# taz.de -- Horrortrip als Comic: Sex ist der Auslöser
       
       > Wer traut schon den Erwachsenen? Comic-Autor Charles Burns vermengt
       > Geschichten von Punk über Burroughs und Hergés „Tim und Struppi“.
       
 (IMG) Bild: Schräges Erwachen – oder vielleicht doch alles ein Traum?
       
       In „Der geheimnisvolle Stern“, dem neunten Band aus Hergés Comic „Tim und
       Struppi“, verwischen Traum und Realität. Held Tim sieht sich konfrontiert
       mit geisterhaften Propheten der Apokalypse und bizarren rot-weißen Pilzen,
       die im Zeitraffer auf einem abgestürzten Kometen im Atlantik wachsen.
       
       Der gefeierte amerikanische Zeichner und Coming-of-Age-Autor Charles Burns
       bedient sich in seiner jüngsten Graphic Novel ausgiebig an Hergés Werk. In
       der Trilogie „X“, „Die Kolonie“ und „Zuckerschädel“, zwischen 2012 und 2015
       erschienen, ersetzt er die außerirdischen Pilze aus „Tim und Struppi“ durch
       rot-weiße Eier.
       
       Der Fund dieser allegorischen Eier durch Burns’ Antihelden Doug, der dem
       Vorbild Hergés auch zeichnerisch nachempfunden ist, bildet den Nukleus
       einer Geschichte, die Burns’ bisheriges Hauptwerk „Black Hole“ beträchtlich
       erweitert. Sie handelt vom Ende der Kindheit durch den moralischen
       Imperativ der Vaterschaft. Bereits in einem früheren Interview stellte der
       1955 geborene Burns fest, er „vertraue Erwachsenen nicht wirklich.“
       
       Burns’ Kunst entsteht seit jeher an der Kreuzung von Fiktion und
       Erinnerung. Dementsprechend greift er auch diesmal auf autobiografische
       Fragmente seiner Jugend zurück. Das Punkmilieu der Spätsiebziger dient ihm
       dabei als Handlungsrahmen. Wanderten beim grandiosen Teenager-Porträt
       „Black Hole“ noch diverse Protagonisten durch eine surreale Welt,
       fokussiert die „X“-Serie jetzt allerdings auf die albtraumhaft wirkende
       Realität eines einzelnen.
       
       ## Im Spiegellabyrinth
       
       Indes vereinen sich in der Figur des Doug gleich mehrere Erzählebenen. So
       ist er der bettlägerige Twentysomething, der im elterlichen Kellergeschoss
       mit Hilfe von Betäubungsmitteln sich vor einer unbegreiflich schrecklichen
       Wahrheit in schizophrene Zwischenräume flüchtet.
       
       Er ist aber auch Johnny, ein Arbeiter mit Erinnerungs- und
       Bewusstseinslücken in einer Science-Fiction-Wüstenwelt, in der Frauen als
       Bienenköniginnen zwangsrekrutiert werden. Und er ist der den
       Beat-Schriftsteller William S. Burroughs verehrende Möchtegernkünstler
       Nitnit – das Palindrom des französischen Namens des Hergé-Protagonisten
       Tintin (deutsch: Tim). Und er ist der um sechs Jahre gealterte Doug, der
       immer mehr zum Wiedergänger des verstorbenen Vaters wird und sich
       schließlich mit dem Verdrängten auseinandersetzen muss.
       
       Diese unterschiedlichen Ebenen verwebt Burns auf überaus intelligente
       Weise, indem er peu à peu Analogien innerhalb der Erzählung freilegt.
       Vergangenheit und Gegenwart werden unaufhörlich synchronisiert. Der kranke
       Vater Dougs etwa taucht plötzlich in der Wüstenstadt auf. Was hat es mit
       den bizarren Schweineföten auf sich, die sich in Dougs schizophrene
       Wahrnehmung einschleichen? Geschichte um Geschichte wird klarer, dass sich
       der (Anti-)Held in einem selbst geschaffenen Spiegellabyrinth befindet.
       
       Wachzustand, Schlaf, Wahn und Momente der Klarheit ergeben ein Puzzle mit
       der Frage: „Wovor flieht Doug, und was hat seine Freundin Sarah damit zu
       tun?“
       
       Zeichnerisch kombiniert Burns den schnörkellosen Hergé-Stil mit dem der
       nordamerikanischen Horrorcomics der 1950er. Die leeren schwarzen Bilder zu
       Beginn gleichen Dougs langsamem Augenöffnen, das auch ein Sich-Öffnen vor
       der Wahrheit zu sein scheint. Oftmals verzichtet Burns völlig auf
       Sprechblasen oder innere Monologe. Dann spricht allein die flächige
       Zeichnung, die geschickt zwischen Abstraktion und konkretem Detail
       wechselt.
       
       ## Popkulturelle Hinweise
       
       Wie bereits „Black Hole“ enthält die „X“-Trilogie zahlreiche popkulturelle
       Fingerzeige: auf William S. Burroughs, Patti Smith oder Lucas Samaras.
       Burns überträgt den Zeitgeist der früheren Punkära geschickt in die
       Gegenwart seiner Figuren. Hochsymbolisch auch die verschiedenen
       Querverweise, die der Autor in die Novelle einbaut, etwa auch zur Serie
       „Femme Maison“ der Bildhauerin Louise Bourgeois.
       
       Dessen ungeachtet verliert sich der Zeichner zu keinem Zeitpunkt in der
       Metaebene, weil er seinem Leitmotiv absolut treu bleibt. Man weiß
       schließlich um Burns’ ausgeprägte Neigung zum Thema Adoleszenz.
       Transformation und Selbstverwirklichung, Dazugehörigkeit und
       Ausgestoßensein, Verdrängung und Offenbarung sind die gegensätzlichen
       Pfeiler seines Repertoires.
       
       Sex ist in „Black Hole“ der Auslöser von merkwürdigen Mutationen unter
       Teenagern, Sex ist auch in der „X“-Reihe Auslöser von körperlichen
       Entfremdungserfahrungen.
       
       Gleichermaßen auf der Flucht wie auf der Suche nach Erkenntnis
       durchschreitet Burns’ Figur Doug die Tiefen seines Bewusstseins.
       
       Am Ende dieses Tals gelingt Burns eine der präzisesten kulturellen
       Darstellungen von männlicher Subjektivität und Verstrickung überhaupt. Weit
       über das Erwachsenen-Comicgenre Graphic Novel hinaus manifestiert sich „X“
       damit als Vision einer postmodernen Erzählkunst, die ihre Werkzeuge zur
       Charakterdarstellung auf bestechende Art einzusetzen weiß.-
       
       20 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Matthias Manthe
       
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