# taz.de -- Rhizom Von einem Hornveilchen der Sorte Supermarkt, das auszog, die Welt zu verändern. Erst schlug es Wurzeln, dann blühte es. Dann kam es, wie es kommen musste: Ach,wie schön
(IMG) Bild: Das Hornveilchen in der Steinritze an der innerstädtischen Verkehrsachse
Von Rosemarie Nünning
Am 17. September des Jahres 2014 wurde der Samen gesät. Er flog mit dem
Wind aus dem Tonblumentopf über die Balkonbrüstung, segelte über der
innerstädtischen Verkehrsachse, sank wirbelnd, erhielt einen kleinen
Luftstoß von Südwest, einen Puff vom Fahrtwind eines Lastwagens von Südost
und landete in einer Steinritze.
Der Samen war der eines Hornveilchens der Sorte Supermarkt. Auf großen
Paletten war es am Morgen des 2. Mai 2014 angeliefert worden, hatte vor dem
Eingang neben den ungeschlachten Knollen künftiger Hyazinthenblüten in
winzigen Plastiktöpfen, neben ein paar struppigen Erdbeerpflanzen und zwei
abgerissenen Hoodyjungs mit Hund mit weißgepunktetem rotem Halstuch, die um
„was Kleingeld“ baten, gestanden. Zwischen den noch schüchtern gesenkten
Knospen zeigte es wenige Blüten, gelb und violett, gelbviolett, ein wenig
Pastellfarbe, ein dunkler Strichbart unter dem hellen Tupfer in der Mitte.
Am Nachmittag wurde es ergriffen, weggetragen und am Fuße eines sperrigen
Oleanders neben den Steppensalbei in die Erde eines Tonblumentopfes auf
einem Balkon gepflanzt, der sich knapp unterhalb der Berliner Traufhöhe von
22 Metern und nach Süden ausgerichtet befand.
Am 3. Mai abends wurde es als reizendes kleines Stiefmütterchen
vorgestellt, was das Hornveilchen wegen der Vermenschlichung unangemessen
fand. Es hielt den Vergleich mit dem Kreuzungsbastard für die zivilisierten
Niederungen auch deshalb für nicht statthaft, weil es selbst von den
Felsenfluren der iberischen Höhen stammte.
Zwei Wochen später hatte es sich mit seinem Wurzelgeflecht in der Erde
verhakt. Lebenswillig und widerständig entfaltete es sich, öffnete seine
Knospen, erzeugte neue Blätter und Blüten im Schatten der hochragenden
violetten Scheinquirle des dunkel duftenden Steppensalbeis.
Aus dem Wurzelwerk trieb es Anfang Juli einen Spross, am 4. August öffnete
sich eine blauviolette Blüte mit schwarzem Strahlenkranz um den gelben
Mittelfleck.
Am 13. August wurde es Zeuge eines Gesprächs über Wurzelgeflechte, die
Herrschaft unterliefen, denn sie suchten, anders als der Baum, die
Verbreitung und Vernetzung und Verzweigung in der Fläche. Es fielen das
Wort Rhizom, das Wort Mannigfaltigkeit und das Wort Multitude und ein
Regentropfen.
Eine grüne Laubheuschrecke sprang am frühen Morgen des folgenden Tages über
den Blumentopf mit dem rot blühenden Oleander, dem grünledrigen
Steppensalbei und dem Hornveilchen, dessen Wurzelwerk einen weiteren Spross
hervorgebracht hatte.
Im September senkte sich ein Samen des Hornveilchens in die Ritze zwischen
den Pflastersteinen vor dem Torbogen des Hauses an der innerstädtischen
Verkehrsachse.
Das Hornveilchen in dem Tonblumentopf auf dem Balkon knapp unterhalb der
Berliner Traufhöhe wies im Frühherbst Verwilderung auf. Es war mehr dürr
als schlank in die Höhe geschossen, seine Blätter vergilbten, vertrockneten
und fielen, der Steppensalbei zerzauste. Ein, zwei der Auflösung ihres
Staats wegen heimatlos gewordene Wespenarbeiterinnen taumelten über dem
verdorrten Blütenstand des Oleanders und wurden von einem Mauersegler im
Flug weggefangen.
Am 14. Mai des Jahres 2015 öffnete das Hornveilchen in der Ritze zwischen
den granitenen Pflastersteinen vor dem Haus neben zwei schwarzrandigen
Zigarettenfiltern und einer halben Erdnussschale inmitten seiner
straßenstaubbedeckten Blätter eine gelbe Blüte mit dunkelbraunem lichtem
Strichbart. Zwei Hausbewohnerinnen traten vor die Tür, beugten sich über
das Hornveilchen und tauschten sich über das entzückende kleine
Stiefmütterchen aus. Bald darauf erblühte es auch in der Fuge zwei Steine
weiter.
Ein Hausmeister prüfte am 16. Juni das Aussehen des Gebäudes, fegte den
abblätternden weißen Putz auf dem Estrich unterhalb der von Feuchtigkeit
aufgequollenen Wände des Seitenflügels fort, zupfte in den Ritzen zwischen
den Pflastersteinen vor dem Torbogen des Hauses stehendes Unkraut und warf
es in die Tonne für den Biomüll.
Am 17. Juni schritten der Eigentümer des Hauses, zwei Bankangestellte und
ein möglicher Hauskäufer über die kahlen staubigen Fugen, über eine halbe
Erdnussschale und eine Glasscherbe und betraten das Haus.
15 Aug 2015
## AUTOREN
(DIR) Rosemarie Nünning
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