sache persönlich angenommen. Die Bauten aus den 60er Jahren seien „mit
       ihren dunklen Gassen ein Geschenk für Kriminelle und Drogendealer“,
       erklärte er. Diese Art von Siedlungen seien „Armutsfallen“. Cameron
       plädiert entschieden für einen Abriss und den Bau neuer Wohnungen.
       
       Solche Argumente sind in Großbritannien nicht neu. In den 60er Jahren
       ebnete man so viele viktorianische Ziegelwohnblöcke ein. Und im 19.
       Jahrhundert wurden Teile des Londoner East End zum Wohle der Armen
       „saniert“.
       
       Clasford Sterling, 57, ist einer der langjährigen Einwohner der Siedlung.
       Seine kräftige Statur und seine tiefe Stimme verleihen ihm eine natürliche
       Autorität. „Broadwater Farms Image ist historisch bedingt. Es hat nicht
       viel mit der Realität zu tun“, sagt er. Sterling, gebürtiger Jamaikaner und
       Träger des Verdienstordens des Britischen Empire, ließ sich schon in den
       70er Jahren nicht drangsalieren. Mit Fußballspielen und mit Farbtöpfen zum
       Auffrischen der Hauswände schaffte er es, viele der damals
       orientierungslosen Jugendlichen relativ schnell zur Räson zu bringen.
       
       Im Jahr 1985 geriet der Wohnbaukomplex dennoch in die nationalen
       Schlagzeilen, als Jugendliche aus der ganzen Region sich nach einer
       Demonstration gegen Polizeibrutalität in einem Wohnblock verschanzten und
       von der Polizei eingekesselt wurden. Die folgenden Kämpfe zwischen
       Jugendlichen und der Polizei endeten mit der brutalen Ermordung eines
       Polizisten.
       
       Erst in den 90er Jahren unter John Majors Regierung erhielt die Siedlung
       wieder Hilfe mit 33 Millionen Pfund. Auf Broadwater Farm entstanden so ein
       Gemeinschaftszentrum, eine Grundschule und anderes. Lotteriegelder sorgten
       später für eine gelungene Sanierung des Parks mit vielen Freizeit- und
       Sportmöglichkeiten.
       
       ## Unterdurchschnittliche Kriminalitätsrate
       
       Die Kriminalitätsrate des Bezirks liegt schon lange unterhalb des Londoner
       Durchschnitts. Sterling berichtet, dass die Siedlung über die Jahre viele
       Delegationen aus aller Welt zu Besuch hatte. Broadwater Farm wurde quasi
       zum Erfolgsmodell des sozialen Wohnbaus schlechthin.
       
       Manche Einwohner der Siedlung wären heute über den Abriss und den Bau neuer
       Wohnungen glücklich. Sie sind aber in der Minderheit, die meisten anderen,
       die in den konventionellen Blöcken wohnen, scheinen im Grunde zufrieden zu
       sein. Darunter befinden sich eben auch Eigentümer, die ihre
       Sozialmietwohnungen in der Ära von Margaret Thatcher gekauft haben.
       
       Die Stadtverwaltung von Haringey, die die Siedlung verwaltet, will dennoch
       alles abreißen lassen, ja sogar die kleineren Reihenhäuser mit Garten am
       Rande der Siedlung samt der neuen Schule. Ein lukrativer Verkauf von
       Broadwater Farm könnte zudem die 30-prozentigen Kürzungen im Haushalt
       wettmachen. Der Verkauf an ein Bauunternehmen würde Haringey auch von der
       Verwaltung der Siedlung befreien.
       
       ## Gentrifizierung in Heygate
       
       Beispiele gibt es bereits in anderen Regionen Londons, wie Heygate Estate
       in Südlondon. Von den ehemals 1.200 echten Sozialwohnungen blieben dort nur
       knapp 300 bestehen. Der Rest wurde privat und mit stark erhöhten Mieten auf
       den Markt gebracht. Offiziell heißt es, die besser Verdienenden würden die
       Ärmeren mittragen. Doch die vermeintliche Win-win-Situation tritt selten
       ein. Mit dem Einzug von begüterten Nachbarn steigen oft die lokalen
       Lebenshaltungskosten.
       
       Auch in Broadwater Farm hat man deshalb Angst, dass die Bewohner in
       Regionen weit entfernt von Tottenham umziehen müssten. Broadwater Farm will
       gegen den Abriss ankämpfen. Für die Umsetzung der Abrisspläne ist die
       Bezirksregierung zuständig. Und die wird von der Labour-Partei gestellt und
       ist uneingeschränkt für den Abriss.
       
       Sterling versteht nicht, was an Broadwater Farm falsch sein sein soll. Müde
       blickt er aus dem Fenster und bemerkt: „Es gibt keinen guten Grund, diese
       Gemeinschaft auseinanderzureißen, sie ist weder kriminell noch in Armut
       gefangen“, sagt er. Seit Beginn der Sparpolitik wurden in Haringey
       Sozialarbeiter entlassen. Sterling leistet nun viele Jobs unbezahlt und
       alleine.
       
       22 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Zylbersztajn
       
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