# taz.de -- Dorothea Ridders Arzthelferinnen erzählen: In der Gemeinschaftspraxis
       
       > Renate Günther und Barbara Eilenberger haben jahrelang gemeinsam mit der
       > Ärztin Dorothea Ridder in deren Praxis am Berliner Nollendorfplatz
       > gearbeitet - und erinnern sich.
       
 (IMG) Bild: Die Rezeption in der Praxis Dr. Ridder
       
       "Erinnern, das ist vielleicht die qualvollste Art des Vergessens. 
       
       Und vielleicht die freundlichste Art der Linderung dieser Qual." Erich
       Fried 
       
       Renate Günther, 1953 in Coburg geboren, arbeitete als Arzthelferin von 1982
       bis 1997 an der Seite der Ärztin Dorothea Ridder. Sie machte nach Dorotheas
       Schlaganfall eine Ausbildung als Heilpraktikerin u. Gestalttherapeutin,
       machte sich selbstständig und arbeitete im Berliner Zentrum für
       Frauentherapie "mandala". 
       
       Barbara Eilenberger, geb. Fischer, 1958 in Lörrach geboren, Arzthelferin,
       arbeitete ebenfalls lange Jahre mit Dorothea Ridder zusammen. Sie arbeitet
       seit 1997 in verschiedenen Praxen weiterhin als Arzthelferin, ist
       verheiratet und hat eine Tochter.
       
       Elisabeth und ich trafen die beiden Frauen an einem warmen, klaren
       Oktobertag 2007 in einem Gastgarten am Fehrbelliner Platz. Wir tranken im
       Schatten der Bäume trübe Apfelschorle, der Kies knirschte unter den
       Schritten der Gäste und der Jack-Russel-Terrier von Barbara langweilte sich
       oder verfolgte Wespen. Die Stimmung war heiter und entspannt. Nichts
       deutete darauf hin, dass Renate kurze Zeit nach diesem Treffen eine
       vollkommen aussichtslose Krebsdiagnose gestellt bekommen würde. Sie starb
       im Dezember 2007.
       
       R: Ach Dorothea … das finde ich gut, dass wir helfen sollen, ihre
       Gedächtnislücken wieder zu füllen. Sie ist sich darüber, glaube ich, sehr
       bewusst, dass sie die hat, weil sie eben auch merkt, in Alltagssituationen,
       was zehn Minuten vorher oder zehn Jahre vorher war, ist mal da und dann
       wieder weg. Da kommt natürlich eine große Traurigkeit bei ihr auf. Also ich
       kenne Dorothea nun seit 25 Jahren und gearbeitet bei ihr habe ich 15 Jahre.
       Es war mehr ein Miteinander als ein Bei-ihr-Arbeiten. Weil wir dann auch
       richtig Freundinnen wurden. Ich habe ja noch in ihrer ersten Praxis
       angefangen, und als sie dann zum Nollendorfplatz ist, bin ich natürlich
       mitgegangen. Und irgendwann kam unsere Freundin Barbara dazu. Das muss so
       um 85/87 gewesen sein. Ich habe mich über eine Annonce beworben. Renate und
       Dorothea saßen gemeinsam im Zimmer und ich wusste im ersten Augenblick
       nicht so richtig, wer ist jetzt wer. Und irgendwie waren beide
       einverstanden, ich habe dann auch angefangen und es hat sich wirklich eine
       tolle Freundschaft entwickelt, mit Dorothea, mit Renate und auch den
       anderen Kolleginnen, Iris, Kirsten. Wir sind alle heute noch befreundet und
       treffen uns ab und zu. Wir hatten ein gutes Betriebsklima. Absolut.
       Dorothea war der Typ Mensch, der nie den Chef raushängen lässt. Sie war
       unheimlich loyal uns gegenüber. Hat uns auch Freunden und Patienten
       gegenüber immer als Mitarbeiter vorgestellt. Normalerweise ist es ja nicht
       nur der Arzt, es sind auch die Patienten, die zum Teil die Arzthelferin
       nicht für voll nehmen. Das war bei uns wirklich anders. Wir haben uns alle
       geduzt und wir konnten alle sehr selbstständig arbeiten. Und Arbeit gabs
       genug! Ja, die Praxis war immer voll. Dazu kam aber, dass sich im Laufe der
       Zeit die Bedingungen geändert haben. Der ganze schriftliche Aufwand war
       viel, viel mehr geworden, das hat dann schon genervt, dieser ernorme
       bürokratische Aufwand, der den Ärzten abverlangt wurde. Das war nichts für
       Dorothea. Sie hat immer gesagt: Ich bin keine Unternehmerin, ich bin
       Ärztin. Das war sie tatsächlich, das war ihr Leben, wie sie sagt. Sie hat
       immer die Praxis an die erste Stelle gestellt. Das klingt jetzt, als wäre
       sie, na, ein Engel gewesen … Also wir hatten natürlich auch
       Meinungsverschiedenheiten, aber Dorothea war NIE nachtragend. Überhaupt
       nie!
       
