# taz.de -- Debatte Pro Reli: Der Ethikunterricht ist unverzichtbar
       
       > Der Staat hat die Aufgabe, Schülern Dialogfähigkeit beizubringen, und
       > zwar gemeinsam mit Grundkenntnissen über die Verfassung. Nur der
       > Ethikunterricht kann das leisten.
       
       Am Montag beginnt die Initiative "Pro Reli" im Rahmen eines Berliner
       Volksbegehrens Unterschriften für einen regulären Religionsunterricht in
       der Hauptstadt zu sammeln. An Berlins Schulen will sie ihn künftig zum
       versetzungsrelevanten Wahlpflichtfach aufgewertet wissen.
       
       Bislang können katholische und protestantische Schüler einen je eigenen
       Religionsunterricht nur als zusätzliches Schulfach belegen. Das bisherige
       Pflichtfach Ethik dagegen soll, ginge es nach Pro Reli, zur Alternative
       degradiert werden für all jene, die nicht an einem konfessionellen
       Religionsunterricht teilnehmen wollen.
       
       Hinter dieser Debatte steht die Frage, welches Verhältnis Staat und Schule
       zur Religion haben sollen. Keine Frage - Religion ist vielen Menschen in
       Deutschland weiterhin wichtig. Auch können religiöse Institutionen ein
       Korrektiv zu staatlicher Macht und ungebremster Ökonomisierung der
       Lebensverhältnisse bilden, wie Robin Mishra kürzlich an dieser Stelle
       angemerkt hat (taz vom 12. 9. 08). Deshalb sollte der Staat die
       religiös-weltanschaulichen Interessen seiner BürgerInnen ernst nehmen und
       die Religionsgruppen - und andere Weltanschauungsgemeinschaften - fördern,
       soweit es die deutsche Verfassung erlaubt.
       
       Die Bundesrepublik tut das, und auch das Land Berlin bildet hier keine
       Ausnahme: Es stellt den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften die
       Klassenräume für ihren bekenntnisgebundenen Unterricht zur Verfügung und
       kommt für 90 Prozent der entstehenden Personalkosten auf. In Berlin machen
       davon gegenwärtig neben den Katholiken und Protestanten, Muslime,
       Buddhisten und Humanisten Gebrauch.
       
       Daran hat sich nichts geändert, seit im Jahr 2006 das neue Pflichtfach
       Ethik eingeführt wurde. Wenn seitdem weniger SchülerInnen den freiwilligen
       Religionsunterricht besuchen als zuvor, mag man das bedauerlich finden.
       Doch der Rückgang ist gemessen am Rückgang der Gesamtschülerzahl gering.
       Angesichts eines ohnehin sehr vollen Stundenplans ist der Verzicht auf
       weitere Schulstunden verständlich und stellt keine Diskriminierung dar.
       Denn der Staat ist nicht gehalten, auf die Vermittlung eigener
       Erziehungsziele zu verzichten, nur um den Kirchen optimale
       Unterrichtsbedingungen zu einzuräumen.
       
       Bislang hat neben Berlin nur Brandenburg einen staatlichen Ethikunterricht
       für alle SchülerInnen eingeführt. In fast allen anderen Bundesländern kann
       und muss der Ethikunterricht nur von solchen SchülerInnen besucht werden,
       die sich zuvor eigens vom Religionsunterricht abgemeldet haben. Das aber
       ist bedauerlich. Denn die zunehmend pluralistische Zusammensetzung unserer
       Republik verlangt de facto einen verbindlichen Ethikunterricht für alle -
       gerade auch in den stark von Einwanderung geprägten Bundesländern wie
       Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg.
       
       Die staatlichen Schulen haben die Aufgabe, die Fähigkeiten zu vermitteln,
       die für das Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft
       erforderlich sind. SchülerInnen müssen lernen, mit unterschiedlichen
       kulturellen und religiösen Prägungen umzugehen, Konflikte friedlich zu
       lösen und dem anderen gegenüber tolerant zu sein.
       
