# taz.de -- Bürgermeister in der Ukraine: Fast wie bei Dostojewski
       
       > Michel Tereschtschenko baut wieder auf, was zerstört wurde. Seine
       > Urgroßeltern wurden in der Ukraine reich, sie stifteten viel, bis Lenin
       > sie vertrieb.
       
 (IMG) Bild: Michel Tereschtschenko, Bürgermeister von Hluchiw
       
       „Sie haben zehn Minuten!“ Bürgermeister Michel Tereschtschenko drängt zur
       Eile. Die Sitzung der Stadtverwaltung von Hluchiw ist zu Ende.
       Tereschtschenko bittet in sein Arbeitszimmer. Er wirkt müde. Sein Büro ist
       geräumig, und penibel aufgeräumt. Apfelgrüne Wände, olivfarbene
       Polsterlehnen, altrosa Teppichboden. Auf dem Schrank stehen Rugbytrophäen
       aus dem früheren Leben.
       
       Seinen offiziellen „Thron“ meidet der neue Bürgermeister. Tereschtschenko
       nimmt Platz am Besuchertisch und berichtet froh, dass Lenin endlich die
       Stadt verlassen hat. „Solange hier das Lenindenkmal stand, haben sich die
       Investoren nicht wohl gefühlt“, sagt er. „Lenin war ihr Hauptfeind, ein
       Symbol. Früher hat er alles konfisziert, geklaut. So etwas schafft kein
       gutes Klima für Investitionen. Erst jetzt können wir anfangen, normal zu
       leben.“ Es ist, als wäre ein Spuk vorbei.
       
       Bürgermeister Tereschtschenko kann noch kein Ukrainisch, er spricht ein
       gepflegtes Russisch mit französischem Akzent. Er ist in Frankreich
       aufgewachsen und lebt seit 2003 in Hluchiw in der Ostukraine. Damals hat er
       als Berater für französische Unternehmen gearbeitet, die in der Gegend
       investiert haben. 2008 gründete er seine Firma für den Anbau und die
       Verarbeitung von Leinen in Hluchiw. Sein Unternehmen Linen of Desna
       beschäftigt heute 153 Leute und liefert seine Ware nach China, Frankreich
       und Polen. Stolz berichtet Bürgermeister Tereschtschenko, dass im Ort bald
       auch die neue Brotfabrik eröffnet wird. „Die Unternehmer haben mir
       versprochen, dass sie pünktlich beginnen werden.“
       
       Andere Probleme lassen sich nicht so schnell beheben. Er erzählt von seinem
       ernüchternden Besuch im städtischen Krankenhaus am Vortag. „Ein junger Arzt
       schuftet nach neun Studienjahren Tag und Nacht und bekommt dafür knapp
       2.000 Hrywnja, umgerechnet 75 Euro, im Monat – das ist ein Skandal!“ Zudem
       sei das Krankenhaus in einem erbärmlichen Zustand. „Vor 150 Jahren war es
       das schönste und modernste in der ganzen Region!“
       
       Tereschtschenko wirkt bei seiner Tirade so, als hätte er das Spital selber
       errichtet. In gewisser Weise stimmt das auch. Denn Michel Tereschtschenko,
       ein gebürtiger Franzose, ist Nachkomme einer der berühmtesten Unternehmer-
       und Mäzenatenfamilie aus dem Russischen Reich. Die Liste der Schulen,
       Museen, Krankenhäuser, Waisenhäuser und Kirchen, die die Familie in Kiew
       ganz oder teilweise finanziert hat, scheint endlos. Auch Hluchiw hatte die
       Familie einst nicht vergessen. Das Krankenhaus, über dessen Zustand der
       Bürgermeister so in Rage gerät, gehört dazu.
       
       ## Vom Krämer zum Zuckerrüben-Fabrikanten
       
       Ururgroßvater Artemij hatte sich im 19. Jahrhundert als Sohn einer
       Kosakenfamilie vom Krämer zum Großhändler hochgearbeitet. Sein Sohn Nikola
       mehrte das Vermögen und stieg mit der Kultivierung der Zuckerrübe zu einem
       der größten Grundbesitzer und Zuckerfabrikanten auf. Der Reichtum der
       Familie Tereschtschenko war immens, ihre Wohltätigkeit auch. Ein
       Tereschtschenko, Michail, wurde im Februar 1917 sogar Minister in der
       provisorischen Regierung. Als Lenin im Oktober 1917 die Macht in Russland
       an sich riss, emigrierte die Familie nach Frankreich.
       