       Ich kann mich einfach nur wiederholen, sie war großartig, als Mensch und
       auch als Ärztin. Da hatte sie auch nicht die üblichen Vorurteile der Ärzte
       gegen Alternativen zur Schulmedizin, sie war immer neugierig und hat
       dazugelernt. Sie hatte ja eine Zeit lang in Indien gelebt, da fing wohl
       alles an, dort hat sie Kurse gemacht, und wir hatten ja auch eine
       chinesische Ärztin mal in der Praxis, die auch mit Akupunktur gemacht hat
       und dergleichen. Dorothea war ganz normale Hausärztin und ansonsten
       querbeet. Sie hat Ultraschall gemacht und am Anfang auch noch
       gynäkologische Untersuchungen - bei Männern gern auch mal eine
       proktologische Untersuchung. Halt alles, was so in der Allgemeinmedizin
       anfällt. Labor hat sie auch geliebt.
       
       R: Was auch noch wichtig ist: unsere Methadongeschichte. Sie hat über Jahre
       Drogenabhängige mit Methadon versorgt, das Programm war ja damals ganz neu.
       Sie hat sich da sehr eingesetzt. R: Die Praxis war einfach anders, und das
       lag, glaube ich, daran, dass sie keine typische Ärztin war, also von der
       autoritären Art. Sie war einfach ein Mensch. Hat menschlich geguckt und
       behandelt, und die ganze Praxis so geleitet. B: Sie hat sich für die
       Patienten wirklich interessiert, nicht nur für die Krankheit. R: Und sie
       hat die Patienten nicht eingeschüchtert mit so "Halbgott in Weiß". Wir
       haben nicht mal Kittel getragen. Dorothea hat manchmal einen getragen. Wir
       waren einfach weiß angezogen, Hose und T-Shirt, fertig, also es war schon
       Arbeitskleidung, aber nicht so in steriler Art. Und Dorothea hatte nie
       Berührungsangst, ob das jetzt aidskranke Prostituierte waren oder Fixer. R:
       Das war das Schöne, dass Dorothea keine Vorurteile Leuten gegenüber hatte.
       Das hat sie gezeigt und einfach keine Unterschiede gemacht. Für sie war
       eine Prostituierte und ein Drogenabhängiger genauso ein Mensch und wichtig
       wie Herr Dr. Soundso oder ihr Anwalt. Das war unglaublich. Das war SIE, das
       war sie wirklich! R: Wir hatten ja sehr unterschiedliche Patienten,
       manchmal auch etwas krasse, aber Dorothea hatte nie Angst, das kannte sie
       nicht. Und wir hatten eigentlich auch keine, denn sie gab uns irgendwie
       Sicherheit. Es gab mal eine Situation, wo ein Patient in die Praxis
       reinkam, sehr aggressiv, er brauchte seine Beruhigungstabletten, die er nur
       bedingt bekam, wegen der Abhängigkeitsgefahr. Ich habe ihm gesagt, er soll
       sich setzen, es dauert eine Weile. Er wurde stinksauer, holte ne Knarre aus
       der Tasche, legte sie vor mich hin und sagte: Sofort kommen die raus, meine
       Tabletten! Ich war trotzdem ruhig in dem Moment, sagte, na gut, kleinen
       Moment. Und bin zu Dorothea rein, die grade einen Patienten behandelte. Ich
       habe ihr den Namen des Patienten und groß das Wort Knarre auf einen Zettel
       geschrieben. Sie hat sofort kapiert, kam raus und hat gleich total
       deeskaliert, so in ihrer eigenen liebenswürdigen Art, ist ja schon gut,
       komm mal rein … und die Sache war aufgelöst. Ja, das war einfach ihre Art.
       
