# taz.de -- Mythos Mafia: "Es herrschen Dritte-Welt-Zustände"
       
       > In Neapel identifizieren sich verelendete Jugendliche mit Mafia-Filmen -
       > und werden zu realen Mördern. Matteo Garrone über seinen Film "Gomorrha"
       
 (IMG) Bild: Das elende Leben der Camorra: Mordszene aus "Gomorrha".
       
       taz: Herr Garrone, haben Sie einen Lieblings-Mafiafilm? 
       
       Matteo Garrone: Natürlich mag ich Francis Ford Coppolas "Pate"-Trilogie,
       Howard Hawks "Scarface" oder die Mafiafilme von Martin Scorsese. Auch die
       Jugendlichen in Scampia bei Neapel, wo "Gomorrha" spielt, kennen diese
       Filme in- und auswendig. Die Paten auf der Leinwand sind ihre Vorbilder und
       ihre Helden. Ein Mafiaboss wollte sich sogar Al Pacinos Protzvilla aus
       Brian de Palmas "Scarface" nachbauen lassen. Man sieht die stillgelegte
       Baustelle mit der überdimensionalen Badewanne in einer Szene meines Films.
       
       Wie erklären Sie sich diese Macht des Kinos? Die Jugendlichen sehen doch
       tagtäglich vor der Haustür, was die Mafia anrichtet. 
       
       In den Gegenden rund um Neapel gerät man sehr leicht in das Räderwerk der
       Mafia, das Biografien schnell zerstören kann. In der Wirklichkeit gibt es
       eben nicht die schützende Hand des Dons und den vom Kino mythisierten
       Moralkodex der Mafia. Es geht ums knallharte Geschäft. Ich wollte gerade
       die Diskrepanz zwischen den Vorstellungen, die die Jugendlichen von sich
       haben, und ihrer Realität aufzeigen. Man hat das Gefühl, dass das Kino da
       eine Art Schutzraum ist. Aber nicht nur das Kino, auch die Hiphopkultur
       bietet solche Identifikationsmöglichkeiten. Das ist ein weltweites
       Phänomen. Ob nun in Neapel oder in den Favelas rund um Rio de Janeiro. Die
       coolen Gesten, die Sprache, die die Jugendlichen imitieren, lassen die
       schmutzige Wirklichkeit, in der sie leben, in einem anderen Licht
       erscheinen. Nehmen Sie den 15-jährigen Totò aus meinem Film. Es macht
       sicher keinen Spaß, in einer dreckigen Ecke den ganzen Tag Schmiere zu
       stehen. Deshalb stilisiert er sich zum Helden, trägt Goldkettchen und
       dieses Rapper-Tankshirt.
       
       In den Mafiafilmen wird in Saus und Braus gelebt. Totò dagegen holt sich
       das T-Shirt aus einem Billigladen. Bei Ihnen tragen die Bosse Shorts und
       Gummilatschen. Wo bleibt das Geld? 
       
       Das haben wir uns beim Drehen auch immer wieder gefragt. Wir haben an
       Originalschauplätzen gedreht und kaum ein Zeichen des Luxus gesehen. Die
       normalen Menschen und auch die Mafiabosse leben in sehr einfachen
       Verhältnissen. Man kennt die enormen Summen, die die Camorra jährlich mit
       ihren illegalen wie halblegalen Geschäften wie Müllentsorgung,
       Textilhandel, Prostitution oder Drogengeschäften verdient. Aber man weiß
       nicht, wohin es fließt. Wird es unter Matratzen gehortet oder geht es in
       neue Transaktionen? Gerade diese Undurchschaubarkeit macht die Camorra noch
       unberechenbarer. Man bekommt es tatsächlich mit einem ganz eigenen, in sich
       geschlossenen ökonomischen System zu tun.
       
       Ist es ein Staat im Staat? Die Polizei tritt in Ihrem Film ja nur in
       Erscheinung, um die Leichen abzuholen. Entspricht das der Realität? 
       
       Der Staat und seine Apparate sind so etwas wie Zaungäste in Scampia. Um
       ehrlich zu sein, kam ich mir beim Drehen manchmal wie im Dschungel vor.
       Manchmal gehen Beamte und Kriminelle wie wilde Tiere aufeinander los, doch
       meistens beobachten sie einander aus der Ferne. Letztlich hat der Staat
       dieses Territorium aufgegeben. Natürlich ist es auch ein ständiges Nehmen
       und Geben. Wir alle wissen, wie korrumpierbar der italienische Staat ist.
       
