# taz.de -- Kitas im deutsch-französischen Vergleich: Keiner ist zu klein, Schüler zu sein
       
       > Französische Kitas sind Schulen für die Jüngsten, hier herrschen Ordnung
       > und Disziplin. Das deutsche System finden Franzosen chaotisch.
       
 (IMG) Bild: Deutsche Kitas lassen den Kindern mehr Freiheiten als französische
       
       ERLANGEN taz | „Hier sieht man Kinder allein in den Gängen rennen!“ Als die
       Pariserin Amélie Prunet-Foch nach Deutschland kam, war sie zunächst von der
       scheinbar völligen Freiheit der Kindergartenkinder schockiert. Die
       28-Jährige hatte in Frankreich als Lehrerin in mehren Écoles maternelles
       gearbeitet - so heißen die französischen Kindergärten.
       
       Prunet-Foch unterrichtet an einer Erlanger Grundschule zwei- und
       dreijährige Kinder aus frankofonen Familien in Nachmittagskursen. „Ich war
       sehr überrascht, dass teilweise die Mamas mit in den Kurs kommen. So etwas
       gäbe es in Frankreich überhaupt nicht“, erklärt sie. Bildung ist in
       Frankreich in erster Linie Aufgabe des Staates und nicht der Eltern. Das
       bedeutet: der Staat erzieht die Kinder zu Bürgern der Republik.
       
       Es ist also normal, dass Eltern ihre Kinder früh in die Hände von
       LehrerInnen geben. Eine Eingewöhnungszeit, wie in deutschen Kindergärten,
       gibt es nicht. In der Regel dürfen die Eltern auch nicht mit ins Gebäude,
       sie verabschieden sich von den Kinder am Zaun. Schließlich sollen die
       Kleinen sich gleich daran gewöhnen, ohne ihre Eltern in der École
       maternelle zu sein.
       
       Ganz schön streng, denken viele. Doch so strikt ist das System der Écoles
       maternelles gar nicht, wenn man es im historischen Kontext seines Landes
       sieht. In Sachen Frühförderung gilt es sogar als Vorbild.
       
       ## Bildung für alle!
       
       Anfang der 1880er Jahre, als das Schulwesen in Deutschland noch völlig
       zersplittert und Bildung den oberen Klassen vorbehalten war, setzte der
       damalige Ministerpräsident Jules Ferry in der dritten Republik die
       Forderungen der französischen Revolution auch im Bildungssystem um. Bildung
       sollte kein Privileg mehr, sondern für alle Pflicht sein; gratis und
       laizistisch. Ganz nach dem französischen Grundsatz der Égalité sollen
       Kinder so früh wie möglich die Chance haben, unabhängig von ihrem
       familiären Hintergrund Wissen zu erlangen.
       
       Im zentralistisch organisierten Frankreich werden die Lernziele auch heute
       noch im Erziehungsministerium in Paris festgelegt und sind für alle Schulen
       verbindlich. In der École maternelle, die dem Namen nach ja schon eine
       Schule ist, liegt der Schwerpunkt auf der sprachlichen Entwicklung. Die
       zwei- bis sechsjährigen Kinder sollen Buchstaben und erste Wörter lernen
       und widmen sich der französischen Literatur. Sie üben aber auch Zählen und
       Rechnen, Werken und Sport. Zudem sollen sie lernen, den ganzen Tag in der
       Schule zu sein und sich zu konzentrieren. Die Kinder müssen sich melden und
       werden von der Lehrerin, die sie meist siezen, aufgerufen. Auf die Toilette
       werden sie begleitet.
       
       „Wir durften nicht so viel miteinander reden“, erzählt die Französin Rachel
       Gillio, die beide Systeme gut kennt. Sie leitet seit mehr als elf Jahren
       das deutsch-französische Institut Erlangen. Sie habe aber auch sehr viele
       positive Erinnerung an ihre Zeit in der École maternelle. „Es wurden immer
       sehr viele Programmpunkte angeboten, auch Ausflüge mit anderen Kindern - da
       sind wir immer richtig aufgeblüht“, berichtet sie.
       
