# taz.de -- Favela-Kunst: "Die informelle Stadt ist anders"
       
       > Ein Gespräch mit dem Stadtplaner Jorge Mario Jáuregui über seine Arbeit
       > in den Favelas von Rio de Janeiro und sein Documenta-Projekt "Urdimbres".
       
 (IMG) Bild: Favela-Realität in Rio de Janeiro. Jáuregui will mit seiner Arbeit einen Waffenstillstand zwischen Integrierten und Ausgeschlossenen erreichen.
       
       taz: Herr Jáuregui, Sie arbeiten in den Favelas von Rio. In Europa denkt
       man dabei zuerst an Gewalt, Drogen, Armut, ungesunde Wohnverhältnisse und
       ein uneingeschränktes Wachstum. Wie sehen Sie die Favelas?
       
       Jorge Mario Jáuregui: In der Favela herrscht ein sozialer Zustand des
       Ausschlusses. Sie ist ein Anzeichen dafür, dass in einer Gesellschaft etwas
       nicht in Ordnung ist. Die andere Seite, ein hohes Maß an Organisation in
       Verbindung mit einem hohen Umwandlungs- und Entwicklungspotenzial, wird in
       den Medien allerdings meist nicht gezeigt. Trotz der fatalen sozialen und
       ökonomischen Bedingungen herrscht ein hohes Maß an Solidarität und
       gesellschaftlichem Leben. Was der Mittelschicht verloren gegangen ist - die
       Solidarität und der nachbarschaftliche Zusammenhalt -, ist in den Favelas
       vollkommen üblich.
       
       Wie beschreiben Sie den Unterschied zwischen der formellen, also der
       geplanten und geordneten Stadt, wo die Mittelschichten leben, und der
       informellen Stadt, den Favelas? 
       
       In der formellen Stadt finden wir geordnete, gradlinige Straßenverläufe,
       prinzipiell schachbrettartig um Häuserblocks angeordnet. Die Struktur der
       informellen Stadt basiert auf etwas viel Zeitgenössischerem: einer Art
       Möbiusschleife, bei der durch eine Verdrehung die innere und die äußere
       Seite ineinander übergehen. Dies ist sehr wichtig, um heutzutage die neue
       Beziehung zwischen dem Staatlichen und dem Privaten, zwischen dem Inneren
       und dem Äußeren, dem Individuellen und dem Gemeinschaftlichen, dem Gebäude
       und der Stadt zu überdenken. Die Favela bietet hier auf zeitgenössische Art
       Elemente, um die Gegenwart auf eine kühnere und herausforderndere Weise zu
       betrachten, als dies in der traditionellen Stadt überhaupt möglich ist.
       
       Wie arbeiten Sie in den Favelas? Haben diese Viertel ihre eigenen Gesetze,
       die auch für Sie gelten? 
       
       Diese Gebiete sind immer abgegrenzter, mit eigenen Regeln und Gesetzen
       jenseits der allgemein gültigen; eine Folge der Gewalt, des Kampfes
       zwischen Polizei und Drogenhändlern und der Auseinandersetzungen
       untereinander. Man kann nicht einfach so in eine Favela hineinspazieren.
       Man muss einen Besuch ankündigen. Wenn wir ein Projekt planen, sprechen wir
       zunächst mit der Nachbarschaftsversammlung, deren Repräsentanten von allen
       Bewohnern der Favela als solche anerkannt sind und die deren Wünsche zum
       Ausdruck bringen. Im Dialog, begleitet von diesen Repräsentanten, ihre
       Wünsche aufnehmend und mit Fotos, Karten und Notizen dokumentierend, ziehen
       sich die Drogenhändler zurück, und es kommt zu keinen Konfrontationen. Der
       Passierschein für einen Architekten, um sich in einer Favela aufzuhalten,
       ist es, viele Zeichnungen und Pläne bei sich zu tragen.
       
       Welche Partizipationsmöglichkeiten bieten Sie den Bewohnern an? 
       
       Die Haltung der Moderne war es, mit ihrer eigenen Konzeption von Stadt, von
       Gebäuden und öffentlichem Raum, die man auf einen Ort anwandte, zu planen.
       Die Moderne zwang die Leute, an diesen Orten zu leben, ohne deren Meinung
       zu berücksichtigen. Nachdem wir diese Arbeitsweise kritisch analysiert
       haben, gehen wir vom genauen Gegenteil aus: Wir besuchen die Orte und
       befragen die Menschen. Darüber interpretieren wir die Nachfrage vor Ort und
       können sie vom architektonischen und urbanistischen Standpunkt aus in
       beständige formale und räumliche Strukturen umsetzen. Dabei geht es nicht
       ausschließlich darum, das zu tun, was der "Kunde" möchte. Man muss
       interpretieren, ob die Nachfrage angemessen und richtig ist. Und man muss
       sogar feststellen, ob die Wunschvorstellungen aus Sicht der Betroffenen
       nicht zu niedrig angesetzt sind. Daher beinhaltet ein Projekt für uns auch
       immer eine didaktische Dimension. Auch wir lernen genauso dabei.
       
       Für mich ist ein Projekt eine Waffe - eine Waffe, um einen Waffenstillstand
       im sozialen Krieg zwischen den Integrierten und den Ausgeschlossenen,
       zwischen den Armen und den Reichen, zwischen den Benachteiligten und den
       Bevorzugten zu erreichen. Das Projekt ist ein Instrument, das einen Dialog
       ermöglicht, eine Annäherung. Es erlaubt, dass man sich gemeinsam Gedanken
       machen kann, um die Situation zu verbessern, um einen Wandel des
       Bestehenden zu schaffen. Darum geht es. Und nicht darum, noch mehr Waffen
       zu beschaffen und den Krieg oder die Repression zu verschärfen.
       
