# taz.de -- Zum Ende des Kontinents: Der lange Weg an die Spitze
       
       > Einmal am äußersten Zipfel des Kontinents stehen – das gilt in Australien
       > als patriotische Pflicht. Die mühsame Fahrt ist ein Abenteuer für
       > Allrad-Enthusiasten und Naturfreunde.
       
 (IMG) Bild: Cape York: Flussüberquerung
       
       Geduld ist eine wichtige Tugend auf dem Weg zur Spitze - zur Spitze
       Australiens. Wem es an Geduld mangelt in Cape York, spielt buchstäblich mit
       dem Leben. Wie der Mann, der nicht auf Hilfe warten wollte, als auf dem
       Jardine River die Fähre stecken blieb. Nach Stunden ungeduldigen Wartens
       hatte er genug, sprang ins Wasser und schwamm in Richtung des auf einer
       Sandbank gestrandeten Autotransporters. Das Krokodil war schneller. Es
       schnappte sich den Mittvierziger und zog ihn in die Tiefe. Hätte er nur
       Geduld gehabt.
       
       Wie Bob. Der etwas über 60 Jahre alte ehemalige Wirt aus Melbourne hat vier
       Jahrzehnte lang gewartet, um sich den Wunsch zu erfüllen, an den
       nördlichsten Punkt des australischen Festlandes zu reisen. Fast wäre es zu
       spät gewesen: Erschöpft von vielen Jahren harter Arbeit im Keller und an
       der Theke, ist sein Körper schwach: Stützkorsett, Stabilisierungsbinden,
       Voltaren und Kampfersalbe. Vor allem seine Knie und Hüften machen ihm zu
       schaffen. Das Gehen schmerzt. Doch er will ihn sehen, den „Tip“, die
       „Spitze“, dort wo sich der Kontinent wie ein Zeigefinger in Richtung
       Papua-Neuguinea streckt. Nein, ein patriotisches Muss, wie für viele
       Australier, sei diese Reise für ihn nicht, sagt Bob; „oder vielleicht doch
       ein wenig“.
       
       Die Cape-York-Halbinsel im Norden des Bundesstaates Queensland ist auf dem
       australischen Kontinent eine der letzten Grenzen für Abenteuerlustige. Der
       Massentourismus hat die 795 Kilometer lange Strecke von Cairns an der
       australischen Ostküste bis zur Spitze des Kontinents noch nicht
       erschlossen. Das liegt in erster Linie an der Unwegsamkeit des Gebietes.
       Nicht nur ist die Straße - eher eine Piste - nur zu bestimmten Jahreszeiten
       befahrbar, sie ist technisch äußerst schwierig und anstrengend.
       Auswaschungen, tiefe, erst im letzten Moment sichtbare Gräben wechseln sich
       mit Sand ab. Dann wieder scharfe Felsen, dann Schotter, unstabil wie
       Glatteis. Flussdurchquerungen sind eine Herausforderung selbst für die
       erfahrensten Allradfahrer. Auf hunderten von Kilometern frisst sich
       „Bulldust“ - Pistenstaub so fein wie Talkumpuder - in jede Ritze von
       Maschine und Mensch. Kein Wunder, dass sich jedes Jahr nur ein paar tausend
       Fahrzeuge aufmachen, um die Strecke zu befahren.
       
       Nicht alle schaffen es. Die Pannenhilfe holt jedes Jahr hunderte von
       Autowracks aus dem Gebiet, „und immer mal wieder eine Leiche“, sagt Shawn
       Huddy. „Drei Menschen sterben im Durchschnitt pro Saison auf dieser
       Strecke. Die Ursache für Unfälle ist fast immer Selbstüberschätzung“. Der
       25-Jährige muss es wissen. Er fährt die Route zum „Tip“ zum x-ten Mal,
       kennt die Strecke wie den Rücken seiner Hand. Er ist Fahrer eines Cairnser
       Allradunternehmens. Und Koch. Und Mechaniker. Und Naturexperte. Und
       Samariter. Und Psychologe. „In diesem Job muss man alles machen“, sagt
       Shawn. „Weil sich jeder auf einen verlässt.“ Shawns Bus ist ein Oka, ein
       Allrad-Gefährt australischer Produktion. Die Fahrzeuge sind gebaut für ein
       Gebiet, das keine Gnade kennt mit Reisenden mit schlechter Ausrüstung oder
       ungenügender Vorbereitung. Die sieben Tage dauernde, geführte Reise in
       einem Allrad-Kleinreisebus ist die Alternative zur Selbstfahrerei nach Cape
       York. Sie erlaubt den Gästen, die Sorge um Öldruck, Kühlflüssigkeit,
       geplatzte Reifen und Proviant einem Experten zu überlassen und sich
       stattdessen der unglaublichen Vielfalt natürlicher Schönheiten zu widmen.
       Ohne kundige Führung würde man auch an vielem Sehenswerten vorbeifahren.
       
