# taz.de -- Finanzkrise verschärft Ernährungskrise: Mit dem Essen zockt man nicht
       
       > Die Finanzkrise verschärft die weltweite Ernährungskrise. Dagegen hilft
       > nicht noch ein politisches Rettungspaket - sondern nur eine radikale
       > Wende in der Agrarpolitik.
       
       2008 wird als das Jahr der milliardenschweren Schutzschirme für
       gestrauchelte Banker in die Geschichte eingehen. Die knapp eine Milliarde
       hungernder Menschen finden keine vergleichbare Fürsorge. Erst seit die
       Börsen weltweit Achterbahn fahren, ist staatliches Engagement wieder
       salonfähig geworden. Sogar die EU-Kommission, eben noch die Speerspitze
       weltweiter Handelsliberalisierung, führte vergangene Woche wieder
       Schutzzölle für Weizenimporte ein, um einen Mindestpreis im Binnenmarkt
       halten zu können. Entwicklungsländer, die auf genau solchen Einfuhrzöllen
       zum Schutz ihrer lokalen Lebensmittelversorgung beharren, wurden vom
       EU-Handelskommissar kürzlich noch als "Protektionisten" beschimpft. Die
       Halbwertzeit politischer Glaubenssätze ist kurz.
       
       Agrarrohstoff-Fonds waren im Frühjahr noch der Tipp für gebeutelte
       Spekulanten, die sich in den USA mit Immobilien verzockt hatten. Nun ist
       Herbst und die Stimmung im Keller. Die Finanzkrise hat nicht nur den
       Rohölpreis innerhalb weniger Wochen halbiert. Mit ihm stürzen auch die
       Kurse für landwirtschaftliche Produkte in die Tiefe. Wer glaubt, damit sei
       ein Ende hoher Lebensmittelpreise in Sicht und den armen und hungernden
       Menschen geholfen, irrt. Im Vergleich zum rasanten Preisverfall bei Öl und
       Agrarrohstoffen bleiben die Endverbraucherpreise für Lebensmittel nämlich
       bisher fast konstant. Weil laut Wall Street Journal "die Verbraucher keine
       Verbindung zur Landwirtschaft haben und nicht wissen, dass die
       Rohstoffpreise fallen", genehmigen sich die Handelsriesen zusätzliche
       Milliardengewinne. Sie sind gleich dreifach Krisengewinnler. Sie zahlen den
       Bauern die an der Börse abgestürzten Niedrigstpreise; sie halten die
       Endverbraucherpreise im Supermarkt möglichst hoch; und sie investieren die
       so erzielen Extragewinne in den Kauf geschwächter Konkurrenten. Ihre
       Marktmacht nimmt damit rasant zu.
       
       In Folge der Finanzkrise schwanken die Agrarpreise extrem, die regionale
       Versorgung wird schwieriger. In Entwicklungsländern wurden funktionierende
       Lebensmittelmärkte durch subventionierte Exporte der Industriestaaten
       zerstört. Gleichzeitig wurde Entwicklungshilfe vorwiegend in Straßen und
       Häfen investiert, von denen aus Rohstoffe in die Industriestaaten
       exportiert werden. Die Hungerrevolten in weiten Teilen der Welt waren
       deshalb vorhersehbar. Seit vielen Jahren warnt die
       Welternährungsorganisation FAO, dass die Investitionen in ländliche
       Entwicklung und lokale Versorgungsstrukturen rückläufig sind. Im kürzlich
       veröffentlichten Weltagrarbericht der Vereinten Nationen wird deshalb
       empfohlen, vor allem die vielfältige, nachhaltige, kleinbäuerliche
       Produktion und lokale und regionale Versorgungsstrukturen zu stärken, um
       die Welternährung zu sichern.
       
       Eine derart radikale agrarpolitische Wende ist notwendig, denn die
       industrialisierte Landwirtschaft hängt am Öl. Sie liefert zunehmend
       Rohstoffe, die alternativ zu Lebensmitteln oder Energieträgern verarbeitet
       werden können. Agrarprodukte werden so zum Spekulationsobjekt. Demgegenüber
       sind Lebensmittel, die auf funktionierenden lokalen und regionalen Märkten
       verkauft werden, für Börsianer nicht verfügbar. Der Widerstand gegen
       Spielregeln, die Spekulation mit Lebensmitteln verhindern, ist allerdings
       immens. Wie die Banken, so fordert auch die Agrarlobby vor allem Ausgleich
       für Verluste. Sie sperrt sich gegen jede Umverteilung der Agrarförderung
       zugunsten einer vorbeugend nachhaltigeren und sozial gerechteren
       Lebensmittelversorgung.
       
       Diesem Druck hat jetzt auch die EU-Kommission nachgegeben, als sie beim so
       genannten Gesundheitscheck der Agrarpolitik Vorschläge zurückzog, die auf
       eine Kürzung der Subventionen für rationalisierte Großbetriebe zugunsten
       von ländlichen Entwicklungsprojekten hinaus gelaufen wäre. Die Kommission
       benennt zwar alle drängenden Probleme, mit denen die Landwirtschaft zu
       kämpfen hat: Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt, Wasserknappheit und
       steigender Bedarf an Energie. Aber sie stellt keinen verpflichtenden
       Fahrplan für Maßnahmen auf, um sie zu bewältigen.
       
       Wie bei den Rettungspaketen für klamme Banken wird stattdessen weiter Geld
       in die "systemrelevante" Stützung der globalen Wettbewerbsfähigkeit der
       Landwirtschaft gepumpt, denn im Agrarhandel, nicht in der Landwirtschaft,
       wird das meiste Geld verdient. Präsident Barroso drängt auf eine neue
       "grüne Revolution" mit Hilfe der Gentechnik; Agrarkommissarin Fischer Boel
       will die Milchquoten abschaffen, um Märkte in Indien und China zu erobern.
       Es ist dieser Tunnelblick, der den notwendigen Systemwechsel in der
       Agrarpolitik blockiert.
       
       Die Chance der Krise besteht aber gerade darin, dass durch die Brüche im
       Finanz- und Agrarsektor die Alternativen sichtbar werden. Es gibt weltweit
       eine schnell wachsende Zahl von lokalen Versorgungs- und
       Direktvermarktungsinitiativen, die Bauern und Verbrauchern vor Ort
       verlässliche Lebensmittelversorgung zu stabilen Preisen ermöglichen.
       Saatgutnetzwerke arbeiten für die nachhaltige Nutzung der biologischen
       Vielfalt, die Unabhängigkeit von Saatgutmultis und bessere
       Ertragssicherheit bringt. Städte wie Amsterdam und Kopenhagen fördern
       biologische Erzeugung in ihrem Umland, um Transport zu sparen und das
       Grundwasser zu schonen. Der Lieferstreik der Milchbauern und die
       gentechnikfreien Regionen sind wichtige Bewegungen gegen die Marktmacht der
       Supermärkte.
       
       Die EU wäre durchaus in der Lage, eine neue Wettbewerbsfähigkeit durch
       sozialökologische Innovation in der ländlichen Wirtschaft anzuschieben und
       damit die Nachhaltigkeitsstrategie der EU umzusetzen. Energiesparende und
       klimarelevante Technologieförderung, lokale und regionale
       Ernährungssicherungs- und Vermarktungskonzepte, Partnerschaften, zwischen
       mittelständischen Betrieben, Ausbildungsstätten und Netzwerken der
       Zivilgesellschaft sind in EU-Programmen wie Leader, Interreg, Urban und
       Equal erarbeitet worden. Sie erhalten aber nur einen winzigen Bruchteil der
       Agrar- und Strukturförderung. Die Leader-Methode ist für Spekulanten und
       Agrarlobby außer Reichweite. Sie unterstützt die Menschen vor Ort dabei,
       nachhaltiger zu wirtschaften und sich selbst zu helfen. Ein Exportschlager
       für die Entwicklungsländer!
       
       Ähnlich wie für globale Finanzregeln, die angesichts des drohenden
       Kollapses der Finanzmärkte nun offenbar konsensfähig sind, sollte die EU
       Kommission auch in der Welthandelsorganisation für neue Regeln eintreten.
       Ernährungssicherungsprüfungen und ein qualifizierter Marktzugang, wie sie
       das Europäische Parlament gegen sozial ökologisches Dumping fordert, wären
       schlagkräftige Instrumente, um in Zukunft nur landwirtschaftliche Praktiken
       zu fördern und Produkte weltweit zu handeln, die nachweislich Böden,
       Wasser, biologische Vielfalt und Energiequellen nachhaltig bewirtschaften
       und das Klima schonen.
       
       3 Nov 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hannes Lorenzen
       
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