# taz.de -- Tief im Keller der Kreisklasse: Punkte oder Bier?
       
       > Wo Gegentreffer gar nicht mehr gezählt werden: Besuch beim MTV Wangersen
       > II, der wohl erfolglosesten Fußballmannschaft Deutschlands.
       
 (IMG) Bild: Oft einen Schritt zu spät: Die Spieler des MTV Wangersen II.
       
       Hamburg taz | Es ist Anfang Juni, die Sonne brennt, in drei Stunden wird in
       Berlin das Champions-League-Finale FC Barcelona gegen Juventus Turin
       angepfiffen. Ein paar hundert Kilometer nordwestlich trabt Stefan Eckhoff
       gemächlich aufs Spielfeld. Eckhoff ist 34 Jahre alt, Spieler beim [1][MTV
       Wangersen II], und die fünfte Kreisklasse Stade ist die unterste
       Spielklasse, tiefer gehts nicht.
       
       Seine Mitspieler nennen Eckhoff „Ferkel“, die Gründe sind kompliziert und
       Eckhoff hat kürzlich Autogrammkarten zum Spiel mitgebracht. Spaßeshalber.
       Eckhoff ist nämlich eine kleine Berühmtheit. Er war mit seinen Teamkollegen
       schon im NDR-"Sportclub“ zu sehen. Und alles wegen dieses Punktes.
       
       Die Meldung ging vor wenigen Wochen zwar nicht um die Welt, aber doch
       immerhin durch einige Sportredaktionen, es war eine eher ungewöhnliche
       Meldung, weil sie die besagte, oft vernachlässigte fünfte Kreisklasse Stade
       betraf: Der MTV Wangersen II, die vielleicht erfolgloseste
       Fußballmannschaft Deutschlands, hatte beim Ligakonkurrenten FC
       Wischhafen/Dornbusch IV ein verdientes 2:2 erzwungen. Wangersen hatte
       endlich wieder einen Punkt geholt - nach 56 Niederlagen und fast drei
       Jahren.
       
       Für so viel Misserfolg und Durchhaltewillen interessiert sich die Presse
       und weil sie nun also auch hier dabei ist, in Jork, etwa 20 Kilometer von
       Wangersen, beim letzten Spiel der Saison, hat Eckhoff sich ausnahmsweise
       zum Warmmachen entschlossen. „Das hab ich ja noch nie gesehen“, sagt ein
       Zuschauer, „dass er das gemacht hat.“
       
       Wangersen gehört zur Gemeinde Ahlerstedt, Kreis Stade, nördliches
       Niedersachsen, und das Torverhältnis des Teams wird nach diesem Spiel
       11:142 betragen. Macht im Schnitt sieben Gegentore pro Partie. Die höchste
       Saisonniederlage war 0:16, schmerzhaft, aber der Gegner hieß auch VSV
       Hedendorf/Neukloster und der ist in dieser Saison in der fünften
       Kreisklasse Stade sowas wie der FC Bayern in der Bundesliga.
       
       Den letzten Sieg hat Wangersen im Mai 2012 geholt - weil der Gegner nicht
       antrat. Die höchste Niederlage überhaupt, an die sich die Spieler erinnern
       können, war 0:21. Vielleicht auch 0:22. So genau weiß das keiner mehr.
       
       Eckhoff ist so ein Typ, der die Kreisliga bis in die Haarspitzen lebt. Er
       ist vielleicht nicht der athletischste Fußballer. Aber er hat die
       Gretchenfrage des Sports - Gewinnen oder Dabeisein? Punkte oder Bier? - für
       sich selbst längst entschieden: Wenn die ersten zwei Halbzeiten nicht
       laufen, muss es eben die dritte richten.
       