       Nach 98 Jahren ist sie zurück. Michel Tereschtschenko ist seit November
       2015 dort Bürgermeister, wo vor 200 Jahren der Aufstieg der Familie begann
       - in Hluchiw. Bisher konnte man den Namen Tereschtschenko nur auf
       Straßenschildern und Gedenktafeln lesen, nun steht er an der Tür des
       Bürgermeisters.
       
       Und die Porträts der Vorfahren Artemij und Nikola Tereschtschenko führen im
       Sitzungssaal des Rathauses wieder die Reihe der Stadtväter von Hluchiw an.
       Eine Tafel am Eingang des Rathauses erinnert allerdings auch daran, dass
       hier einst die Kreisleitung der Kommunistischen Partei untergebracht war.
       Eigentlich hätte die Tafel längst verschwunden sein müssen, so wie der
       Lenin. Das „Gesetz zur Entkommunisierung“, das jegliche Sowjetsymbolik
       verbietet, wurde im Mai 2015 in Kiew beschlossen. Doch Kiew ist weit.
       Immerhin ist Lenin, der Investorenschreck, nun fort.
       
       ## Mit der Vergangenheit punkten
       
       Auf die Frage, wie es sich anfühle, in die Fußstapfen der Vorfahren zu
       treten, die 80 Prozent ihres riesigen Vermögens für die Wohlfahrt
       ausgegeben haben, antwortet Michel Tereschtschenko: „Die Situation hat sich
       grundlegend geändert. Damals war Hluchiw ein wichtiges Zentrum mit großen
       Betrieben, etwa Zuckerfabriken.“ Heute ist Hluchiw ein Nest in der
       ukrainischen Provinz, 300 Kilometer nordöstlich von Kiew. An der
       Stadteinfahrt erinnert eine Stele an 1.000-jährige Geschichte, eine vom
       Wind angefressene ukrainische Fahne ragt in den Himmel. Das Autoradio gibt
       russische Sender in einwandfreier Qualität wider, bis zur Grenze zu
       Russland sind es 15 Kilometer. Auf den Straßen ist Russisch allgegenwärtig,
       viele arbeiten im Nachbarland.
       
       Einzig mit der glorreichen Vergangenheit kann Hluchiw heute punkten – und
       vielleicht mit der Zukunft. „Ich hoffe, dass Hluchiw bald zu alter Blüte
       wiederfinden wird“, beendet Tereschtschenko das Gespräch, verweist auf den
       Herrn im Foyer und enteilt.
       
       Ist die neue Zeit denn schon im Rathaus angekommen? Ein wenig. Die
       Kinderecke im Foyer ist ein Novum. Kleine Tische, Wachskreide, Malpapier.
       Jewgenij Schum macht es sich auf einem der Stühle bequem. Schum leitete das
       Wahlkampfteam von Michel Tereschtschenko und verbrachte manche Nacht in
       dieser Kinderecke. Schum stammt zwar aus Hluchiw, hat aber bis vor Kurzem
       in Kiew gelebt. Seine Familie betreibt dort einen kleiden Laden.
       
       ## Der Franzose als Hoffnungsträger
       
       Er erzählt, dass während des Euromajdans vor zwei Jahren die damalige
       Stadtführung von Hluchiw die Einwohner in Bussen nach Kiew gekarrt habe,
       damit sie gegen den Maidan demonstrieren. Verantwortlich dafür ist
       Exbürgermeister Juri Burlaka, ein Mitglied der Partei der Regionen, die
       Partei von Wiktor Janukowitsch, der im Februar 2014 gestürzt wurde. In
       Michel Tereschtschenko sah Schum die einzige Chance, der korrumpierten
       Stadtführung Paroli zu bieten.
       
       „Die Stadtverwaltung hat alles getan, um unsere Arbeit zu verhindern“,
       erzählt Schum. Als ihnen die Plakatwände mit der Begründung verwehrt
       wurden, dass sie Gemeindeeigentum seien, haben sie Beschwerde eingereicht.
       In dem Antwortschreiben hieß es, dass die Tafeln mit öffentlichen
       Bekanntmachungen belegt seinen. In Wahrheit handelte es sich um Wahlwerbung
       des „Oppositionsblockes“ – der Nachfolgepartei der inzwischen verbotenen
       Partei der Regionen.
       
       „Letztendlich haben wir von der Geschichte profitiert, weil wir als Opfer
       dastanden und darüber in den nationalen Medien groß berichtet wurde.“
       Jewgenij Schum gehört immer noch zum Team des Bürgermeisters, jetzt aber
       ohne offiziellen Posten.
       