       Als der Oka die Touristenstadt Cairns hinter sich lässt, beginnt Shawn mit
       den Erklärungen. Umgeben ist die 150.000 Quadratkilometer große
       Cape-York-Halbinsel auf drei Seiten von Wasser: das Korallenmeer im Westen,
       die Torres-Straße im Norden und der Golf von Carpentaria im Osten.
       Geologisch dominiert die Great Dividing Range das Gebiet, jener Gebirgszug,
       der an der Spitze der Halbinsel beginnt und sich der Ostküste entlang über
       tausende Kilometer bis weit in den Süden des Kontinents zieht. Die
       Bergketten bildet eine natürliche Wetterscheide: Im Osten liegen die
       fruchtbaren und besiedelten Ebenen der Küstengebiete, im Westen das
       trockene, nur spärlich bewohnte Inland, das „Outback“. Von Cairns aus führt
       die Tour Richtung Norden über die kleinen Dörfer Lakeland und Laura in den
       Lakefield Nationalpark. Von dort geht es kurz in Richtung Westen, nach
       Musgrave, nur um sofort wieder nach rechts einzubiegen, Richtung Norden.
       Die kleinen Käffer Coen und Archer River sind nicht viel mehr als
       Tankstellen; ergänzt durch ein Pub, einen Laden für das Notwendigste, ein
       paar einfache Unterkünfte und ein öffentliches Telefon, das gelegentlich
       sogar funktioniert. Nur bei einem Abstecher nach Westen, zur
       Bauxitminenstadt Weipa, kommt man in den Kontakt mit der Zivilisation. Von
       Weipa geht es zurück auf die Hauptstrecke. Moreton, eine ehemalige
       Telegrafenstation aus dem Jahr 1887, ist nächster Zwischenhalt. Danach
       führt die Tour durch immer isoliertere Gegenden, über den Jardine River, in
       Richtung der Kleinstadt Bamaga an der Spitze der Halbinsel. Von dort ist es
       ein Halbtagesausflug zum „Tip“.
       
       Shawn biegt den Schwanenhals seines Mikrofons zurecht und erklärt: „Kaum
       eine Allradstrecke in Australien führt durch so viele verschiedenartige
       Landschaften.“ An der Ostküste gibt es tropischen Regenwald, viele
       palmengesäumte Strände mit dicken Mangrovensümpfen an den Mündungen der
       Flüsse. Koralleninseln säumen die fischreichen Gewässer. Im Inland wechseln
       sich offene Savanne mit dickem Eukalyptuswald ab, der sich vom Jardine
       River bis hoch zur Spitze zieht. Über 700 verschieden Arten von Eukalypten
       gibt es, viele davon in Cape York. Immer wieder wird die trockene
       Landschaft unterbrochen von kleinen Regenwäldern, Überbleibseln aus längst
       vergangenen Zeiten. Die Vielfalt der natürlichen Umgebung führt zu einer
       Vielfalt der Flora und Fauna, wie man sie sonst in kaum einer Region
       Australiens findet. Der Isolation des Gebietes ist es zu verdanken, dass
       viele dieser Tiere noch in großer Zahl vorkommen und somit von Besuchern
       ohne großen Aufwand beobachtet werden können. Vor allem für Vogelliebhaber
       ist Cape York ein absolutes Paradies. Allein im Lakefield-Nationalpark,
       einer Urlandschaft aus Savannen, Lagunen und kleinen Ständen von
       Eukalyptuswäldern, leben über 200 verschiedene Vogelarten. Der
       Iron-Range-Nationalpark ist ein Pilgerort für Ornithologen aus aller Welt.
       Dort kann man aus nächster Nähe fast alle der auf Cape York vorkommenden
       Vögel beobachten, darunter mehrere seltene Kakaduarten. Und dann ist da
       natürlich das Salzwasserkrokodil, ein gefährlicher Jäger, dem immer mal
       wieder auch Menschen zum Opfer fallen. Praktisch jedes Gewässer auf und um
       Cape York ist Lebensraum für die Urechsen. Wer trotz eindeutiger Warnungen
       schwimmen geht, dem kann im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr geholfen
       werden.
       