       Eckhoff findet, dass die Zeit vor und nach dem Spiel für das Elend
       dazwischen entschädigt. Sein Herz schlägt für den FC St. Pauli und seit 14
       Jahren hält er auch dem MTV Wangersen II die Treue: „Ich bleibe, bis mir
       jemand sagt, dass ich gehen soll.“
       
       Gut eine Stunde vor dem Spiel haben sie in Wangersen den üblichen Proviant
       ins Auto gepackt, eine Kiste Brötchen, ein paar Flaschen Wasser, ein paar
       Flaschen Cola, ein paar Kisten Bier, und sind zum Auswärtsspiel gestartet:
       Daniel, ein 19-jähriger Landwirt, dessen Job ihm nicht die Zeit fürs
       Training oder für einen erfolgreicheren Verein ließe; Torben, 23, der noch
       Ehrgeiz hat und in die erste Mannschaft kommen will; Ingo, 47, der zum
       Thema Niederlagen nur sanft lächelt und sagt, das alles sei eine Sache der
       Gewöhnung.
       
       Und dann ist da noch einer, der trotz allem stets lächelt: Gerald Heins,
       40, wäre Trainer des MTV Wangersen II, wenn der denn trainieren würde. Weil
       der MTV Wangersen II aber grundsätzlich nicht trainiert, ist Gerald Heins
       stattdessen - Betreuer.
       
       Heute bangt Heins. Er muss schauen, ob er überhaupt eine spielfähige Truppe
       zusammenkriegt: Wieder mal haben ihm Leute abgesagt, auf den letzten
       Drücker. Einer klagt über eine Nagelentzündung, ein anderer hat sich -
       angeblich - beim Helene-Fischer-Konzert verletzt. Der Gegner ist
       Tabellenfünfter, im Hinspiel ging man 1:9 unter.
       
       Heins fürchtet auch heute Schlimmes: „Das gibt wieder Haue.“ Ans Verlieren
       haben sie sich längst gewöhnt. Eigentlich. „Aber wenn es dann zweistellig
       wird“, sagt Eckhoff, „und noch so furchtbar viel Zeit auf der Uhr ist“ -
       das tut dann doch ein bisschen weh.
       
       Es ist 18 Uhr, als der Schiedsrichter das Spiel anpfeift - nahezu ohne
       Zuschauer. Schon vor der Partie ist es zu Diskussionen gekommen: Wer darf
       anfangs aussetzen, sie sind nun zu dreizehnt, aber die Sonne, die
       Kondition, es ist heiß, Eckhoff wird nicht müde, auf sein lädiertes Bein zu
       verweisen. Er bleibt erstmal draußen und steckt sich eine an.
       
       Nach fünf Minuten steht es 0:0, immer noch. „Am Anfang halten wir schon oft
       mit“, sagt Eckhoff. „Aber irgendwann geht uns die Puste aus.“ Schon nach
       wenigen Minuten will der erste raus, wechseln, Eckhoff wehrt sich - das
       Knie, die Schmerzen -, aber dann läuft er doch aufs Feld, wird später vom
       eigenen Mitspieler angeschossen, fällt um und bleibt ein paar Sekunden
       reglos liegen. Empört berappelt er sich: „Ich seh Sterne!“
       
       Alle paar Minuten wird nun gewechselt. Mal ist es die Puste, mal das Knie,
       mal die Achillessehne. Die draußen lamentieren, sie seien zu verletzt oder
       zu fertig, die drinnen kennen ihre Position nicht genau. „Links? Mitte?
       Irgendwo!“
       
       Heins taktische Aufstellung löst sich bald im Chaos auf. Was folgt, ist
       Kreisliga in ihrer reinsten Form. Mit dem 1:0 lässt sich der Gegner Zeit,
       zur Halbzeit weiß schon keiner mehr, ob nun fünf Gegentore gefallen sind
       oder doch sechs.
       
       Früher, erzählt Daniel, wurde auch vor dem Spiel und zur Halbzeit Bier
       getrunken. Aber dann sagte einer, das gehe so nicht, man könne doch nicht
       schon mit der Flasche in der Hand beim Gegner erscheinen. Jetzt trinken sie
       nur noch nach dem Spiel.
       
       Früher einmal war der MTV Wangersen II wohl tatsächlich im oberen
       Mittelfeld der Liga zu finden, zehn bis zwanzig Jahre muss das jetzt her
       sein. Was dann passiert ist, weiß niemand mehr genau. Wirklich schlimm
       findet es aber auch keiner.
       
