# taz.de -- Nachhaltigkeit im Alltag: Brauchen ist eine Entscheidung
       
       > Perfekter Konsum ist nicht möglich. Doch es gibt mehr als eine Strategie,
       > mit dem Dilemma umzugehen. Zwei Menschen, unterschiedliche Bedürfnisse.
       
 (IMG) Bild: Er schmeißt nicht raus, sondern baut Regale um: Marius Hasenheit.
       
       Berlin/ Düsseldorf taz | Ein Regal. Drei Regalböden, zusammengehalten durch
       eine Seitenwand und einige Schrauben. Man kann es befüllen und leeren,
       dekorieren oder an die Wand nageln: ein Regal eben. Es steht hinter dem
       Esstisch auf einer Kommode in einer Wohnung in Berlin-Neukölln. Doch wie
       kam es hierher? Wie viel CO2 wurde beim Transport ausgestoßen? Wurde für
       die Holzherstellung Regenwald abgeholzt, und wer hat in der Produktion
       eigentlich wie viel verdient? In Zeiten der Wachstumskritik hat es das
       Möbelstück nicht einfach.
       
       Dabei hält dieses Regal aus einer Berliner Wohnung all diesen Fragen stand.
       Es ist vegan, regional und ökologisch, hundertprozentig recycelt und somit
       hundertprozentig recycelbar – upgecycelt heißt das dann.
       
       Aber ist es nicht noch besser, gar nicht erst ein Regal haben zu wollen? Es
       ist die Frage nach dem eigenen Verhältnis zum Materiellen, die
       Wachstumskritikern in Wachstumsgesellschaften Kopfschmerzen bereitet. Für
       Marius Hasenheit ist Teil der Lösung, selbst zu bauen; aus seinen Händen
       stammt das Upcycle-Regal.
       
       An einem Sonntagnachmittag sitzt der 27-Jährige in seiner Neuköllner
       Wohnung und frühstückt. Er trägt Lederjacke, Pulli, Schal, Jeans, einen
       gepflegten Dreitagebart und dazu eine dieser runden Brillen, die modern
       sind, weil sie irgendwie alt aussehen. Er wirkt, als wäre er jederzeit
       bereit, eine große Unternehmung zu starten.
       
       ## Geordnetes Chaos
       
       Hasenheit ist ein Tüftler. Beruflich forscht er in einem der führenden
       Umweltinstitute über die ökonomische Lösung der Ressourcenfrage, in seiner
       Freizeit sammelt er Altmaterialien und baut daraus Möbel. In Hasenheits
       Wohnung stehen Holzbretter, die mit Flaschen zusammengehalten werden, neben
       aneinandergeschraubten Weinkisten und Europaletten-Konstruktionen, auf
       denen selbst gemachte Skulpturen thronen.
       
       An der Wand hängt ein uraltes Plakat von einer „Schwanensee“-Aufführung,
       und im Bücherschrank steht „Der kleine Prinz“ neben den „Drei Musketieren“.
       In dieser Wohnung herrscht geordnetes Chaos, gerade unordentlich genug, um
       nicht in Verdacht zu geraten, spießig zu sein. Genau wie Hasenheits Leben.
       
       Mit sieben Jahren baut er im Unterricht einen Ameisenstaubsauger und träumt
       seitdem davon, als Umweltforscher durch den Regenwald zu streifen. Die
       Gelegenheit bietet sich nach dem Abitur in einem Ökoprojekt in Nicaragua.
       Anschließend studiert er Biogeowissenschaften in Jena und Global Change
       Ecology in Bayreuth.
       
       In Berlin, wo Multikultigesellschaft und deutsche Innovationselite im Kiez
       nebeneinander leben, schafft er den beruflichen Einstieg als „Junior
       Researcher“. Hasenheit vereint Systemkarriere und Systemkritik. „Man
       braucht beides – Radikalität und Pragmatismus“, erklärt er. Diese Haltung
       macht ihn für die Radikalen zum Pragmatiker und für die Pragmatiker zum
       Radikalen.
       
