# taz.de -- Zehn Jahre Frieden: Boomtown Belfast
       
       > Der Konflikt in Nordirland scheint befriedet. Nun versuchen beide
       > Parteien, ihre gewalttätige Vergangenheit für Touristen aufzubereiten.
       
 (IMG) Bild: Die Rex-Bar im Shankill-Gebiet
       
       Von der Terrasse des Restaurants Bá Mizu hoch über der Stadt sieht man die
       Symbole des neuen und des alten Belfast: im Vordergrund das Riesenrad, die
       Luxushotels und die Einkaufsmeile, am Horizont die beiden gelben Kruppkräne
       „Samson“ und „Goliath“ am östlichen Rand des Hafens, wo 1911 die „Titanic“
       vom Stapel lief. Die Kräne gehören Harland & Wolff, der einst größten Werft
       der Welt, die oft im Mittelpunkt des Nordirland-Konflikts stand.
       Antikatholische Pogrome hatte es schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf
       der Werft gegeben. Und am 21. Juli 1920, während des Unabhängigkeitskriegs,
       kam es in Belfast zu einer Massenversammlung protestantischer Arbeiter.
       Bewaffnet mit Knüppeln, prügelte man die katholischen Arbeiter hinaus,
       viele wurden einfach ins Wasser geworfen. Die letzten Katholiken sind 1974
       vertrieben worden, als die Werftarbeiter eine führende Rolle beim
       protestantischen Generalstreik spielten, durch den die Regionalregierung
       gestürzt wurde, weil ihr auch Katholiken angehörten.
       
       Diese Ära, so hofft man in Nordirland, hat man hinter sich gelassen. Vor
       zehn Jahren, am Karfreitag 1998, wurde das Belfaster Abkommen
       unterzeichnet. Danach kamen die ersten Investoren. Seit einem Jahr regiert
       eine Mehrparteienkoalition, geleitet von den früher verfeindeten Parteien
       Sinn Féin, dem politischen Flügel der Irisch-Republikanischen Armee (IRA),
       die vergeblich für ein vereintes Irland gekämpft hat, und der Democratic
       Unionist Party des Protestantenpfarrers Ian Paisley, die für den Verbleib
       Nordirlands im Vereinigten Königreich eintritt.
       
       Vom Friedensprozess beflügelt, erlebt Belfast einen Aufschwung, der die
       nordirische Hauptstadt in die Liste der „zehn aufstrebenden Städten der
       Welt“ des Reiseführers „Lonely Planet“ katapultiert hat. Im Zentrum sind
       Wohnhäuser, Hotels, Einkaufszentren und Bürogebäude entstanden, Straßen,
       Plätze und Altbauten wurden saniert, am Ufer des Lagan gibt es nun ein
       Konferenzzentrum und einen Vergnügungskomplex. 1994, als die IRA ihren
       Waffenstillstand verkündete, übernachteten 200.000 Menschen in Belfast,
       jetzt sind es über eine Million im Jahr. Die neueste Attraktion ist das 400
       Millionen Pfund teure Einkaufszentrum Victoria Square, zu dem das
       Restaurant Bá Mizu im Nobelkaufhaus House of Fraser gehört. Auf 75.000
       Quadratmetern sind 98 Läden angesiedelt, die Verkaufsfläche in der
       Innenstadt ist auf einen Schlag um ein Drittel gewachsen.
       
       Nur einen Steinwurf entfernt ist der nächste Bau der Superlative, die Royal
       Exchange mit 40.000 Quadratmetern Ladenfläche, bereits in der Planung. Das
       ambitionierteste Projekt ist jedoch das Titanic Quarter. Hier, auf dem
       früheren Grundstück von Harland & Wolff, soll ein Hightech-Park entstehen,
       in dem einmal 10.000 Menschen arbeiten werden. Forschung und Entwicklung,
       akademische Ausbildung, kombiniert mit Freizeitangeboten und Wohnraum - das
       sind die Schlagworte, mit denen man weitere Investoren anlocken möchte.
       Hotels, Restaurants, ein Open-Air-Theater und ein Besucherzentrum, in
       dessen Mittelpunkt die „Titanic“ stehen wird, sollen die Anlage auch für
       Touristen attraktiv machen. Denen wird ein elektronischer Führer an die
       Hand gegeben, der sie interaktiv zu den Stätten des einst blühenden
       Schiffbaus führt. Die imposante Eingangshalle des früheren Hauptquartiers
       von Harland & Wolff mit dem großen Zeichenbüro, wo die „Titanic“ entworfen
       wurde, das Trockendock mit Pumpenhaus, wo sie gebaut wurde, und die Rampe,
       wo sie vom Stapel lief, werden restauriert und in das Gesamtprojekt
       integriert.
       