       Und jetzt grade erinnere ich mich an eine andere schräge Geschichte: Und
       zwar war das ein sehr junger Mensch, er war etwas durchgeknallt. Der hatte
       sich ein bisschen in Dorothea verliebt, glaube ich, denn sie hatte diesen
       Patienten, der wahrscheinlich nur selten was Gutes erfahren hat, sehr gut
       behandelt. Der hatte ganz wenig Geld, war auch meist obdachlos, und der
       ging irgendwie in den Supermarkt runter und klaut da ein Suppenhuhn,
       tiefgefroren. Nach der Mittagspause kam er und legte uns dieses halb
       aufgetaute Huhn auf den Tresen: "Geschenk für die Frau Doktor!" Sie hat
       sich dann wirklich ganz höflich bedankt, obwohl sie das blutige Suppenhuhn
       eklig fand. Ja also, sie war immer so die Grande Dame auch. Stimmt. Es gab
       da zum Beispiel auch einen ganz reichen Patienten, den sie mal behandelt
       hatte damals, und der ist mit ihr ein paar Tage später im Rolls-Royce über
       den Kudamm gefahren. Also ich will nur sagen, sie konnte mit jedem. Und das
       lag zum Teil daran, dass sie die Leute auch mitgerissen hat, mit ihrer
       guten Stimmung. Sie war eigentlich immer gut gelaunt. Sie kam morgens
       fröhlich rein und hat sich auf ihre Arbeit gefreut. So war sie den ganzen
       Tag über. Sie war unglaublich charmant, hat auch gerne ein bisschen
       geflirtet mit den Patienten, mit Männern und Frauen. (Beide lachen.) 
       
       Sie war ein sehr körperbetonter Mensch. Und Dorothea hat früher viel
       gelacht, total viel, bis zu dem Moment, wo es dann etwas viel Stress gab in
       der Praxis. Ja, weil ein neuer Partner mit dazugekommen ist. Wir waren
       eigentlich von Anfang an nicht so richtig begeistert, weil wir schon
       wussten, dass es sich finanziell nicht rechnen wird, dass es nicht
       funktionieren kann, und dann wurde ja auch die Miete total erhöht, damals,
       als er reinkam als Partner.
       
       Hat dann auch nicht funktioniert. Also sie haben gemeinsam abgerechnet und
       haben eine gemeinsame Kasse gehabt. R: Sie haben quasi halbe-halbe gemacht,
       ja, wobei es dann aber so war, dass sie meist 80 % gearbeitet hat und er
       nur 20 %. Andererseits, stundenmäßig war er gar nicht mal so viel weniger
       da. Ich habe das anders in Erinnerung, ich glaube, Dorothea war einfach
       immer mehr da. Und sie hat generell mehr und dann vielleicht auch schneller
       gearbeitet, weil sie die Leute ja viel besser kannte als er. Wenn sie in
       Urlaub war, gingen die Patienten danach alle wieder zu ihr zurück, er
       konnte sie einfach nicht halten. R: Er sollte Dorothea ja eigentlich
       entlasten, das war ja der Grund, weshalb sie ihn reingenommen hat. Sie
       meinte, dass sie es nicht mehr so gut allein schafft. Und da gabs ja vorher
       diese blöde Geschichte, von der Sie sicher schon gehört haben, oder?
       Dorothea hatte freitags immer einen Vertretungsarzt, und es stellte sich
       heraus, das ist ein Schwein, er hat sie ganz doll betrogen, hat irgendwie
       Sachen gefälscht und wollte sie erpressen, wollte eine irrsinnig hohe
       Summe. Das hat sie dann der Kriminalpolizei übergeben und die haben den
       verhaftet. Danach meinte sie dann, es sei gut, wenn jemand fest mit dabei
       wäre, der mehr Entlastung bringt. Einen Tag frei, das brauchte sie auch.
       Die meisten Ärzte machen ja Mittwochnachmittag und Freitagnachmittag frei.
       Gut, und der, der kam, hatte vorher auch mal Vertretung gemacht, wir
       kannten ihn schon. Er war ja ein ganz Netter. R: Aber das spitzte sich im
       Laufe der Zeit dann doch sehr schnell zu, weil sie natürlich bald
       mitbekommen hat, dass sie auch nach der Einarbeitungszeit noch mehr
       arbeitet als er. Aber er hat das überhaupt nicht eingesehen. R: Sie hatte
       mit ihm natürlich Auseinandersetzungen, aber der war stur. Dann wollten sie
       sich trennen. Und es war ein paar Tage quasi vor Unterschriftsleistung,
       dass sie den Schlaganfall dann bekommen hat. Ich glaube, es wäre besser
       gewesen, wenn sie ihn nicht mit reingenommen hätte. Die Praxis hätte sich
       auch besser getragen. Sie hat sich ja auch vorher gut getragen.
       