       „Brauche ich so ein Upcycleregal überhaupt?“, fragt stattdessen einer,
       dessen liebstes Hobby „ausmisten“ ist. Sein zweitliebstes ist bloggen. Also
       kombinierte Michael Klumb die Vorlieben und bloggt seit 2011 über das
       Ausmisten. Heute ist er hierzulande der bekannteste Minimalismus-Blogger.
       Dabei ist Klumb eigentlich eher schüchtern. Man merkt ihm an, dass er sich
       an das öffentliche Interesse an seiner Person noch nicht gewöhnt hat. Seine
       Stimme ist leise, sein Kleidungsstil schlicht: Turnschuhe, schwarze Hose,
       schwarzes T-Shirt, dazu kurze, nach oben gegelte Haare und als einzige
       Auffälligkeit eine leuchtend grüne Brille, die seinen Optikerberuf verrät.
       
       Als Klumb sein Wohnzimmer zeigt, wirkt er zufrieden. Parkett, grüner
       Teppich, eine Sitzecke mit grauer Couch und schwarzem Hocker, davor ein
       großes Regal, in dem früher der Fernseher stand. Eine Kerze auf dem Tisch
       und zwei Fotorahmen an den Wänden sind die einzigen Dekorationsgegenstände.
       Es ist schlicht, aber nicht ungemütlich, und doch wirkt es, als wäre Klumb
       erst zur Hälfte eingezogen. Doch er fühlt sich wohl. Statt Regale zu bauen,
       leert Michael Klumb welche. Für ihn fühlt es sich einfach besser an,
       weniger zu besitzen.
       
       ## Entrümpeln als Lebensaufgabe
       
       Das war nicht immer so. Der 33-Jährige lebte ein Pendlerleben zwischen
       Wohnung und Arbeitsplatz, Bergisch-Gladbach und Düsseldorf. Unter der Woche
       half er Kollegen in einer Brillenfirma als IT-Supporter, am Wochenende
       legte der Hobby-DJ bei Familienfeiern und Geburtstagspartys auf, in der
       übrigen Zeit ging er gerne einkaufen – vor allem CDs und Bücher. Bis es ihm
       irgendwann zu viel wurde.
       
       Die Kleidung in den Schränken, die Erinnerungsstücke an der Wand und das
       Essen in der Vorratskammer – von allem hat er mehr, als er braucht. Sein
       Besitz belastet ihn, Regale, Kleidung, E-Mail-Accounts und Freunde, überall
       sortiert Klumb aus und behält nur, was ihm wirklich wichtig ist.
       
       Das Entrümpeln wird für Michael Klumb zur Lebensaufgabe. „Weniger zu
       besitzen bedeutet für mich, Freiheit zu gewinnen.“ Diesen Gedanken und
       seine Selbsterfahrungen schreibt er auf und stellt sie online. In seinem
       Blog definiert er sich als Minimalist und schreibt, dass es besser sei,
       sich vor dem Kauf zu fragen, ob man den Gegenstand wirklich brauche oder ob
       man nicht schon alles Wichtige besitze.
       
       Diese scheinbar alten Überlegungen ziehen täglich bis zu 50.000 Besucher
       an. In einem Land, in dem jeder immer mehr haben kann, wird es zum
       faszinierenden Abenteuer, wenn einer weniger möchte. Die Faszinierten
       treffen sich seit einiger Zeit zum deutschlandweiten
       Minimalismus-Stammtisch. Mittlerweile informieren mehr als 80 deutsche
       Minimalismus-Blogger regelmäßig die Onlinegemeinde über ihren Lebensstil –
       Tendenz steigend. Manche von ihnen versuchen verzweifelt, nicht mehr als
       hundert Dinge zu besitzen. „Das schießt über das Ziel hinaus“ , sagt Klumb,
       der der Bekannteste unter den Minimalisten ist.
       