       Nur ganz wenige Spieler kommen überhaupt aus Wangersen, die anderen aus
       anderen Dörfern, manche sogar aus Hamburg. Sie kommen, weil sie hier
       Freunde haben - und weil sie nicht trainieren müssen, um zu spielen. Sie
       wissen, dass sie als Spaßtruppe gelten, und nehmen es als Auszeichnung.
       Entscheidend ist neben dem Platz und die sportlichen Ziele haben sie
       angepasst: Einstellig wäre schön, ein Tor schießen vielleicht.
       
       Das Saisonziel: Vizeletzter werden. Irgendjemanden hinter sich lassen. „Das
       hat aber in den letzten drei Jahren nicht mehr so gut geklappt“, sagt
       Heins. Zum Unvermögen kam noch Pech: Ein Sieg wurde in der vergangenen
       Saison aberkannt, weil sich die gegnerische Mannschaft aufgelöst hat.
       
       Wie sich das also angefühlt hat, vor drei Wochen, der Punkt? Eckhoff muss
       nicht lange überlegen. „Ungewohnt“, sagt er. „Man weiß ja gar nicht, wie
       man sich da verhält.“ Außerdem sei der 2:2-Ausgleich schon in der 83.
       Minute gefallen, sieben Minuten, das ist manchmal eine Ewigkeit. Eckhoff
       ist ein Typ für große Vergleiche: „Das war wie das WM-Finale. Da musste man
       nach Götzes Tor auch noch so lange beten.“
       
       An diesem Tag passiert etwas Ungewohntes: Das Team bricht mit Abpfiff in
       kollektiven Jubel aus. „Erster!“ schreit einer, „Da ist das Ding!“ ein
       Zweiter, Bierduschen, blanke Bäuche, Glückseligkeit. Im Astra-Regen weiß
       wieder jeder, warum er sich das antut. 3:1 wird später am Abend der FC
       Barcelona gegen Turin gewinnen, 1:12 hat der MTV Wangersen II sein letztes
       Saisonspiel verloren.
       
       Aber auch er hat an diesem Tag einen Titel geholt: Den Fairness-Pokal der
       fünften Kreisklasse Stade. Keine andere Mannschaft hat in dieser Saison so
       wenige gelbe oder rote Karten kassiert. „Was vermutlich auch daran liegt“,
       sagt Heins, „dass wir meistens zu spät am Gegenspieler sind.“
       
       15 Jun 2015
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.mtv-wangersen.de/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Carina Braun
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Fußball
 (DIR) Niederlage
 (DIR) Frauen-Fußball-WM 2023
 (DIR) Gareth Bale
 (DIR) Frauenfußball
 (DIR) Frauenfußball
 (DIR) HSV
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Fußball-WM in Kanada: Geheimfavorit stolpert
       
       Nach Japan steht Brasilien als zweites Team im WM-Achtelfinale. Frankreich
       muss um den Einzug in die nächste Runde zittern.
       
 (DIR) Qualifikationsspiele zur Euro 2016: Bale stoppt Belgien
       
       Wales und Island haben beste Chancen auf die EM. Auch die Niederlande
       hoffen wieder. Im kroatischen Geisterspiel gab es einen Hakenkreuz-Vorfall.
       
 (DIR) Vorrunde Fußball-WM 2015: Japan durch, Schweden zittert
       
       Im Duell der Titelfavoriten trennen sich Schweden und die USA 0:0, die
       Skandinavierinnen bleiben damit sieglos. Einen Kantersieg feierte die
       Schweiz.
       
 (DIR) Bremer Frauenfußball wird erstklassig: Ein Stück von der Herrentorte
       
       Werder Bremens Frauen spielen in der nächsten Saison erstklassig. Ein Novum
       in der Vereinsgeschichte, das neue Anforderungen mit sich bringt.
       
 (DIR) Gerechtigkeit in der 1. Bundesliga: Hamburgs Gang nach Karlsruhe
       
       Nun muss Karlsruhe entscheiden, ob der Artikel 141a des Grundgesetzes
       aufzuheben ist: Ob der HSV also - endlich - absteigen sollte. Was gerecht
       wäre.