       Wie erklären Sie sich dann die Wiederwahl von Silvio Berlusconi, dem immer
       wieder Verwicklungen mit der Mafia nachgewiesen wurden? Gehört denn so viel
       Zivilcourage dazu, das Kreuzchen bei den Wahlen woanders hinzusetzen? 
       
       Ich persönlich glaube nicht mehr an eine politische Lösung von oben. In
       Neapel gibt es mit Rosa Russo Iervolino seit 2001 eine Bürgermeisterin aus
       dem Mitte-links-Bündnis LUlivo, die 2006 wiedergewählt wurde. Doch den
       Mangel an staatlichen Institutionen konnte sie auch noch nicht ausgleichen.
       Man muss bei den Bildungs- und Beschäftigungsproblemen ansetzen, sonst
       kommt man gegen das System der Camorra nicht an. Es mag banal klingen, doch
       man muss den Menschen Alternativen anbieten und wenigstens für eine
       rudimentäre Infrastruktur sorgen. Die Camorra wird doch immer stärker, weil
       rund um Neapel letztlich Dritte-Welt-Zustände herrschen.
       
       Die Stärke Ihres Films liegt darin, dass Sie sich in diesen Alltag
       hineinbegeben. 
       
       Ich wollte zeigen, wie sehr die Camorra die Lebenswirklichkeit der Bewohner
       in Scampia bestimmt. Die Menschen dort merken teilweise gar nicht mehr,
       dass sie Rädchen in einem System sind. Sie können sich auch kaum noch ein
       Leben außerhalb dieses Systems vorstellen. Diese eingeengte Perspektive
       wollte ich einnehmen. Die Leute in Scampia waren überraschend offen für
       unser Projekt. Als wir drehten, gab es immer 50 bis 60 Menschen hinter dem
       Monitor, die neugierig das Geschehen verfolgten und kommentierten. So bekam
       ich Unterstützung von den Leuten, die in und von diesem System leben.
       
       Sie verzichten auf Identifikationsfiguren, Ihr Film ist eher ein Teppich,
       in dem einzelne Handlungsstränge verknüpft sind. Warum diese Struktur? 
       
       Da wir schon so viel über Filme gesprochen haben. Als Referenz für
       "Gomorrha" würde ich Roberto Rossellinis Zweiter-Weltkrieg-Film "Paisà"
       nennen. Wie alle seine großen Werke erzählt er auch hier, ohne zu urteilen.
       In sechs Episoden folgt er Soldaten aus den verschiedenen Lagern.
       Rossellini kommentiert nicht, er stellt keine Thesen auf, er verzichtet auf
       moralische Urteile. Das war auch genau meine Absicht.
       
       Für jeden Handlungsstrang, für jede Figur benutzen Sie eine andere
       Ästhetik. Wie sind Sie vorgegangen? 
       
       Meine Figuren sind im System der Camorra ganz unterschiedlich involviert.
       Der kleine Totò ist erst ganz kurz dabei, seine Unsicherheit musste in den
       Bildern präsent sein. Deshalb arbeite ich in seinen Szene manchmal mit
       einer agilen Handkamera. Marco und Ciro, die sich keiner Bande anschließen
       wollen, müssen ständig auf der Hut sein. Von ihrer Angst vor Verfolgung
       erzähle ich mit Reißschwenks. Franco hingegen ist einer der Drahtzieher der
       Camorra, ein Verbrecher im feinen Anzug. Mit seiner Macht dominiert er das
       Bild. Aber meistens habe ich mit ruhigen, fast dokumentarischen
       Einstellungen gearbeitet. Etwa wenn ich die Fabriken zeigen, in denen meist
       illegale Einwanderer aus China im Akkord nähen müssen. Der Zuschauer sollte
       immer die Zeit bekommen, sich auf die Wirklichkeit solcher unwirtlichen
       Orte einzulassen.
       
       Der Autor des Bestsellers "Gomorrha", Roberto Saviano, der auch am Drehbuch
       mitarbeitete, steht seit seiner Buchveröffentlichung unter Personenschutz.
       Fürchten Sie die Camorra? 
       
       Nein. In meinem Film geht es schließlich nicht um die Aufdeckung von
       Tatsachen. Es werden keine Namen genannt, reale Personen zitiert. Aber, und
       das ist typisch für Italien, die Regierung in Neapel ist sauer auf mich.
       Und besonders das dortige Tourismusbüro. Sie finden, dass mein Film dem
       Vermarktungsimage von Neapel schadet. Ich muss mir Hasstiraden von Menschen
       anhören, die Neapel regieren. Das sind genau die Leute, die die Region in
       diese Situation gebracht haben. Es ist einfach ein absurdes Land.
       INTERVIEW: ANKE LEWEKE
       
       11 Sep 2008
       
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 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
       
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