       Noch ist weit und breit Brachland, doch vieles soll bis zum 31. Mai 2011
       fertig sein, denn das ist der 100. Jahrestag des Stapellaufs. Diesen Tag
       will man feiern, denn als die „Titanic“ Belfast verließ, war sie noch
       intakt, so betont man bei der Projektleitung. Der 14. April 1912, als das
       Schiff auf seiner Jungfernfahrt gegen einen Eisberg fuhr und 1.500 Menschen
       in den Tod riss, erinnert zu sehr an Untergang, und das passt nicht zum
       neuen Belfast, wo sich Optimismus breitgemacht hat. Dieser Optimismus ist
       auch an den ehemaligen Brennpunkten des Konflikts zu spüren. Nur wenige
       Schritte vom Zentrum entfernt sind katholische und protestantische Viertel
       wie ein Flickenteppich angeordnet. Wo sie aneinanderstoßen, kam es früher
       fast jede Nacht zu Krawallen, vor allem im Westen mit den Vierteln um die
       katholische Falls Road und die protestantische Shankill Road.
       
       „Während des Konflikts kamen vor allem die Polittouristen“, sagt Harry
       Connolly. „Aber mit dem Friedensprozess öffnen sich andere Märkte.“
       Connolly, ein großer Mann mit kurzen Haaren und dünnem Vollbart, ist gerade
       22 Jahre alt geworden. Seit Dezember arbeitet er als Koordinator für die
       Tourismusentwicklung der Gegend um die Falls Road. „Der Staat steckt viel
       Geld in die großen Projekte wie das Titanic Quarter“, sagt er. „Aber
       langsam beginnt man, auch die lokalen Initiativen zu fördern.“ Noch aber
       kommen die Touristen in ihren Bussen, schauen sich die Wandgemälde an und
       verschwinden wieder. Die lokale Wirtschaft profitiert nicht davon. Deshalb
       müsse man die Infrastruktur verbessern, sagt Connolly: „Es gibt bisher
       keine Übernachtungsmöglichkeiten. Demnächst sollen ein Hotel, eine
       Jugendherberge und ein Versöhnungszentrum mit Unterkünften entstehen.“
       Seine Organisation „Fáilte Feirste Thiar“ arrangiert Fortbildungskurse für
       expansionsfreudige Kleinunternehmen im Tourismussektor. Die „Black Taxis“
       zum Beispiel: Diese Linientaxis sind in den katholischen und
       protestantischen Vierteln, wo die öffentlichen Busse in der heißen Phase
       des Konflikts ihren Dienst eingestellt hatten, das alternative und
       billigere Verkehrsmittel. Viele bieten Touren zu den Schauplätzen des
       Konflikts an.
       
       Wer lieber zu Fuß geht, kann sich von ehemaligen IRA-Gefangenen durch das
       Viertel führen lassen. Der Spaziergang endet am Cupar Way, der Grenze zur
       protestantischen Shankill Road. Hier übernehmen frühere Gefangene
       loyalistischer Organisationen die Touristen, führen sie zu den
       Sehenswürdigkeiten ihres Viertels und bringen ihnen ihre Sichtweise des
       Konflikts nahe. Falls und Shankill sind am Cupar Way durch eine große Mauer
       getrennt, auf die ein hoher Zaun montiert ist. Diese „Friedenslinie“ gehört
       zu den Besucherattraktionen, sie ist mit Malereien verziert. Es ist aber
       keineswegs die einzige Mauer, die katholische und protestantische Viertel
       in Belfast trennt. 1994, zu Beginn des Waffenstillstands, gab es neun
       solcher Mauern, heute sind es mehr als 40. Und sie seien noch immer
       notwendig, finden die meisten Anwohner auf beiden Seiten. Als jemand im
       Stadtrat den Vorschlag machte, die Mauern abzureißen, gab es einen
       Aufschrei. „Zwar haben die Spannungen zwischen beiden Bevölkerungsgruppen
       nachgelassen“, meint Connolly, „aber hin und wieder fliegen Steine oder
       Flaschen. Die Leute fühlen sich mit den Mauern sicherer.“ Aber es wäre
       wünschenswert, dass es mehr gemeinsame Aktivitäten rund um die Mauern gäbe.
       
