# taz.de -- Ukrainische Fabrik Juschmasch: Trolleybusse statt Raketen
       
       > Das einst größte sowjetische Rüstungswerk steht trotz des Krieges vor dem
       > Bankrott. Will es überleben, muss es auf zivile Produkte setzen.
       
 (IMG) Bild: Ukraines Präsident Petro Poroschenko beim Besuch in Juschmasch Ende 2014.
       
       Dnipropetrowsk taz | „Noch heute bekommen Amerikaner, die uns besuchen,
       eine Gänsehaut, wenn sie hören, in welcher Fabrik ich arbeite“, erzählt
       Jewgenij Derkatsch stolz. Derkatsch ist Ingenieur in der Raketenfabrik
       Juschmasch und ehrenamtlicher Sprecher der Gewerkschaft „Schutz der Arbeit“
       in der ostukrainischen Metropole Dnipropetrowsk. J
       
       uschmasch, 1944 unmittelbar nach dem Abzug der deutschen Truppen gegründet,
       sollte nach Fertigstellung eigentlich Autos produzieren. Doch mit dem
       Beginn des Kalten Krieges überdachte Stalin seine Pläne. 1951 ließ er die
       gesamte Fabrik umrüsten - und auf den Bau von Interkontinentalraketen
       spezialisieren.
       
       Jahrzehnte blieb Juschmasch das Zentrum der militärischen Raketentechnik –
       mit allen Konsequenzen. Dnipropetrowsk wurde zur geschlossenen Stadt
       erklärt. Fortan war Besuch nur noch mit Sondergenehmigung möglich.
       Juschmasch erhielt den Tarnnamen „Werk 586“. In Spitzenzeiten waren hier
       60.000 Arbeiter beschäftigt.
       
       Gemeinsam mit dem Dnipropetrowsker Konstruktionsbüro Juschnoe produzierte
       Juschmasch bis zum Ende der Sowjetunion Mittel- und Langstreckenraketen.
       Aus Dnipropetrowsk stammen die Interkontinentalraketen SS-7 und SS-18, die
       jeden Punkt der USA erreichen konnten. „Wie Würstchen aus dem Automaten“
       würden fortan die Raketen produziert, protzte Kremlchef Nikita
       Chruschtschow 1958 bei seinem Besuch in Dnipropetrowsk. Juschmasch war zur
       gefürchteten Marke geworden.
       
       „Wenn heute irgendwo auf der Welt eine Weltraumrakete startet, dann ist da
       immer auch ein Stück meiner Heimatstadt dabei“, hatte auch ein Taxifahrer
       am Hauptbahnhof von Dnipropewtrowsk geprahlt. Doch das einst so stolze Werk
       steht kurz vor dem Bankrott. „Seit über drei Monaten bekomme ich schon kein
       Gehalt. Und so wie mir geht es allen meinen Kollegen“, klagt
       Gewerkschaftssprecher Jewgenij Derkatsch. Derkatsch berät Kollegen, die von
       Kurzarbeit oder Entlassung bedroht sind.
       
       ## Auch der Gewerkschaft geht es schlecht
       
       Reich ist seine Gewerkschaft nicht. Alle Mitarbeiter arbeiten ehrenamtlich,
       das enge Büro in der Bahnhofstraße ist wahrlich keine Prestigeadresse: Von
       den Wänden bröckelt der Putz, an der Decke zeugen Wasserflecken von
       häufigen Rohrbrüchen, in dem dreistöckigen Bürogebäude fällt immer wieder
       der Strom aus.
       
       Der hochqualifizierte Ingenieur erhält knapp 200 Euro im Monat – wenn er
       ihn überhaupt bekommt. „Der März war ein schöner Monat“, sagt Derkatsch
       ironisch. „Da habe ich sieben Monatslöhne auf einmal bekommen –
       rückwirkend.“ In der ersten Jahreshälfte seien 70 Prozent der Belegschaft
       in unbezahltem Urlaub gewesen. Derzeit gebe es wieder etwas Arbeit. „Doch
       ab Oktober wurde uns wieder Kurzarbeit angekündigt. Wir sollen dann nur
       noch einen Tag die Woche arbeiten“, sagt Derkatsch.
       
       Die wirtschaftliche Lage beim einstigen Rüstungsriesen ist katastrophal.
       Stromschulden von über 10 Millionen Euro und nicht gezahltes Wasser bringen
       die Mitarbeiter des Werks zur Verzweiflung. „Ich rate niemandem, bei
       Juschmasch auf die Toilette zu gehen“, sagt Valentina, eine Mitarbeiterin.
       Wegen nicht gezahlter Rechnungen werde häufig das Wasser abgestellt. „Wer
       hätte denn vor Jahren gedacht, dass dieses Werk mal pleitegehen könnte?“,
       fragt die Frau.
       
       Das hätte sich auch Leonid Kutschma nicht träumen lassen. 1986 wurde der
       Ingenieur zum Generaldirektor ernannt. Er führte das Werk durch die
       Zeitenwende des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Dann ging er in die Politik
       und wurde 1994 Präsident der Ukraine. Den Abstieg seines Werks konnte er,
       der als Präsident tief in Korruption und Kriminalität verwickelt war, nicht
       aufhalten. Wo einst 600.000 Menschen gearbeitet haben, sind heute noch
       6.000 beschäftigt.
       