       ## „Wir haben eine Chance“
       
       Der neue Vizebürgermeister Roman Golownja spricht ein Ukrainisch, das für
       die Gegend eine Seltenheit ist. Zuvor war er Abgeordneter des Kiewer
       Stadtrates. Warum hat er die Hauptstadt gegen ein Provinznest getauscht?
       „Wir haben in Hluchiw heute eine reale Chance in einem konkreten Fall das
       ganze korrupte System zu brechen“, ist Golownja überzeugt. „In Kiew fehlt
       der politische Wille dazu, das weiß ich aus eigener Erfahrung“.
       
       Unter anderem ist Golownja jetzt für Soziales zuständig. Das heißt vor
       allem dafür, dass die Menschen hier in Hluchiw und nicht in Russland Arbeit
       finden. Schwierig, das Wichtigste seien deshalb Unternehmen, die in der
       Gegend investieren. „Ich hoffe, dass Michel Tereschtschenko eine Marke für
       Investoren wird“, sagt Golownja. „Er war selbst lange Zeit ein
       erfolgreicher Geschäftsmann, hat Erfahrung im Westen gesammelt und kann
       unternehmerisch denken und sprechen.“
       
       Im Stadtzentrum erhebt sich die mächtige Anastasia-Kathedrale. Auch diese
       Kirche haben 1893 die Tereschtschenkos finanziert. Gegenüber der Kirche
       beseitigen Arbeiter die Reste des verwaisten Denkmalsockels, von dem bis
       vor Tagen der Führer des Weltproletariats aufragte. Die Meinungen über den
       Abriss gehen auseinander. „Lenin war doch ein Verbrecher. Er saß laufend
       ein, mal im Gefängnis, mal im Lager“, echauffiert sich der 48-jährige
       Alexander. Eine Rentnerin widerspricht: „Dass Lenin demontiert wurde, macht
       mich traurig, in den 70 Jahren Sowjetzeit gab es auch viel Schönes.“
       
       ## Alles sauber, alles transparent
       
       Auch mit Blick auf den neuen Bürgermeister sind sich die beiden nicht
       einig. Alexander ist skeptisch, weil er Tereschtschenko für hochnäsig hält:
       „Ich habe doch gesehen, wie er Menschen herunter geputzt hat – nur weil sie
       dafür waren, dass Lenin bleibt.“ „Ich habe für Tereschtschenko gestimmt,
       weil ich hoffe, dass er Geld findet, um endlich kaputte Straßen zu
       renovieren“, entgegnet die Alte.
       
       Das ehemalige Haus der Tereschtschenkos liegt in der gleichnamigen Straße.
       Heute ist hier das Versuchslabor des Instituts für Bastkulturen der
       Akademie für Agrarwissenschaften untergebracht. Hier wurden die ersten
       Erntemaschinen für Leinen in der Ukraine hergestellt. Ein paar Zimmer hat
       das Büro der Firma Linen of Desna angemietet, gegründet von Michel
       Tereschtschenko. Der heutige Bürgermeister muss an den Staat Miete für
       Räume zahlen, die der Staat einst seiner Familie abgenommen hat.
       
       Die Bibliothekarin Irina Tregubenko führt zu einer gusseisernen Tür. Wo
       heute das Archiv des Instituts ist, war früher die Tresorkammer. Die
       vergitterten Fenster und der Tresor sind stumme Zeugen einer alten
       Familiengeschichte. Irina Tregubenko ist eine glühende Anhängerin des neuen
       Bürgermeisters. „Er hat bereits so viel in Bewegung gebracht“, schwärmt
       sie. Das Wichtigste, was Irina Tregubenko erhofft, sind Veränderungen in
       den Köpfen. Michel sei ein Mensch, der anders denkt. Er sei einer, der
       imstande ist, den Menschen beizubringen, dass es ein anderes Leben gibt –
       ohne Schmiergeld, ohne krumme Geschäfte. „Ich möchte, dass alles sauber und
       transparent abläuft.“
       
       Falls das ukrainische Parlament, wie vorgesehen, die Verfassung ändert,
       stehen in der Ukraine 2017 schon die nächsten Lokalwahlen an. Viel Zeit
       bleibt Michel Tereschtschenko also nicht.
       
       Aus dem Russischen übersetzt von Irina Serdyuk
       
       12 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Grigori Pyrlik
       
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