# taz.de -- Der schöne Schein des EU-Sozialberichts: Im Bildungswunderland
       
       > Der neueste "EU-Sozialbericht" hält das Bildungssystem in Deutschland für
       > gerecht und effizient. Stimmt leider nicht - denn die verwendeten Daten
       > sind unbrauchbar.
       
 (IMG) Bild: Ist das Pisa-Verlierer-Land Deutschland innerhalb weniger Jahre zum Vorzeigeland in Sachen Chancengleichheit geworden? Schön wäre es.
       
       BERLIN taz | Es war eine überraschende Nachricht. "Kinder aus niedrigen
       sozialen Schichten haben in Deutschland im EU-Vergleich die besten Chancen
       auf eine gute Schulbildung", meldete die Nachrichtenagentur AFP.
       "EU-Sozialbericht stellt die verbreitete Kritik am dreigliedrigen
       Schulsystem in Frage", verkündete die Nachrichtenagentur AP. Und
       Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) jubelte über die "größere
       Durchlässigkeit" im Schulsystem.
       
       Ist das Pisa-Verlierer-Land Deutschland innerhalb weniger Jahre zum
       Vorzeigeland in Sachen Chancengleichheit geworden? Schön wäre es. Stimmt
       aber leider nicht. Die EU-Statistik ist haltlos. Der Reihe nach.
       
       Im aktuellen Sozialbericht, den die Europäische Kommission am vergangenen
       Donnerstag präsentierte, liegt Deutschland in der Kategorie
       Bildungschanchen tatsächlich an erster Stelle unter 25 Ländern - noch vor
       Finnland, Großbritannien, Estland und Schweden. Deutsche Akademikerkinder
       hatten demnach zwar doppelt so hohe Chancen auf einen Hochschulabschluss
       wie Kinder nichtstudierter Eltern. Doch im EU-Durchschnitt liegt der Faktor
       bei 3,6, in Italien bei 7,7 und beim Schlusslicht Tschechien sogar bei 11.
       
       Das Ergebnis, das die EU-Kommission hier präsentiert, liegt jedoch quer zu
       allen empirischen Daten, die internationale Bildungsvergleiche in den
       vergangenen Monaten und Jahren ergeben haben. So landete etwa Deutschland
       bei der europaweiten und vom deutschen Bildungsministerium finanzierten
       "Eurostudent"-Erhebung in allen seit dem Jahr 2000 durchgeführten drei
       Erhebungen auf den hinteren Plätzen, was die Chancen von Arbeiterkindern
       auf ein Studium anbelangt, gemeinsam mit Österreich oder Portugal.
       
       In der aktuellen Sozialerhebung des Studentenwerks von 2007 drückt sich das
       in folgenden Zahlen aus: Von 100 Akademikerkindern studieren 83. Von 100
       Kindern aus Nichtakademikerfamilien studieren 23, aus Arbeiterhaushalten
       gar nur 13.
       
       Die Industrieländerorganisation OECD attestierte Deutschland in ihrem
       jüngsten Bericht vom April erst wieder "eine geringe Chancengleichheit im
       Bildungswesen", da in kaum einem anderen Land soziale Herkunft so stark
       über den Bildungserfolg entscheide wie in Deutschland.
       
       Wie also kommt die EU auf die Idee, Deutschland zum
       Chancengleichheitseuropameister zu küren? Ganz einfach: Sie verwendet
       Statistiken, die unter Experten als unbrauchbar gelten.
       
       Das erste Problem beginnt damit, dass für die Erhebung in allen
       europäischen Ländern Menschen im Alter von 25 bis 54 Jahren befragt wurden.
       Nur nicht in Deutschland, dort wurden Menschen im Alter von 35 bis 64
       Jahren befragt. Die Zahlen zu Deutschland könnten also höchstens etwas über
       die Bildungschancen der vor 1972 geborenen Menschen sagen.
       
       Doch auch das ist zweifelhaft. Das Problem ist die extreme statistische
       Verzerrung im sogenannten "EU-Silc"-Datensatz, der für die Befragung
       verwendet wurde. Es ist derselbe Datensatz, der für den aktuellen
       Armutsbericht der Bundesregierung verwendet wurde - und auch hier nach
       Ansicht von Sozialwissenschaftlern das Ausmaß der Armut stark
       unterschätzte.
       
       Der Statistikexperte Richard Hauser hat in einem Papier für das Deutsche
       Institut für Wirtschaftsforschung die Verzerrungen in den deutschen
       "EU-Silc"-Daten untersucht. Das Ergebnis: Gutgebildete sind über-, schlecht
       integrierte Migranten unterrepräsentiert. "Die Ergebnisse sind grob
       verzerrt", so Hauser. "In der Wirklichkeit steht Deutschland schlechter
       da."
       
       Schuld daran ist unter anderem: Deutschland ist das einzige Land, das für
       die europäische Erhebung keine Befragungen per Interview durchführt,
       sondern die Fragebögen per Post verschickt. Die nur auf Deutsch verfassten
       und komplexen Unterlagen führen laut Hauser "zu einer Untererfassung des
       unteren Bevölkerungssegments".
       
       Auf gut Deutsch bedeutet das: Die Umfrage taugt in dieser Form wohl nur für
       den Mülleimer. Aber auf keinen Fall für einen europaweiten
       Bildungsvergleich.
       
       27 May 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Wolf Schmitt
       
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