       ## Beratung über Rettungsmaßnahmen
       
       Trotzdem haben die Beschäftigten ihre Hoffnung nicht ganz aufgegeben. Es
       gibt Bemühungen, Juschmasch zu retten. Im Februar, so berichtet
       Gewerkschaftsaktivist Derkatsch, habe man sich in Kiew zusammengesetzt, um
       über Maßnahmen zu beratschlagen. Gemeinsam hätten Arbeitgeber, Arbeitnehmer
       und Regierung einen Fünfpunkteplan erarbeitet. Geeinigt hatte man sich
       unter anderem auf höhere staatliche Zahlungen, eine Erhöhung staatlicher
       Rüstungsaufträge und auf einen Zusammenschluss mit der Schwesterfirma
       Juschnoe. Lediglich der letzte Punkt, unkt Derkatsch, scheine umgesetzt zu
       werden.
       
       Die Gewerkschafter von „Schutz der Arbeit“ unterstützen die Zusammenlegung
       mit dem Konstruktionsbüro Juschnoe, wo 4.000 Mitarbeiter arbeiten. Dort
       schreibt man, im Unterschied zu Juschmasch, schwarze Zahlen. Doch in einer
       Frage gebe es einen Dissens mit Regierung und Arbeitgebern, erzählt
       Derkatsch. Diese wollten die neue Firma in eine staatseigene
       Aktiengesellschaft umwandeln. „Man versucht, uns die Aktiengesellschaft
       schmackhaft zu machen“, erzählt Derkatsch. Angeblich sei es für diese
       einfacher, Bankkredite zu erhalten. „An den Besitzverhältnissen, so sagt
       man uns, würde sich nichts ändern, schließlich werde ja der Staat hundert
       Prozent der Aktien besitzen.“
       
       ## Dissens mit der Regierung
       
       Doch die Gewerkschafter trauen der Sache nicht. „Ich kenne das Modell“,
       sagt Derkatsch. „Sind wir einmal eine Aktiengesellschaft, können wir
       Kredite aufnehmen. Und als Sicherheit bieten wir unseren Firmenbesitz. Und
       wenn wir die Kredite nicht zurückzahlen können, geht der Firmenbesitz in
       den Besitz der Bank über“, sagt er.
       
       Die wirtschaftlichen Probleme haben einen Grund. Juschmasch erhielt bisher
       80 Prozent seiner Aufträge aus Russland. Seit dem Krieg in der Ostukraine
       ist das vorbei. Kiew hat mit Moskau gebrochen. Wenn Juschmasch überleben
       will, muss sich das Werk nach anderen Kunden umsehen.
       
       Außer Satelliten und Raketenteile für die Weltraumindustrie produziert
       Juschmasch längst auch Windkraftanlagen, Straßenbahnen, Busse, Trolleybusse
       und Traktoren. Größter Kunde ist derzeit die brasilianische
       Weltraumindustrie. Die Weltraumrakete Zyklon 4 wird weitgehend in
       Dnipropetrowsk produziert. In diesem Jahr soll in Brasilien der erste Start
       erfolgen. Ein Hoffnungsschimmer.
       
       Doch bei der Werksleitung von Juschmasch unter dem Generaldirektor Sergeij
       Wojt ist man nicht sehr mitteilsam. Eine Interviewanfrage der taz zu den
       Perspektiven des Werks wird wegen „Terminschwierigkeiten“ abschlägig
       beschieden.
       
       ## Handelsverbot mit Russland
       
       Weitaus gesprächiger ist hingegen Oxana, die in der Verwaltung von
       Juschmasch arbeitet. Man frage sich ja immer wieder, warum Juschmasch kurz
       vor dem Bankrott stehe, schimpft sie. Das Konstruktionsbüro Juschnoe, das
       im Prinzip das Gleiche produziere, schreibe hingegen schwarze Zahlen, weiß
       Oxana. Ganz einfach, schiebt sie nach, ohne auf eine Antwort zu warten: Bei
       Juschmasch hält man sich an das Verbot, mit Russland Handel zu treiben.
       
       Beim Konstruktionsbüro hingegen ist man recht erfinderisch, dieses Verbot
       zu umgehen. Metall, das sie bisher aus Russland erhalten hatten, komme nun
       aus Zypern. Der Absender sei eine Offshore-Firma. Letztendlich sei man auch
       bei Juschmasch immer weniger gewillt, sich an den Sanktionen gegen Russland
       zu beteiligen.
       
       „Es ist schon fast auffallend, wie häufig meine Chefs auch in diesen Tagen
       immer noch nach Moskau reisen“, sagt Oxana. Die Angst, dass dabei auch
       Geheimnisse ausgeplaudert würden, sei jedoch unbegründet. Die Russen hätten
       schon immer alles gewusst, was sie wissen mussten, und in den neunziger
       Jahren habe man meistbietend und unter der Hand Knowhow an China und die
       USA weitergegeben.
       
       Will Juschmasch überleben, muss es mehr zivile Produkte anbieten. Nicht
       alle sind darüber begeistert. „Früher, zu Zeiten der Sowjetunion, haben wir
       Traktoren gebaut, um den Bau von Raketen zu verschleiern. Heute bauen wir
       Traktoren, weil wir für Raketen kaum noch Aufträge bekommen“, sagt
       Ingenieur Michail. Sehr viel Knowhow gehe verloren, wenn man nur noch
       Traktoren und Windräder baue. Resigniert fügt der Raketentechniker an:
       „Eines Tages sind wir vielleicht so weit, dass wir nur noch Pfannen und
       Kochtöpfe produzieren können.“
       
       So weit ist es noch lange nicht. Anfang September wurde bekannt, dass
       Juschmasch wieder einen neuen Auftrag an Land gezogen hat. Das Werk soll
       zehn Trolleybusse für Dnipropetrowsk bauen.
       
       26 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernhard Clasen
       
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