       Bob reist mit seiner Frau Dawn. Sie ist gut zehn Jahre jünger. Ebenfalls in
       Shawn Huddys Oka sitzen ein anderes, etwas sprödes australisches Ehepaar,
       ein stiller dänischer Börsenmakler mit einer hyperaktiven Ehefrau und zwei
       verwöhnten Teenagern sowie ein paar alleine reisende Frauen und Männer
       mittleren Alters. Bob ist eindeutig am schlechtesten zu Fuß. Trotzdem
       steigt er bei jedem Halt mit etwas Mühe, aber trotzdem schwungvoll aus dem
       Oka und hört Shawns Erklärungen zu. Es gibt Dutzende solcher Zwischenhalte
       auf der sieben Tage dauernden Reise, und jeder Hinweis des Naturexperten
       ist ein Augenöffner. Shawn ist, wie viele seiner Kumpel in Nordaustralien,
       ein Savannah Guide. Diese eingeschworene Gruppe von spezialisierten
       Reiseleitern im tropischen Norden des Kontinents hat es sich zur Aufgabe
       gemacht, Gästen mehr zu bieten als nur oberflächliche Informationen. Alle
       Savannah Guides haben ein aufwendiges Ausbildungsprogramm absolviert und
       werden immer wieder auf ihre Kenntnisse geprüft. Aber das Wissen hört nicht
       bei der Interpretation der Natur auf oder dem sicheren Fahren und dem
       korrekten Umgang mit Gästen. Savannah Guides müssen auch kochen können. Und
       das mitten in der Wildnis.
       
       Es ist Abend und Bob greift zum Bier. „Dem Herrgott sei gedankt für die
       Erfindung der Eiskiste“, sagt er. Jeden Abend im Camp genießt Bob sein
       kaltes „VB“, Victoria Bitter, sein Lieblingsbier. Übernachtet wird während
       der Tour auf verschiedenen Plätzen entlang der Strecke. Auf den meisten hat
       es Wasser und Duschen. Shawn führt jeden Abend ein striktes Regime: Während
       die Gäste ihre Zelte aufstellen, bereitet er sorgfältig die Küche vor. Dann
       sitzt die Gruppe gemeinsam um einen Aufklapptisch und schaut Shawn beim
       Kochen zu.
       
       „Was der Mann jeden Abend hinzaubert, ist wirklich bewundernswert“, sagt
       der spröde Australier. Seine Frau hilft dem Reiseleiter beim Schälen der
       Kartoffeln. Heute gibt es „Sheperds Pie“, ein sehr englisches Gericht aus
       Hackfleisch und Kartoffelbrei. Sämtliche Esswaren und die gesamte
       Ausrüstung führt Shawn in einem Anhänger mit. Jeder Handgriff sitzt. Gäste
       können bei der Zubereitung helfen, müssen aber nicht. Die Gruppendynamik
       lässt allerdings bald jene zu Außenseitern werden, die nicht Hand anlegen.
       Etwa die beiden Teenager: Nach dem dritten Abend wird ihnen
       unmissverständlich gesagt, dass auch sie abwaschen sollen. „In der Regel
       haben wir keine Probleme mit Gästen“, erklärt Shawn, „trotz des
       Zusammenseins rund um die Uhr.“ Allerdings kommt es schon mal vor, dass auf
       den Reisen Konflikte ausbrechen und Savannah Guides zu Eheberatern werden
       müssen.
       
       Wieder ist es Morgen, und die Fahrt durch die Unendlichkeit einer hunderte
       Millionen Jahre alten Urlandschaft geht weiter. Isolation bestimmt das
       Leben in Cape York. Durch den Monsunregen sind viele der wenigen hundert
       Menschen, die dauerhaft in diesem Gebiet leben, sieben Monate lang von der
       Umwelt abgeschnitten. Überschwemmungen gehören in dieser Zeit zum Alltag.
       Doch das Wasser bringt Leben. Nachdem sich die Flut zurückgezogen hat,
       blühen die Pflanzen in neuer Pracht und locken Tiere an. Für die
       Ureinwohner der Halbinsel war und ist diese Jahreszeit eine Zeit der Fülle
       und des Überflusses. Sie jagen Kängurus, Echsen, Vögel.
       
