# taz.de -- Projekt Espra: Das globale Bürgernetz
       
       > Programmierer aus London und Berlin wollen das Web neu erfinden: „Espra“
       > soll der Zivilgesellschaft helfen, mit Konzernen gleichzuziehen.
       
 (IMG) Bild: Soll die Software-Basis für das Espra-Projekt legen: Programmierprojekt 24weeks
       
       Seit zwei Jahren hält nun schon der Hype um das „soziale Internet“ mit all
       seinen Blogs, Online-Communities und Kampagnen-Plattformen an. Als
       Rückeroberung aus den Klauen der großen Online-Unternehmen ist es gar
       gefeiert worden. Doch bei aller Euphorie über die dabei entstandene
       Gegenöffentlichkeit bleibt ein blinder Fleck: Das große Rauschen des
       weltweiten Meinungsaustauschs hat keine wirklich produktive Vernetzung
       zivilgesellschaftlicher Gruppen hervorgebracht. Während transnationale
       Konzerne das Netz längst erfolgreich nutzen, um etwa ihre Produktionsketten
       zu globalisieren, sind netzvermittelte Dienstleistungen und
       Kollaborationen, die nicht ausschließlich der Logik von Markt und
       Wettbewerb folgen, bislang rar.
       
       Was fehlt, ist ein Webstandard, der es ermöglichen würde, „die kritische
       Masse der aufkommenden digitalen Weltzivilgesellschaft miteinander zu
       vernetzen, was heute im Rahmen einzelner Webseiten unmöglich ist“, wie es
       in einem Positionspapier des World Social Web Dialog heißt.
       
       Diese Lücke will nun ein Projekt aus dem Netzuntergrund in London und
       Berlin füllen: Espra – „eine parallele öffentliche Infrastruktur“, wie es
       sein Initiator, der Londoner Programmierer Tav, nennt. Die soll nicht
       weniger leisten, als das Web noch einmal neu zu erfinden. Mit Espra könnten
       sich in nicht allzu ferner Zukunft Individuen zu Projekten organisieren und
       ihr kollektives Wissen tatsächlich produktiv nutzbar machen. Espra soll
       digitale „weapons for mass construction“ für alle schaffen – vorbei am Big
       Business.
       
       Ein wesentliches Element darin sind „Trust Maps“, in die die Idee der
       Small-World-Theorie eingeflossen ist, nach der alle Menschen über eine
       Kette aus nicht mehr als sechs Kontaktpersonen miteinander verbunden werden
       können. Derzeit wird die Theorie vor allem in Online-Clubs wie Xing
       genutzt, um über Freunde von Freunden sein persönliches Netzwerk zu
       erweitern. Die Trust Maps sollen jedoch nicht neue Geschäftspartner
       erschließen. In ihnen sind persönliche Kontakte enthalten, die zu
       irgendeinem Sachverhalt eine gewisse Autorität mitbringen. Sucht etwa Peter
       nach Informationen zu Gebrauchtwagen, so werden die Kontakte seines
       Freundes Rudolph, die als Auto-Spezialisten in dessen Trust Map stehen,
       automatisch als vertrauenswürdige Quellen mit einbezogen. Anstatt
       Informationen auf undurchsichtigen Verbraucherportalen einzuholen, würde
       Espra ein riesiges Wissensnetz knüpfen, dessen Qualität automatisch für
       alle Nutzer nachvollziehbar wäre. Die Trust Maps würden dabei von der
       Infrastruktur ständig aktualisiert.
       
       Ein anderes Konzept trägt dem allgegenwärtigen Privacy-Problem Rechnung:
       Jeder Espra-Nutzer kann sich „Mesh Identities“ zulegen, also andere
       Identitäten mit je eigenen Trust Maps, die er für verschiedene Aktivitäten
       nutzt. Ein weiteres Ziel von Espra ist außerdem der „Ecology 1 Million
       Index“, in den die „Espians“ die Unternehmen stellen, die wirklich einen
       fairen Handel und eine nachhaltige Produktion praktizieren.
       
       Derartige Ideen – sowie die 21 weiteren, die das Projekt benennt – sind für
       sich genommen natürlich nicht unbedingt neu. Was die Espra-Idee so
       interessant macht, ist die Chuzpe, mit der ihre Protagonisten sie in einer
       einheitlichen Architektur verbinden wollen. Inspiriert ist die von so
       genannten P2P-Netzen wie Freenet oder BitTorrent, in denen Nutzer heute
       Dateien aller Art tauschen.
       
       Ihr technischer Kern ist ein eigenes Protokoll namens „Plexnet“, das all
       diese Espra-Dienste abwickelt. „Plexnet ersetzt das bisherige Netz nicht,
       sondern setzt als eigene Schicht auf ihm auf“, erläutert Tav. Dabei legen
       er und seine Mitstreiter – unter anderem aus der Berliner C-Base – Wert
       darauf, dass möglichst viel von dem, was in Espra entsteht, als Teil der
       Public Domain der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Der Code von Espra
       selbst wird folglich frei zugänglich, also Open-Source-Software, sein.
       
       Das könnte man natürlich als typische Nerd-Phantasien abtun. Aber anders
       als viele Netzprojekte wird das Espra-Kollektiv nicht von einem digitalen
       Spieltrieb bleicher Programmierer angetrieben. Die Motivation entspringt
       dem Bewusstsein dafür, dass das Internet ein Raum werden muss, der die
       sozialen Bedürfnisse „von unten“ anpackt.
       
       Es ist derselbe Geist, der das GNU-Projekt von Richard Stallman beflügelt
       hat, der Linux zu dem gemacht hat, was es heute ist, der Tim Berners-Lee
       das Web hat vorantreiben lassen. Mit dem Unterschied, dass es diesmal um
       die Bürgergesellschaft geht, die sich ebenfalls globalisieren muss, will
       sie dem Netz der Konzerne mehr entgegenhalten als nur eine andere Sicht der
       Dinge. Natürlich müssen einige glückliche Umstände zusammenkommen, um eine
       solch groß angelegte Idee Wirklichkeit werden zu lassen. Aber warum soll
       nur Technokraten die Maxime „Think big!“ vorbehalten sein?
       
       Espra könnte am Ende auch die Frage beantworten, wie sich die
       Bürgergesellschaft mit Hilfe des Internet über enge nationale Grenzen
       hinweg organisiert. Den transnationalen Konzernen könnte ein Gegenpart in
       Gestalt eines neuen, digital vermittelte Tribalismus entstehen: der
       „metanationals“. In denen würden sich Individuen aus verschiedenen Ländern
       zusammenfinden, um gemeinsam zu produzieren und zu informieren – ohne die
       Technologie bei einem herkömmlichen Webdienstleister gegen Bares oder
       aufdringlich platzierte Werbebanner zu beziehen. In dem öffentlichen
       Programmierprojekt „24weeks“ soll in den kommenden Monaten die
       Software-Basis für Espra gelegt werden.
       
       18 Jun 2007
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Niels Boeing
       
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