       Also Dorothea war einfach keine Geschäftsfrau. Sie hat zwar nicht auf
       großem Fuß gelebt … Sie war ganz sparsam. Aber sie hat eine Menge Geld
       weggegeben, an Freunde und Bekannte verliehen, und zum Teil nie
       zurückgekriegt. Wir hatten einen ziemlich guten Überblick über die
       Finanzen, wir haben ja die Abrechnung gemacht. Stimmt schon, sie hat auch
       mal einen Patienten gratis behandelt, wenn der nicht versichert war und
       kein Geld hatte, das hat sie gemacht, aber das fiel ja alles nicht ins
       Gewicht. Nee, ich glaube, dass diese hohe Miete, die hatte sich ja
       plötzlich verdoppelt, ein Riesenpunkt war, aber weil Dorothea eben keine
       Wirtschafterin war, hat sie sich einfach nicht darum gekümmert. Sie hat
       sich um ihre Patienten gekümmert - und um seine letztlich auch. Sie hatte
       allein 1.300 bis 1.500 Patienten, im Sommer vielleicht 200 bis 300 weniger,
       aber immer 1.000 im Quartal. Ich meine sogar, dass wir zum Teil 1.800
       Scheine hatten. Also sie hat richtig lang gearbeitet. Sie saß manchmal bis
       neun, halb zehn in der Praxis, von morgens an! Mittagspause war auch oft
       keine. Oder es wurden ein paar Spaghetti unten geholt, die haben wir
       zusammen gegessen. Das hört sich jetzt schrecklich an, ja, aber wir haben
       das mitgetragen, weil wir sie gern hatten und unsere Arbeit gern hatten.
       Und wir mochten uns untereinander. Wir haben natürlich zusammengehalten.
       Klar! Das war ganz normal. Ich habe morgens um halb neun oder um neun
       angefangen. Wenn wir Blut entnommen haben, um acht. Dorothea kam so um halb
       zehn. Und abends ging es halt lang, weil es einfach voll war. Dorothea hat
       auch viel Hausbesuche gemacht, morgens, oder abends nach der Praxis.
       
       Was auch ganz wichtig war, dass damals die sogenannte Kostendämpfung die
       Situation vieler Ärzte und auch Psychologen sehr verschlechtert hat. Durch
       die Einführung dieser Budgetierung im Gesundheitswesen wurde plötzlich viel
       weniger angerechnet. Die Punktwerte sind total gesunken, also
       beispielsweise waren das pro Patient und Abrechnungsziffer 45 DM im
       Quartal, egal ob der Patient einmal oder zehnmal da war. Alles, was
       drüberlag, wurde quasi abgezogen. Und wenn die Bewertung dauernd
       runtergeht, wird weniger Geld bezahlt. Wir konnten das aber nicht
       ausgleichen durch mehr Patienten, das war einfach nicht zu schaffen und
       wäre auch für die Patienten schlecht gewesen. Sie hat ja zum Glück noch ein
       bisschen Gerätemedizin gehabt. Und das Labor, aber das hat sich dann auch
       nicht mehr gerechnet. Es wurde immer weniger Geld bezahlt, und alles andere
       wurde teurer. Und die Dorothea, die mit den Patienten immer gern und viel
       geredet hat, also das war dann auch nicht mehr vorgesehen im Budget. Wir
       haben uns gefragt, was ist denn das für ein Gesundheitswesen, wo der Arzt,
       wenn er gründlich und gut behandelt, zur Strafe die Unkosten selber tragen
       muss?! Genau. Und das alles hat dazu beigetragen, dass die Situation sich
       sehr verschlechtert hat, und den Stress hat sie dann nicht mehr bewältigen
       können. Ging nicht. Das letzte Jahr war besonders anstrengend. Auch
       zwischen den beiden. Wir haben ja auch zusammengesessen und darüber
       gesprochen, aber das hat überhaupt nichts gebracht. Nee, sie konnte sich
       gegen ihn einfach nicht durchsetzen, die Dorothea, das hat er nicht
       zugelassen.
       