       Vor der Ankunft der Weißen vor gut 200 Jahren war Cape York Heimat einer
       großen Zahl von Aboriginal-Stämmen. Sie trieben regen Handel mit den
       ethnisch und kulturell anderen Bewohnern der Torres-Straße und
       Papua-Neuguinea. Vom australischen Festland sind es nur 150 Kilometer zum
       nördlichen Nachbarstaat. Die oberste der zu Australien gehörenden Inseln
       der Torres-Straße liegt näher bei Papua-Neuguinea als bei Australien. „Bei
       gutem Wetter können die Inselbewohner den Menschen am Strand von
       Papua-Neuguinea zuwinken“, erklärt Shawn.
       
       Wie an den meisten Orten in Australien kam es auch in Cape York zu blutigen
       Konflikten zwischen Ureinwohnern und den weißen Siedlern, die auf der Suche
       nach Weideland immer tiefer in die traditionellen Lebensgebiete der
       Aborigines drangen. Verschiedene Siedlungen waren wie Festungen gebaut, um
       sich gegen Angriffe von Aborigines verteidigen zu können. Am Ende aber
       siegten - wie überall im Land - Musketen und Gift gegen Speere und
       Bumerangs. Zwar geht es den Aborigines der Cape-Region in vielfacher
       Hinsicht besser als Ureinwohnern anderer Landesgebiete, da sie sich dank
       ein paar kompetenter und eloquenter Führungspersönlichkeiten wie dem
       Aboriginal-Anwalt Noel Pearson eine vergleichsweise starke Position in der
       australischen Politik schaffen konnten. Trotzdem leiden auch die Gemeinden
       in Cape York unter Problemen, die das Leben vieler australischer Aborigines
       bestimmen: Alkoholismus, Drogenmissbrauch, häusliche Gewalt,
       Arbeitslosigkeit, Jugendselbstmorde.
       
       Heute ist der Tag gekommen, auf den Bob so lange gewartet hat. Im Oka geht
       es zum Ausgangspunkt der knapp einstündigen Wanderung zum „Tip“. Die Spitze
       des australischen Festlandes liegt auf der Nordseite eines felsigen Hügels
       und ist nur zu Fuß zu erreichen. Die Luft ist klar, die Sicht bis zu den
       Inseln der Torres-Straße frei. Bob tut sich schwer, arbeitet sich den Weg
       hoch, gestützt von Dawn. „Es ist okay, es ist okay“, sagt er, als ihn die
       anderen der Gruppe überholen und Shawn sich nach dem Befinden erkundigt.
       
       Eine halbe Stunde später, und die Gruppe ist am Ziel. Ein Felsen markiert
       den Ort, wo das australische Festland endet. Beinahe endet. Das wirkliche
       Ende ist nämlich ein kleiner Ausläufer, ein anderer Felsen, ein paar Meter
       weiter im Wasser. Doch auf den wagt man sich besser nicht. Wie überall in
       den Gewässern um Cape York wimmelt es auch hier von Krokodilen. Als die
       Gruppe die australische Flagge hisst und sich fotografieren lässt, fehlt
       einer. Bob hat die letzten 200 Meter nicht geschafft. Er hat Dawn
       weitergeschickt, damit wenigstens sie den Höhepunkt der Reise erleben möge.
       Als die Gruppe zurückwandert, findet sie Bob alleine auf der Anhöhe
       sitzend. Er reibt sich die schmerzenden Knie, blickt über das Meer. „Es ist
       okay“, sagt er, „es ist okay.“ Das glitzernde Blau des Wassers spiegelt
       sich in seinen Augen. Er sei schließlich ein geduldiger Mensch. „Vielleicht
       schaffe ich es das nächste Mal.“
       
       5 Jan 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Urs Wälterlin
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Reiseland Australien
 (DIR) Aborigines
 (DIR) Australien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Debatte über Aborigines in Australien: Rassismus verkauft sich nicht
       
       Eine australische Tageszeitung vergrault mit einem Cartoon wichtige Leser
       und zahlende Kunden. Der Karikaturist sieht sich im Recht.
       
 (DIR) Mardi Gras in Sydney: „Beruhigt euch, es ist nur Liebe“
       
       Auch in Australien wird gleichgeschlechtliche Liebe längst offen
       zelebriert. Jetzt sollen Gesetze dieser Entwicklung Rechnung tragen.