       Doch auch Klumb möchte noch mehr reduzieren, zuletzt seine Arbeitszeit von
       40 auf 35 Stunden. Er ist ein Sparfuchs – auch beim Geld. Besitz belastet
       ihn und ist teuer, darum gleicht sein Blog gelegentlich einer Anleitung zum
       Geldsparen. Weniger Kosten und weniger Stress, damit erreiche er mit seinem
       Blog eher die einfachen Leute als die Studenten in ihren hippen Vierteln
       mit ihren veganen Cafés, sagt Klumb. Er hält auch diesen Trend für
       verzichtbar.
       
       ## Ursache und Wirkung
       
       Der Berliner Upcycler Marius Hasenheit sieht das anders: „Es geht nicht
       darum, nichts mehr zu besitzen und den Konsum aus dem eigenen Leben zu
       verbannen.“ Die Diskussionen der Minimalisten sind für Hasenheit
       philosophisch interessant und politisch irrelevant, denn „ein Großteil der
       Menschen hat ganz andere Probleme“. Für Hasenheit geht es stattdessen
       darum, so schnell wie möglich, den Emissionsverbrauch in der Produktion zu
       reduzieren und nicht in erster Linie den eigenen Besitz. Das sei dafür gar
       nicht unbedingt nötig.
       
       Wenn Hasenheit argumentiert, gestikuliert er mit den Händen. Was er sagt,
       ist gut überlegt und folgt dem Kausalitätsprinzip: Ursache, Wirkung. Egal
       ob er die Weltwirtschaft oder die letzte Partynacht analysiert.
       
       Hasenheit ist kein Idealist um jeden Preis – das Kosten-Nutzen-Verhältnis
       muss stimmen, und dabei darf auch das Vergnügen nicht zu kurz kommen. Viele
       Menschen in seinem Umfeld sehen das ähnlich. Darum klingelt alle 15 Minuten
       sein Handy, und er trifft Verabredungen, um diesen Sonntagnachmittag ja
       nicht ungenutzt zu lassen. Bald lässt Marius Hasenheit die Regale in seiner
       Wohnung allein, geht beim Restaurant nebenan Lebensmittel vor der Mülltonne
       retten und trifft sich dann mit Skateboard und Drachen auf dem Tempelhofer
       Feld, es gibt immer zu tun.
       
       ## Die gleichen Propheten
       
       Der Regalbauer Hasenheit sucht nach neuen Wegen, die Dinge, die er braucht,
       zu be- und zu erschaffen. Das nimmt viel Zeit in Anspruch und kostet Kraft.
       Wie Klumb hat er sein Leben nach seinen Überzeugungen ausgerichtet.
       Minimalisten und Upcycler gehören beide zum Schwarm der
       Postwachstumsfreunde, die kürzlich eine taz-Wochenendausgabe eroberten.
       Obwohl die einen sich dem Materiellen zu- und die anderen sich von ihm
       abwenden, haben beide dieselben Propheten – Niko Paech und Harald Welzer,
       die den wissenschaftlichen Überbau liefern.
       
       „Wer bin ich, dass ich anderen Leuten vorschreiben kann, wie sie zu leben
       haben?“, sagt Minimalist Klumb, der auch auf einen politischen Anspruch
       lieber verzichten würde. Dabei ist das, was er macht, hochpolitisch. Er
       verweigert dem Kapitalismus seinen Nährboden: den Konsum.
       
       Doch auch mit den Minimalisten macht der Kapitalismus, was er am besten
       kann: er kommerzialisiert sie. Seit einiger Zeit bieten Minimalisten
       bezahlte Hilfe beim Entrümpeln an, Coaching heißt das dann.
       
       Die Kommerzialisierung machte auch vor Hasenheits Regal nicht halt. Der
       Tüftler begann, seine Regale im Internet zu verkaufen – allerdings ist das
       laut Gesetz nur mit Meisterbrief möglich. Also stellte Hasenheit den
       Verkauf wieder ein.
       
       Damit bleibt das Regal aus seinen Händen vorerst einmal im Neuköllner Kiez
       – und ethisch völlig unbedenklich.
       
       24 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Fabian Grieger
       
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