       Manches geht im Alltag unter, aber wenn ich so zurückdenke, es gab schon
       Anzeichen bei Dorothea, sie hat sich verändert. Sie wurde ein bisschen
       schusselig. Sie hatte so eine Unkonzentriertheit am Schluss. Ich denke, es
       war gar nicht böse, nicht beabsichtigt, aber sie konnte teilweise eben
       nicht mehr zuhören. Und oft war sie kurz angebunden, aber ich denke mal,
       aus Unsicherheit, weil sie den Faden verloren hatte, nicht wusste im
       Moment, worum es geht. Ich habs als schusselig bezeichnet, besser gesagt,
       sie war fahrig. Ja, ja, und ich glaube, das waren schon die Vorboten einer
       schlechten Gehirndurchblutung, und der Stress hat sich gesteigert. Der
       Schlaganfall war dann ganz plötzlich gekommen, zum Wochenende, wie sie
       draußen war in ihrem Häuschen am Seddiner See. Ja, stimmt, die andere Sache
       war auch am Wochenende, das muss zwei Jahre davor gewesen sein, da hatte
       sie einen Magen-Darm-Verschluss und musste operiert werden. Hat sie da eine
       Reha gemacht? Nein, sie war überhaupt nicht lange weg, weil sie gleich
       wieder arbeiten wollte. Aber nach dem Schlaganfall, da hat es sich für uns
       relativ bald herauskristallisiert, dass es nun wohl nicht mehr geht.
       Dorothea selbst hat noch lange gehofft, dass sie wieder arbeiten kann. Sie
       wollte wenigstens noch irgendwas nebenbei machen, Akupunktur, aber es ging
       nicht. Sie musste das erst mal lernen, diese Geduld, und Schritt für
       Schritt selbst Patient zu sein … Und für uns war das natürlich auch ein
       großer Schock. Wir haben dann erst mal weitergearbeitet. Das war wieder das
       Gute, dass der Vertrag noch nicht gelöst war, denn nun musste der Partner
       ja für sie arbeiten und alle Verpflichtungen erfüllen. Es war vertraglich
       festgehalten, ich glaube, ein Jahr musste er für sie noch arbeiten. Und wie
       lange sind denn wir eigentlich noch …? Ich bin ziemlich bald raus, er hatte
       uns alle gefragt, ob wir bleiben wollen. Wir haben alle gesagt: NEIN! Nur
       Iris ist noch ne Weile geblieben - wir waren vier Arzthelferinnen, am Ende.
       
       Das war 1997, ich glaube im Juni. Ja. Ich habe vor fast zehn Jahren
       aufgehört. Dorothea war damals Mitte 50. Ich war ja von Anfang an dabei,
       und sie hat immer gesagt: Renate, wir werden zusammen alt! Und einmal, da
       hat sie mir ein ganz tolles Geschenk gemacht zum Geburtstag. Sie hat mir
       eine Reise nach Paris geschenkt, mich eingeladen, dann sind wir fünf Tage
       zusammen in Paris gewesen. Das war so toll, das war so schön! Das werde ich
       nie vergessen. Das war schon was Besonderes, ein schönes Geschenk. Ich war
       ja nicht so lange wie Renate dabei, wann bin ich denn … Moment … meine
       Tochter ist 1982 geboren, also bin ich so Mitte 85 dazugekommen. Genau.
       Also ich bin 15 Jahre ungefähr bei ihr gewesen, du zwölf. Das ist ja
       ziemlich lang im Leben. Das heißt schon was! Und 97 war es dann eben zu
       Ende. Ihr Partner hat ja die Praxis erst mal weitergeführt, er ist
       dringeblieben und hat noch jemand mit reingenommen. Aber die haben dann
       beide auch aufgegeben. Sie sind woanders hin. Er arbeitet jetzt, glaube
       ich, in England. Viele Patienten von Dorothea waren eben mit der Zeit
       weggeblieben - nicht nur die Prominenz. (Beide lachen.) 
       