       Roz Small glaubt auch, dass die Mauern erst in ein, zwei Generationen
       abgerissen werden können. Die rundliche 37-Jährige arbeitet bei Shankill
       Partnership, dem protestantischen Äquivalent zu Harry Connollys
       Organisation. Beide Gruppen haben gemeinsam einen Stadtplan der beiden
       Viertel erarbeitet, auf dem die Sehenswürdigkeiten verzeichnet sind. Je
       nachdem, wie man ihn faltet, steht entweder „Shankill“ oder „Falls“ auf dem
       Titel. Die Lebensbedingungen und die sozialen Probleme haben sich in den
       beiden Vierteln schließlich nie sonderlich unterschieden, sagt Small. Aber
       nur ein einziges Mal haben die Menschen gemeinsam gekämpft. Das war im
       Oktober 1932, als die Arbeitslosigkeit dramatisch gestiegen war. Es kam es
       zu den sogenannten Hunger-Krawallen.
       
       Smalls recht chaotisches Büro liegt im Erdgeschoss des Spectrum Centre,
       einem 3.600 Quadratmeter großen Mehrzweckgebäude mit Konferenzräumen, einem
       Auditorium, einem Tonstudio, einem Restaurant und einem Animationsstudio.
       Das ist die neue Shankill Road. Gegenüber findet man ein Relikt aus Zeiten,
       die man überwinden möchte: Den „Ulster Souvenir Shop“ mit Porträts der
       Queen und des alten Protestantenführers Edward Carson sowie dem
       verwitterten Spruch am Giebel „Eine Insel - zwei Nationen“.
       
       Ein Stück die Straße herunter, neben dem Iceland-Supermarkt, wird auf einer
       anderen Giebelwand an die fünf IRA-Anschläge auf der Shankill Road
       erinnert, bei denen 25 Menschen starben. „Die Wandgemälde sind unsere
       wichtigste Attraktion“, sagt Small. „Der Reisejournalist Simon Calder hat
       sie zur bedeutendsten Sehenswürdigkeit im Vereinigten Königreich erklärt.“
       Der Staat hat drei Millionen Pfund zur Verfügung gestellt, damit die alten,
       blutrünstigen Bilder durch neue mit historischen oder kulturellen Motiven
       ersetzt werden. Der Großteil des Geldes geht an die protestantischen
       Viertel, denn auf katholischer Seite sind die meisten paramilitärischen
       Wandbilder schon vor Jahren verschwunden.
       
       „Die Wandgemälde und die Friedensmauern sind aber nur kurzfristige
       Attraktionen“, sagt Small. „Doch wir haben mehr zu bieten: Die
       Leinenindustrie, die beiden Weltkriege, die Frühgeschichte. Am Ende der
       Shankill liegt eine der frühesten Ansiedlungen Belfasts mit Forts aus der
       Bronzezeit.“ Auch Small klagt, wie Connolly, über die fehlende
       Infrastruktur. Am dringlichsten seien die Hinweistafeln, damit die
       Touristen auf den Stadtrundfahrten, bei denen man jederzeit aus dem Bus
       aussteigen und in den nächsten wieder einsteigen kann, wissen, wo sie sind
       und vielleicht ihre Fahrt auf der Shankill unterbrechen. „Sonst sitzen wir
       weiter in unserem Goldfischglas“, sagt Small, „und werden bestaunt von den
       durchreisenden Besuchern, denen bei den Gruselstorys aus Konfliktzeiten ein
       wohliger Schauer über den Rücken läuft.“
       
       22 Mar 2008
       
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 (DIR) Ralf Sotscheck
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