# taz.de -- Fesselnde Musik
       
       > KONZERT Popkünstlerin Chinawoman in Berlin
       
       „So viel Wein haben wir noch nie ausgeschenkt“, meint die Barfrau. „Gebt
       gut Acht auf die Platte!“, raunt der Mann am Merch gleich nebenan: „Der
       Coverdesigner ist bei einem Autounfall umgekommen.“
       
       Da hallt schon Michelle Gurevichs Stimme von der Bühne: „Lovers Are
       Strangers“, Liebende sind einander fremd. Seit 2012 hat Chinawoman nicht
       mehr in der Stadt gespielt. Seit 2010 lebt die kanadische Tochter zweier
       russischer Exilanten in Berlin. Nun spielt sie gleich zweimal vor
       ausverkauftem Haus im Club BiNuu. Beinahe fünffach hätte Gurevich den Laden
       ausverkaufen können, so viele Zuschauer hatten sich vorab angemeldet.
       Chinawomans Erfolg ist ein gelebter DIY-Traum. Ihre Karriere basiert auf
       Eigenveröffentlichungen, Handverkauf und Selbstvermarktung im Netz. Der
       Sichtbarkeits-Algorithmus ist allerdings nur der letzte von vielen
       Schritten. Der Wichtigste heißt: gute Musik.
       
       Im Fall von Chinawoman sind es stagnierende Mitternachts-Rocksongs,
       zwischen deren wenigen Noten ein morbider Swing und das reiche musikalische
       Wissen aus Eastern Folk und Western Pop gleichermaßen brodelt.
       Spannungswalzen statt -bögen. Lieder, die wie ein nie endendes
       Massive-Attack-Intro klingen, die einen an einen Stuhl fesseln, um
       Russisches Roulette zu spielen.
       
       Heute drücken sie aber erst mal in ein imaginäres, samtenes Sofa: Nach
       „Lovers Are Strangers“ rumpelt der weitere Fortgang des Konzerts zunächst
       etwas handzahm vor sich hin. Beim dritten Song verabschiedet sich
       allerdings das Kick-Pedal des halbakustischen, halbelektronischen
       Schlagzeugs. „Wenn alles schiefgeht, dann beginnt die Show“, lächelt die
       goldkettenbehangene Gurevich mit entwaffnender Freundlichkeit, trinkt
       lässig ein aus dem Publikum gereichtes Bier. Dann zückt sie den verbalen
       Revolver. Und wie die Show beginnt.
       
       Sie singt von tödlichen Gnadenstößen, Dreiern und Urlaub von der Liebe.
       „You want to see me every day / And still expect a boner“, lautet eines
       ihrer vielen bitterbös pointierten Zeilenpaare. „To be a perfect lover is
       not a compliment“, ein anderes. Und der beste Arsch ist noch immer nicht so
       gut wie gar kein Arsch. Zumindest auf der Bühne. Zumindest wenn es nach
       ihrer Mutter geht, der „Russian Ballerina“, wie Gurevich ebenso kurz wie
       vergnügt die textliche Düsternis aufbricht. Es gelten allein Inhalt und
       Bühnenpräsenz. Je stärker das lyrische Leben unter Chinawomans unterkühlter
       Stimme zerfasert, desto mehr fällt alles im Raum auf sie zu. Bis hin zum
       Finale, einer erhabenen Berlin-Hymne namens „Party Girl“, die die Musikerin
       bereits vor acht Jahren, damals noch in der alten Heimat Toronto,
       geschrieben hatte. „It doesn’t matter what you create, if you have no fun /
       … / I used to cry, but now I don’t have the time / … / I’m a party girl.“
       In den vielen Diskokugeln an der Decke werden alle Menschen zu Quadraten.
       Zu Pixeln, wenn man so will. Einander gleich, einander fremd. Die nächste
       Internet-Einladung kommt bestimmt. Die Liebe lässt noch auf sich warten.
       
       THOMAS VORREYER
       
       20 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Vorreyer
       
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