       Wir fragen nach Udo Lindenberg. R: Der war auch da. Am Abend, als wir schon
       weg waren (lachen), er wollte nicht gesehen werden. Aber sie waren nicht
       alle so scheu. Also Erich Fried zum Beispiel gar nicht, er hat mit uns ganz
       normal geredet. Na ja, der war ja auch ein guter Freund von Dorothea. Also
       an Erich kann ich mich gut erinnern, er war ein ganz außergewöhnlicher
       Mensch. Ich habe ja seine Gedichte schon immer geliebt und habe es sehr
       genossen, ihn kennenzulernen. Ich habe auch ein spezielles Gedichtebuch,
       von ihm unterzeichnet, von ihm geschenkt bekommen. Hat mich sehr gefreut.
       Also er ist, immer wenn er in Berlin war, da gewesen. R: Und er hat ja auch
       ganz oft bei ihr gewohnt. Er hatte seine Krebsbehandlung zwar in England
       und alles, aber sie hat sich da sehr reingehängt, ihm menschlich und
       medizinisch zu helfen. Hat allerhand versucht, aber letztlich ist er dann
       doch daran gestorben. Das muss so ihm Herbst 1988 gewesen sein? Ich weiß
       noch, wie wir alle traurig waren darüber.
       
       Also Dorothea hat immer sehr viel probiert. Und sie hatte, das ist wirklich
       so, ein inneres Gefühl dafür, wenn jemand wirklich ernsthaft krank war. Und
       dadurch ist einiges auch entdeckt worden, durch dieses Feine … durch ihre
       Antennen. Dann hat sie gleich Maßnahmen getroffen oder entsprechend die
       Leute weitergeschickt zum MRT, zum Spezialisten oder was auch immer. Und
       sie hatte sehr ungewöhnliche Ideen, wie sie ihren Patienten helfen kann.
       Also Behandlungsideen, oder auch Vorschläge. Ich erinnere mich an eine
       Frau, die hatte irgendwie auch ein schweres psychisches Problem. Sie konnte
       nicht so gut mit anderen Menschen umgehen und wollte das auch nicht, sie
       hatte mit der Arbeit Probleme und mit allem. Und da hat Dorothea die Idee
       gehabt, sie soll doch einfach in der Pathologie arbeiten. Ich hab damals
       nur geschluckt, als ich das gehört habe. Aber später habe ich die Frau
       wiedergesehen, sie hatte sich tatsächlich beworben und hatte einen Job in
       der Pathologie. Ich habe gesehen, wie es ihr gut geht, wie sie ihr Leben
       auf die Reihe gekriegt hat, und dachte mir, Mensch! Das war ein dolles Ding
       von Dorothea! Ich kann mich an die Geschichte gar nicht erinnern. Also das
       fand ich faszinierend. Und mutig auch (lacht). Man muss erst mal auf so
       eine Idee kommen! Das war wieder diese feine Antenne, die sie da hat. Die
       Patienten haben das gespürt. Sie hatte ganz langjährige Patienten, die aus
       der alten Praxis gefolgt sind, und zum Teil lange Wege machten, durch die
       ganze Stadt bis zum Nollendorfplatz. Man kann sagen: Dorothea ist von Jung
       und Alt geliebt worden. Ja. Von meiner Tochter auch, sie war viel da. Ich
       war damals alleinerziehend und hatte anfangs keinen Kindergartenplatz. Und
       da habe ich meine Tochter mitgebracht, sie hat im Wartezimmer gespielt und
       die Patienten unterhalten. Das war echt toll. Weil sonst hätte ich gar
       nicht gewusst, teilweise, wie ich das bewerkstelligen soll. Solche Sachen
       haben Dorothea eben auch ausgezeichnet, dass sie diese große Toleranz
       hatte. Ich habe mich bei der Bewerbung auch vorgestellt als
       Alleinerziehende, obwohl man meistens dann ja doch eine Ablehnung bekommt:
       Danke, das wars! Und Dorothea hat gesagt, wir probieren es einfach. Und sie
       fand das gut, das ich meine Tochter mitbringe. Da war ihre menschliche
       Seite auch wieder ganz stark vertreten. Sie hatte so was Verlässliches, in
       allen Lebenslagen. Man konnte auf sie zählen.
       