       Ein staatlicher Ethikunterricht, in dem sowohl die kommunikativen
       Fähigkeiten für den interkulturellen Dialog als auch das grundlegende
       Wissen über unsere Verfassungs- und Menschenrechte vermittelt werden, ist
       dafür ein gutes Mittel. Natürlich stehen den Schulen auch andere Wege
       offen: In bereits existierenden Fächern wie Deutsch, Geschichte oder
       Philosophie kann gleichfalls Toleranz gelehrt werden. Für einen
       Ethikunterricht spricht aber, dass es mit ihm an der Schule einen Ort gibt,
       an dem die Konflikte des interkulturellen Zusammenlebens explizit
       thematisiert werden können. Vergessen wir nicht: Es war der Mord an einer
       jungen Deutschtürkin im Februar 2005, der von einigen SchülerInnen der
       Stadt öffentlich gebilligt worden war, der das Berliner Abgeordnetenhaus
       dazu bewegte, einen Ethikunterricht einzuführen.
       
       Religionsunterricht kann einen solchen Ethikunterricht nicht ersetzen. Denn
       universelle Menschenrechte beanspruchen ja gerade unabhängig vom jeweiligen
       Bekenntnis Geltung. Und die Fähigkeit, allen Religionen und
       Weltanschauungen gleichermaßen mit Respekt zu begegnen, setzt ein zumindest
       grundsätzliches Wissen über diese Religionen und Weltanschauungen voraus.
       Auch ein Konfessionsloser sollte sich deshalb mit dem Christentum befassen
       und eine MuslimIn mit dem Judentum. LehrerInnen im bekenntnisgebundenen
       Religionsunterricht aber sind nicht verpflichtet, jede Religion
       gleichermaßen darzustellen. Ihnen steht es frei, nur eine bestimmte
       Religion zu vermitteln und zu propagieren. Mag sein, dass einzelne
       ReligionslehrerInnen das ganze religiös-weltanschauliche Spektrum
       ausgewogen behandeln. Doch eine Garantie dafür gibt es nicht. Dass in einem
       muslimischen Religionsunterricht das Judentum und die christliche Lehre wie
       der Islam behandelt werden, ist kaum zu erwarten. Ebenso wenig ist damit zu
       rechnen, dass in einem katholischen Religionsunterricht die Gleichstellung
       der Geschlechter en détail im Sinne des Grundgesetzes dargestellt wird.
       
       Wenn der konfessionelle Religionsunterricht ein ordentliches Lehrfach sein
       soll, steht es allen Religionsgemeinschaften offen, einen solchen
       anzubieten. Für Berlin würde das heißen, dass in manchen Bezirken die
       Mehrzahl der SchülerInnen statt des Ethik- einen Islamunterricht besuchen
       würde, sollte sich Pro Reli durchsetzen. Vom Christentum würden sie dann
       vermutlich gar nichts mehr erfahren.
       
       Der Staat aber ist gar nicht befugt, es allein den Religionsgemeinschaften
       zu überlassen, soziale Kompetenz und ethische Urteilsfähigkeit zu
       vermitteln. Dem steht die im Grundgesetz verankerte Trennung von Staat und
       Kirche entgegen. Nein, der Staat muss die Kompetenzen, die er für das
       demokratische Miteinander als notwendig erachtet, selbst an öffentlichen
       Schulen vermitteln. Werden SchülerInnen per Wahlpflichtfach vor die
       Entscheidung gestellt, entweder den Religions- oder den Ethikunterricht zu
       besuchen, dann ist das genauso falsch, als würde man "Politik" an der
       Schule entweder durch staatliche Lehrkräfte oder durch politische Parteien
       unterrichten lassen.
       
       Verfassungsrechtlich ist zudem umstritten, ob in Ländern wie Berlin und
       Brandenburg "Religion" überhaupt als ordentliches Lehrfach eingerichtet
       werden darf. Denn diese Bundesländer sind - ebenso wie Bremen - von dem
       Verfassungssatz ausgenommen, nach dem Religionsunterricht an öffentlichen
       Schulen ein ordentliches Lehrfach sein muss. Auch in den übrigen
       Bundesländern steht das konfessionelle Fach Religion als Teil des
       staatlichen Unterrichts zumindest im Spannungsverhältnis zur
       grundgesetzlichen Trennung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften.
       Andere Bundesländer sollten sich deshalb an Berlin ein Beispiel nehmen und
       nicht, wie Pro Reli das vorschwebt - umgekehrt.
       
       KIRSTEN WIESE
       
       22 Sep 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kirsten Wiese
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA