# taz.de -- Kolumne Darum: Die Gnade der Filzstifte
       
       > Stress, wohin man auch schaut. Er malt. Die Termine vor Weihnachten
       > häufen sich. Sie malt. Schnell noch Geschenke besorgen. Wir alle malen.
       
 (IMG) Bild: Sieht aus wie gemalt.
       
       In der Vorweihnachtszeit brachte meine Lehrerin eine Kerze in den
       Deutsch-Leistungskurs mit. Das sei festlich, sagte die bekennende
       Konservative, und so könnten auch wir Linken und Atheisten einen Teil der
       Gnade Gottes erfahren. Sie fühlte sich – wie so viele Konservative – als
       Teil einer Minderheit. Am [1][Siegerland-Kolleg für Erwachsenenbildung] war
       sie es auch.
       
       Wir saßen dann da, interpretierten Goethe, Lessing und Brecht nach Form und
       Inhalt, und zwischen uns flackerte die große Kerze des Roten Kreuzes. Der
       ganze Vorweihnachtszinnober ging mir auf die Nerven, Gottes Gnade erfuhr
       ich nie, [2][Goethes Gnade auch nicht].
       
       Wir linksradikalen und linksliberalen Atheisten stritten über die Kerze.
       Manche sahen darin eine nette Geste, die Verlangsamung im immer schneller
       werdenden Kapitalismus andeute. „Eben“, antworteten andere, „Andeutungen,
       Gesten“, das alles sei konservativer Zierrat, der die Härte der
       Verhältnisse mit mildem Licht umgebe, sie aber nicht beseitigen wolle.
       
       Heute weiß ich, dass die Lehrerin – Mutter von vier Kindern, vollzeit
       berufstätig, karitativ engagiert – nur versucht hat, die Vorweihnachtszeit
       ein wenig ertäglicher zu machen. Für sich selbst. Für uns. Für wen auch
       immer. Denn die Wochen vor Weihnachten sind für Eltern, konservativ gesagt,
       oft die Hölle.
       
       ## Dunkelheit, Weihnachtsfeiern, Besorgungen
       
       Es kommt in dieser Zeit alles zusammen: Verregnete Spätherbsttage mischen
       sich mit fiesestem Frühwinter. Draußen ist feindlich. Es gibt zu viel
       Matsch und zu wenig Tageslicht. Elternabende im Akkord, weil sie noch vor
       den Ferien stattfinden müssen. Weihnachtsfeiern – schön!, aber gleich so
       viele? –, verkaterte Tage nach Weihnachtsfeiern, über Geschenke nachdenken,
       Geschenke besorgen, Geschenke doppelt besorgen, Geschenke wieder
       umtauschen. Stress und Hektik, wohin man auch schaut.
       
       Mein Sohn malt. Er malt vorgedruckte Bilder mit bunten Filzstiften aus. Mal
       sind es Felder zwischen Linien, mal Felder zwischen Kurven, manchmal auch
       geometrische Figuren. Nichts Eigenes zeichnen, nur mit Filzstiften
       ausmalen. Viele Bilder, viele Filzstifte, viele Muster, viele Farben.
       
       Wir Eltern keuchen. Wer besorgt nun was? Wer geht umtauschen? Schaff ich
       das noch vor der Weihnachtsfeier? Oder nach dem Elternabend? Mein Sohn
       malt. 40 Felder, 15 Farben. Auch meine Tochter hat Stress: Vor den Ferien
       müssen noch Tests oder Klassenarbeiten in allen Hauptfächern geschrieben
       werden. Dann Fußballtraining, Chor, Babysitten bei Freunden. Wie will sie
       das alles ... – sie schaut ihren Bruder an, setzt sich daneben, greift sich
       einen Vordruck und Stifte.
       
       Mein Sohn malt. Meine Tochter malt. Meine Frau hat schlechte Laune.
       Studium, Unterricht, Besorgungen, Termine, Ärger, Sorgen und Nöte. Dreht
       sie bald ... – sie schaut die Kinder an, setzt sich daneben, greift sich
       einen Vordruck und Stifte.
       
       Mein Sohn malt. Meine Tochter malt. Meine Frau malt. Ich brodele vor
       Unruhe, könnte vor lauter Hektik und Anspannung unser Sofa erschießen. Ich
       schaue mir die Familie an, setze mich daneben, greife mir einen Vordruck
       und Stifte. Ich male. Wir alle malen. Stress ist anderswo. Ich erfahre die
       Gnade der Filzstifte.
       
       14 Dec 2015
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.siegerland-kolleg.de/
 (DIR) [2] http://www.aphorismen.de/suche?f_thema=Gnade%2C+Segen&f_autor=1461_Johann+Wolfgang+von+Goethe
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Maik Söhler
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Darum
 (DIR) Weihnachten
 (DIR) Darum
 (DIR) Darum
 (DIR) Weihnachten
 (DIR) Darum
 (DIR) Darum
 (DIR) Darum
 (DIR) Darum
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Terminstress im Dezember: Das Jahresende ist keine Deadline!
       
       Der Dezember ist der Monat, in dem so viele Treffen wie möglich stattfinden
       sollen. Noch in diesem Jahr, heißt es oft. Warum nur?
       
 (DIR) Kolumne Darum: kaVole üsstsch und !
       
       Was haben „Dada“ und das Leben mit Kindern gemeinsam? „Dada“ und Kinder
       stehen für Zweifel an allem. „Darum“ verabschiedet sich.
       
 (DIR) Kolumne Darum: Die Welt neu entdecken
       
       Die Kinder streiten sich mal wieder. Diesmal um Filme. Zum Glück kann man
       von Flüchtlingen und Migranten viel lernen.
       
 (DIR) Bio-Weihnachtsbäume zum Fest: Oh, Tannenzapfen
       
       Für das Geschäft mit der deutschen Nordmanntanne riskieren Arbeiter in
       Georgien ihr Leben. Eine Firma will das ändern – mit fairen Samen.
       
 (DIR) Kolumne Darum: Sie nehmen mir alles
       
       „Warum? Darum! Punkt!“ – Nicht einmal das letzte Wort lassen uns die
       Kinder. Sie sind, um es mit Roland Barthes zu sagen, Meister der
       Tautologie.
       
 (DIR) Kolumne Darum: „Ich hab drei Schaden“
       
       Stunde um Stunde verbringen die Kinder am Handy, am PC oder am Tablet.
       Endlose Debatten folgen. Das lässt sich vermeiden.
       
 (DIR) Kolumne Darum: Wegen Umbau geschlossen
       
       Auf dem Fleisch steht, dass keine Milch drin ist. Aber auf dem
       pubertierenden Kind steht nichts. Über falsche und richtige
       Kennzeichnungspflichten.
       
 (DIR) Kolumne Darum: Jetzt geht’s rund
       
       Im Sommerurlaub wurden meine Kinder nationalistisch „gedisst“. Das ist
       ärgerlich. Aber ein Klacks im Vergleich zur Rückkehr nach Deutschland.