       Meine Freundin Elisabeth fischt eine Wespe aus ihrer Schorle und fragt, ob
       Dorothea denn auch über ihre politische Vergangenheit gesprochen hat. Nee …
       Mit mir schon, ja, aber ich möchte eigentlich darüber nicht allzu viel
       sagen ohne ihr Einverständnis. Wir alle wissen um ihre politische
       Vergangenheit, von der Kommune I - und dass sie im Knast war wegen
       Unterstützung der RAF, wussten wir. Na ja, Manfred war klar, und viele
       Freundinnen von ihr sind klar, Astrid Proll war auch schon mal in der
       Praxis. Ja, anfangs. Und dann war ja die Irene bei uns, die Irene Georgens.
       (Anm. G. G.: Irene Georgens gehörte als sehr junges Mädchen zur Avantgarde
       der Heimbewegung, sie war Insassin eines geschlossenen Erziehungsheimes und
       lehnte sich dort massiv auf gegen Freiheitsberaubung, Unterdrückung und das
       angebliche pädagogische Modell dieses Heimsystems. Lange bevor sie als
       Mitglied der RAF an der Baader-Befreiung teilnahm, hat sie Aufstand im Heim
       gemacht, "Bambule". Das gleichnamige Drehbuch von Ulrike Meinhof basiert
       auf ihren Erfahrungen als Heimzögling.) Sie hat bei uns die Ausbildung zur
       Arzthelferin gemacht. Sie hat auch noch ein Buch geschrieben später. Aber
       noch mal zu Manfred. Also die Hochzeit mit ihm hat sie total geheim
       gehalten. Kam aber mit dem Ehering an. Und dann sagte sie einfach nur: Wir
       wollen heute zusammen was feiern. Und ich habe gefragt: Was denn? Und sie:
       Wir gucken mal … Und dann musste Kirsten Sekt holen gehen und wir haben
       alles erfahren … Also ich wusste vorher, dass da so verstärkt Kontakte
       aufgetreten sind und Telefonate geführt, Briefe gewechselt wurden. Und sie
       ist ja immer zu ihm runtergefahren mit ihrem Honda Civic, hat ihn im Knast
       besucht. Also es war klar, es war was im Busch, aber ich habe nicht mit
       einer Hochzeit gerechnet. (Beide lachen.) Jedenfalls, wir haben das
       gefeiert und ihr gratuliert. Und dann haben wir irgendwann Manfred
       kennengelernt, als er rauskam. Wir mochten den auch gern. Und sie hatte ja
       auch noch Andrew, das war dann, glaube ich, auch ein bisschen schwierig …
       Mhm…
       
       R: Letztlich ist sie dann alleine geblieben. Das ist eigentlich ziemlich
       bitter, oder? Weil sie auch wirklich viel für andere getan hat auch. Das
       ist eine allgemeine Erfahrung, die alle Leute machen, die so schwer
       erkrankt sind. Hab ich auch im eigenen Familienkreis erlebt. Na ja, es
       verändern sich auch Sachen. Wir sehen Dorothea ja auch nicht mehr so oft -
       ich jedenfalls. Es verändert sich das Leben. Die Interessen und die Dinge,
       die man so macht, sind andere. Aber sie hat ja zum Glück ihre Freundin
       Claudia, die sich damals auch um die Praxisauflösung gekümmert hat, was
       nicht leicht war, denn es gab nur eine einzige Interessentin. Sie hat sich
       da sehr bemüht. Deshalb ist es auch sehr schade, dass Dorothea so oft das
       Gefühl hat, dass sie damals gelinkt worden ist. Ist sie nicht! Also ich
       empfinde es eher so, dass sie gelinkt worden ist von Leuten, denen sie Geld
       geliehen und es nie wiedergesehen hat. Bis heute nicht, wo sie es brauchen
       könnte. Also Claudia hat sich damals sehr gekümmert, hat im Krankenhaus bei
       ihr am Bett gesessen, mit den Ärzten geredet, und sie kümmert sich auch
       heute noch. Ich kriege das immer mit, weil ich ja im gleichen Haus in der
       Praxis arbeite. Wie Dorothea jetzt im Krankenhaus war, als sie den letzten
       Anfall hatte, wollten sie sie am selben Tag entlassen, und da hat Claudia
       mit Astrid gesprochen und ihr gesagt, sie soll versuchen, dass sie sie noch
       über Nacht behalten, damit das eben die Versicherung bezahlt - das ist
       nämlich auch so ein Punkt, sie ist nur versichert fürs Krankenhaus, für
       stationäre Behandlung, alles andere muss sie selbst bezahlen, auch den
       Krankenwagen. Astrid wusste das nicht. (Anm. G. G.: Dorothea war mit Astrid
       Proll im Kaufhaus und bekam dort einen Anfall. Sie hat normalerweise einen
       Zettel dabei, auf dem sie bittet, keinen Krankenwagen zu holen, weil sie
       ganz von selbst wieder zu sich kommt. An diesem Tag hatte sie den Zettel
       nicht dabei.) 
       