       ## Kein Einschulungsschock in Frankreich
       
       Die Bildungsziele von Kindergarten und Grundschule sind in Frankreich stark
       aufeinander abgestimmt. So erwerben schon die jüngsten Kinder die
       Kernkompetenzen, auf denen dann die Grundschule, die École primaire,
       aufbaut. „Da erleben die Kinder nicht so einen Einschulungsschock“, meint
       Gillio. „Die Einschulung ist in Deutschland, anders als in Frankreich, eine
       ganz große Sache. In der Grundschule kommt hier auf einmal der Druck, das
       ist so ein großer Schritt.“ Den Übergang empfinde sie als Französin schon
       ganz schön heftig.
       
       Ihre Kinder Marie (10) und Étienne (8) sind in Bayern aufgewachsen. „Am
       Anfang habe ich keinen Kitaplatz für sie bekommen, da wurde ich schon sehr
       stutzig“, erzählt sie. „Einen Kitaplatz zu bekommen, sollte
       selbstverständlich sein“, findet die 36-Jährige.
       
       In eine École maternelle können alle Kinder aufgenommen werden, sobald sie
       keine Windel mehr tragen. In Frankreich ist es üblich, dass die Eltern
       schnell wieder in den Beruf einsteigen. Die ganztägige und kostenlose
       Betreuung der Kleinen kommt ihnen sehr entgegen.
       
       Dennoch sieht Gillio auch eindeutige Stärken der deutschen Kindergärten:
       „Da geht es viel um Natur und die soziale Eingliederung, ist mein Eindruck.
       Es ist viel spielerischer und die Kinder lernen vor allem den Umgang mit
       anderen Kindern. Das finde ich auch wichtig und gut“, sagt Gillio.
       
       ## Gruppenaktivität schlägt freies Spiel
       
       In Frankreich sei der Tagesablauf so strukturiert, dass den Kindern kaum
       Freiheiten blieben, meint die Pariser Lehrerin Prunet-Foch. „Es gibt zwar
       Spielphasen, aber wenn wieder eine Gruppenaktivität ansteht und alle
       zusammengetrommelt werden, muss das Kind sein Spiel unterbrechen, auch wenn
       es gerade mittendrin ist“, beschreibt sie ihre Erfahrung. Die Kinder sollen
       lernen, dass nicht alles nach ihrem Willen geht. „Das finde ich manchmal
       schon etwas zu heftig.“ Ihr Fazit: das französische System sei das eine
       Extrem und das deutsche System das andere.
       
       Als Kindergärtnerin hat Prunet-Foch zusammen mit angehenden Lehrern für
       Grundschulen studiert. „Ich finde es gut, dass wir in Frankreich diese
       Ausbildung haben. Ich hätte mir sogar noch mehr Psychologie und spezielle
       Kurse zur Erziehung der Kleinen gewünscht, um sie so möglichst gut in ihrer
       Entwicklung fördern zu können“, so die Lehrerin.
       
       Aber setzt das frühe Lernen Kleinkinder nicht unter Druck? Nein, sagt die
       Deutsch-Französin Fabienne Becker-Stoll, Leiterin des Staatsinstituts für
       Frühpädagogik in München. „Kinder sind wissbegierig und können schon von
       klein auf lernen. Das belegen Studien aus der Entwicklungs- und
       Hirnbiologie“, erklärt sie. Die Initiative müsse aber vom Kind ausgehen.
       
       ## Stolz, früh schreiben zu lernen
       
       Selektionsdruck herrscht nach Ansicht der Deutsch-Französin eher im
       Bildungssystem diesseits des Rheins. „In Deutschland wird schon am Ende der
       Grundschule ausgesiebt. Dementsprechend ist der Nachhilfemarkt in
       Deutschland milliardenschwer“, so Becker-Stoll. Dagegen lernten die
       französischen Kinder nach fünf Jahren Grundschule auch in der
       weiterführenden Schule, dem Collège, alle zusammen.
       