       Kann man so für eine nachhaltige Entwicklung sorgen? 
       
       Die Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen, das Ausüben von Sportarten,
       in denen man Chancen hat, erfolgreich zu werden, um seine Situation zu
       verbessern, und die Schaffung sinnvoller Freizeitaktivitäten sind drei
       wichtige Faktoren, die eine nachhaltige Entwicklung fördern. Dazu muss die
       öffentliche Hand Grundstücke legalisieren oder kaufen, um dort sowohl
       Wohnraum als auch öffentliche Einrichtungen, die dem Zusammenleben
       förderlich sind, zu schaffen: Schulen, Kindergärten, einen
       Versammlungsraum, einen Sportplatz, eine Sporthalle, ein Kulturzentrum.
       Wenn man es richtig anstellt, entstehen so neue Orte der Zusammenkunft, die
       somit das gesellschaftliche und auch das wirtschaftliche Leben befördern.
       
       Es scheint, als unterscheide sich Ihre Arbeit fundamental von dem, was wir
       in der Universität lernen. 
       
       Der informelle Städtebau ist vollkommen anders. Hier muss man alles den
       Umständen anpassen und gleichzeitig neu konzeptualisieren, um bestimmte
       Leitlinien vorzugeben, an denen sich die Entwicklung der Dinge orientieren
       kann. Dabei muss aber ein großer Freiraum erhalten bleiben, damit möglichst
       viele der Probleme direkt vor Ort gelöst werden können. Probleme, die diese
       Menschen zu lösen wissen, für die sie aber finanzielle und technische
       Unterstützung brauchen, damit sie dabei erfolgreich sind. Im Rahmen des
       seit zehn Jahren laufenden Projekts "Favela-Barrio" sind wir imstande, erst
       einmal einen Entwurf von Stadt zu denken, um dann die konkreten Maßnahmen
       zu veranlassen, die im Einzelnen ergriffen werden.
       
       Sie haben an über 25 Urbanisierungsprojekten gearbeitet. Was ist aus Ihrer
       Sicht erreicht worden? 
       
       Wenn solch ein Projekt realisiert wird, bewirkt das einen grundlegenden
       Wandel hinsichtlich des Selbstwertgefühls der Favela-Bewohner. Diese
       Menschen fühlen sich von der Gesellschaft ausgeschlossen. Ihnen ist es
       peinlich, zu sagen, wo sie wohnen. Nachdem eine Urbanisierung durchgeführt
       wurde, sind sie nicht nur stolz auf ihren Wohnort, in dem nun sogar
       ästhetische Attribute, die sich auch auf das Wohlbefinden auswirken, eine
       Rolle spielen, sondern sie haben auch einen offiziellen Wohnsitz. Den
       können sie angeben, um in der formellen Stadt einen Kredit zu beantragen,
       der ihnen vormals, mangels Wohnsitz, versagt wurde. Die Favelas, in denen
       bereits gearbeitet wurde, werden als Referenzobjekte wahrgenommen, und die
       Menschen haben dies in eine politische Forderung umgesetzt. Alle Politiker,
       die sich heutzutage in Rio kandidieren, müssen verkünden, was sie in
       "Favela-Barrio" machen werden. Wenn nicht, gewinnen sie auch nicht die
       Wahlen.
       
       In welchem Zusammenhang steht Ihre Arbeit in den Favelas mit dem, was Sie
       in Kassel präsentieren? 
       
       Meine Botschaft besteht darin, das Motto der Moderne - insbesondere Mies
       van der Rohes "Weniger ist mehr" wieder aufzugreifen und es um den Aspekt
       der sozialen Verpflichtung zu aktualisieren. Die Reduktion auf die
       minimalsten Bestandteile (als eine Art intellektueller Hygiene) bleibt
       weiterhin gültig und wir können hinzufügen: "Weniger kann mehr sein. Immer
       noch." Nur sage ich: weniger Konsumismus und Unterdrückung, was ein Mehr an
       sozialer Investition und Toleranz ermöglichen würde. Das Thema, das ich in
       Kassel zur Diskussion stellen will, ist der ethische Aspekt. In unserer
       gegenwärtigen Zeit gibt es so viele unterversorgte Menschen, die immer noch
       verhungern und keine Wohnung haben.
       
       Wir können einzigartige, bewohnbare, relativ kleine Räumlichkeiten schaffen
       und durch Städtebau und Architektur erreichen, dass das Individuelle und
       das Gemeinschaftliche, der öffentliche Raum und die private Fläche auf
       bereichernde Art und Weise für das soziale Miteinander in einen
       Zusammenhang kommen. Denn in der Favela - und zunehmend auch in der
       formellen Stadt - gibt es von allem etwas, nur keinen öffentlichen Raum.
       
       Mein Objekt "Urdimbres" leite ich klar aus der "Lektüre" der Favela ab.
       Mein Referenzrahmen ist dabei das Leben in seinem minimalsten Ausdruck: die
       von Mittellosigkeit geprägte Favela, in welcher jedoch die Solidarität
       großgeschrieben wird. Wo geteilt wird, wo es sogar einen Sinn für Schönheit
       und Ästhetik gibt, was man an den Farben, den verwendeten Materialien, den
       Klängen, den Strukturen, den Formen und an vielem mehr erkennen kann.
       
       KLAUS SCHAAKE
       
       3 Jul 2007
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Urbanisierung: Die Mehrheit lebt in der Stadt
       
       Der Weltbevölkerungsbericht der UNO: Das Wachstum der Städte liegt weniger
       an der Landflucht, vielmehr an höheren Geburts- als Sterberaten