       Aber es ist ganz erstaunlich, wie sehr sich ihr Zustand insgesamt
       verbessert hat. Ja, ja! Wir haben sie ja damals nach dem Schlaganfall
       mehrfach besucht, haben uns auch hinterher getroffen. Anfangs konnte sie
       schlecht sprechen. Sie hat versucht zu reden, aber … Wir haben uns dann
       einfach in den Arm genommen und ich habe gesagt: Dorothea, es ist okay,
       lass mal, werd gesund, lass uns gucken, was wir machen können. Sie hat zu
       allem auch noch diese Hüftbeschwerden und es war lange Zeit für sie eine
       Mordsarbeit, dahin zu kommen, wo sie heute ist. Sie geht ja fast
       geschmeidig. Verbunden mit eiserner Disziplin … Sie kann den Fuß nicht mehr
       heben, sie muss sich auf jeden einzelnen Schritt konzentrieren. Und wenn
       sie da mal eine Sekunde unaufmerksam ist, kann sie hinfallen. Sie hat schon
       ganz schön heftige Stürze gehabt. Und sie hat ja auch Krankengymnastik
       gemacht über Jahre, macht Feldenkrais. Sie musste lernen, überhaupt den Arm
       wieder heben zu können, das ging nicht mehr. Und sie hat nie wieder mit dem
       Rauchen angefangen. Sie hat sehr gerne geraucht, früher. Spontan fällt mir
       jetzt ein, dass Dorothea mehrfach mit dem Rauchen aufgehört hat. Und dann
       kam sie immer ganz stolz in die Praxis und verkündete: Ich rauche nicht
       mehr! Und wenn man dann im Lauf des Tages - wir hatten also eine
       Personaltoilette, die fensterlos war -, wenn man dann nach Dorothea auf die
       Toilette ging, dann kamen einem schon die Rauchschwaden entgegen. (Beide
       Frauen lachen sehr herzlich.) Und wenn man sie ansprach, dann sagte sie:
       Nein, ich rauche nicht mehr!
       
       Sie hat sich damals auch akupunktieren lassen. Ja, aber es hat nichts
       genutzt. sie ist ja fest davon überzeugt, hat sie unlängst gesagt, dass sie
       den Schlaganfall durchs Rauchen bekommen hat. Mhm … ich denke, es gibt
       mehrere Faktoren. Dass es das Rauchen allein war, kann ich mir nicht
       denken. Man weiß es nicht. Das bringt ja auch jetzt nichts mehr, Hauptsache
       ist doch, dass sie eine ganze Menge geschafft hat und sich wieder auch
       freuen kann am Leben … Na ja, an guten Tagen fühlt sie sich wohl und an
       schlechten Tagen ist sie schon auch sehr traurig und findet das Leben dann
       auch nicht mehr sehr lebenswert. Aber ich erlebe sie nie schlecht gelaunt!
       Traurig, ja. Aber auch dann nicht schlecht gelaunt. Und lachen kann sie
       auch noch wie früher. In den letzten Jahren hab ich sie selten gesehen,
       leider. Erst vor kurzem wieder - wie lang ist das her, vier Wochen etwa? Da
       war ich da, weil ich Barbara besucht habe in der Praxis, die ja vorn im
       selben Haus ist. Und da haben wir auch Dorothea unten besucht in ihrer
       Wohnung mit Gartenblick. Ich hab mich total gefreut und sie auch. Es war
       eine schöne Begegnung und ich habe mir vorgenommen, sie jetzt mal öfter zu
       besuchen.
       
       28 Sep 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Goettle
       
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