       In ihrer eigenen Familie, die noch in Frankreich lebt, hat sie positive
       Beispiele erlebt. „Die Kleinen sind stolz, wenn sie schon früh das
       Schreiben lernen, und ich habe nicht das Gefühl, dass sie überfordert
       werden.“ Natürlich sei es wichtig, dass genügend Zeit für freies Spielen
       bleibe.
       
       Dennoch hält sie nichts davon, das französische System nach Deutschland zu
       importieren: „In Frankreich ist die Geburtenrate höher, und die Demografie
       ist anders.“ Der Kindergarten müsse vor allem anschlussfähig mit der
       nachfolgenden Grundschule sein. „Mischkonzepte könnten das durchaus
       leisten“, vermutet sie.
       
       ## Deutsch-französische Melange
       
       Ein solches Mischkonzept gibt es in Jena. Seit zehn Jahren existiert dort
       eine École maternelle, die zurzeit 25 Kinder besuchen. Der Name École
       maternelle ist bewusst gewählt: „In bilingualen Kindergärten werden die
       Kinder oft nur einmal wöchentlich in der Fremdsprache unterrichtet“,
       erklärt die Leiterin Susann Sebode. „Bei uns ist eine französische
       Muttersprachlerin von Montag bis Freitag in den Kernzeiten da, damit die
       Kinder dauerhaft von der Sprache umgeben sind und diese praktisch nebenbei
       aufnehmen.“ Durch dieses Konzept des Sprachbads, der sogenannten Immersion,
       lernten die Kinder viel leichter, meint sie. Die muttersprachliche
       Erzieherin spricht ausschließlich Französisch mit den Kindern. Auch ihre
       Mimik, Gestik und Körpersprache sollen den Kindern die französische Kultur
       vermitteln.
       
       Ein deutsches Paar, das in Belgien gelebt und gearbeitet hatte, gründete
       die Jenaer Einrichtung. Sie machten auch das Personal mit dem frankofonen
       Stil vertraut. „Wir haben französische Écoles maternelles besucht, um zu
       sehen, wie die Kollegen das machen. Das war schon befremdlich.
       Frontalunterricht vor den Kleinen wollen wir nicht, das wäre mit
       Zweijährigen gar nicht möglich“, erklärt Sebode. In der Jenaer École
       maternelle sollen die Kinder früh gefördert werden und zwei Sprachen
       lernen. Aber deutlich spielerischer als in Frankreich.
       
       29 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lea-Verena Meingast
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Frankreich
 (DIR) Kinder
 (DIR) Kitas
 (DIR) Erziehung
 (DIR) Erzieherinnen und Erzieher
 (DIR) Tarifkonflikt
 (DIR) Erzieherinnen und Erzieher
 (DIR) Warnstreik
 (DIR) Kinderbetreuung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kita-LeiterInnen unter Druck gesetzt: Gewerkschaft warnt vor Neiddebatte
       
       In Thüringen müssen Kita-Leiterinnen Beschwerdebriefe von Eltern an die
       Stadt beantworten und Gehaltstabellen aushängen. Die GEW protestiert.
       
 (DIR) Tarifkonflikt in der Kinderbetreuung: Unbefristeter Kitastreik möglich
       
       Nach dem Scheitern der Tarifverhandlungen beginnen die Gewerkschaften mit
       der Urabstimmung. Ab Ende kommender Woche könnten Kitas bestreikt werden.
       
 (DIR) Kommentar ErzieherInnenstreik: Gute Kitas kosten Geld
       
       Ohne eine Aufwertung der Kinderbetreuung dürfte es wohl auch nichts werden
       mit der dringend notwendigen Qualitätsoffensive in den Kitas.
       
 (DIR) Warnstreiks in Kitas: „Wickeln schreckt ab“
       
       Windeln wechseln, Gespräche führen und auf die Kinder aufpassen: Eine
       Erzieherin, ein Erzieher und eine Leiterin haben ihren Kita-Alltag
       protokolliert.
       
 (DIR) Kinder-Betreuung: Der Trend zur Doku-Kita
       
       Größere Einrichtungen, höhere Ansprüche: Der „Paritätische“ will seine
       Elternvereine professionalisieren.