# taz.de -- Marcel Beyer in Kiel: Von Förde und Froschfett
       
       > Von der Kunst, Gedichte zu schreiben (und deren Anlass dabei verschwinden
       > zu lassen): Wie der Autor Marcel Beyer in Kiel über Poetik spricht (und
       > warum seine dortige Dozentur aus mehr als drei Veranstaltungen hätte
       > bestehen sollen).
       
 (IMG) Bild: Trägt seine Gedichte mit einer Glut vor, die etwas unmittelbar Bezwingendes hat: Marcel Beyer (hier bei einer Autorenlesung in Koblenz).
       
       Manche Wörter können eine Heimat sein. Wo immer man sie hört oder
       ausspricht, führen sie einen zurück an den Ort, von dem sie kommen. In
       ihnen sind Erinnerungen gespeichert, die im geglückten Sprechen und
       Schreiben immer wieder neu vergegenwärtigt werden können.
       
       Für den Lyriker und Romanautor Marcel Beyer, der in diesem Jahr die
       gemeinsam vom Kieler Literaturhaus und der Christian-Albrechts-Universität
       ausgerichtete Detlev-Lilliencron-Dozentur innehat, sind dies zum Beispiel
       Wörter wie "Förde", "Tide" und "Froschfett" (womit jene bekannte Schuhcreme
       gemeint ist, auf deren Deckel das genannte Tier abgebildet ist). Es sind
       Wörter, die, wie er in seiner Poetik-Vorlesung am zweiten Tag sagte, mit
       seiner "Herkunftsgegend" zu tun haben - und diese Gegend ist keine andere
       als Kiel. Hier verbrachte Beyer, aus dem württembergischen Tailfingen
       stammend, wichtige Kindheitsjahre, bevor er im Alter von zehn Jahren dann
       mit seiner Familie nach Neuss weiterzog.
       
       Natürlich geht es einem Autor wie Beyer nicht um sentimentale Beleuchtung
       vergangener privater Befindlichkeiten. Ob in seinen Gedichten seit dem vor
       elf Jahren erschienenen Band "Falsches Futter" oder in der Prosa - zuletzt
       in dem Roman "Kaltenburg": Wichtig ist ihm, zu zeigen, wie die Phänomene
       auch aus der eigenen Lebenswelt auf das Geschriebene übergreifen - und wie
       der Text dabei gleichzeitig das Erinnerte auf seine Weise verformt. In
       diesem doppelten Sinne, sagt Beyer, ist das Gedicht immer auch eine
       Übersetzung: von einer Sprachregion in die andere, von "meinem" Deutsch ins
       allgemeine Deutsch.
       
       Für seine Vorlesung, der Beyer den Titel "Mein Deutsch. Lexikon und
       Gedicht" gegeben hatte, war es daher ein Glück, dass der Bezug des Autors
       zum Ort der Dozentur so konkret war; dadurch wurde für die Zuhörer leicht
       nachvollziehbar, um welche Art von poetischer Transformation es Beyer ging.
       Auch der Begriff "Lexikon" hatte in diesem Zusammenhang eine ganz und gar
       greifbare Bedeutung: Beyer meint damit nicht in erster Linie das durch
       Nachschlagen Angelesene, sondern die Menge der wichtigen, von Ort zu Ort
       mitziehenden und sich verwandelnden Wörter, die einem im Lauf des Lebens
       begegnen. Die sind es, die in ihrer Gesamtheit dann das Vokabular des
       Dichters bilden.
       
       Dieser Wortschatz hat bei Beyer, wie er im Rahmen eines Gesprächs zwischen
       den Veranstaltungen sagte, immer auch ein zwingendes biographisches
       Fundament, von dem her das Gedicht dann erst schreibbar wird. Die Kunst ist
       es dann, diesen Ursprung im Gedicht so zu gestalten, dass er gewissermaßen
       verschwindet, nur noch zwischen den Zeilen aufblitzt: als jenes Reale, das
       den Schreibvorgang ausgelöst hat.
       
       Anhand seines Gedichtes "Stiche" führte Beyer ganz konkret vor, wie im
       Rahmen eines einzelnen Textes die unterschiedlichsten Bedeutungsebenen ein
       Ganzes ergeben können, ohne dass die Bezüge zwischen ihnen erzwungen
       wirken: wie eine Narbe aus Kieler Kinderjahren, von einem Unfall auf einem
       Schlitten herrührend, sich in konkrete Handarbeitsvorgänge beim Nähen
       verwandeln kann, bis dann am Schluss des Gedichtes das Wort "Stiche" mit
       dem russischen "stichi" - zu deutsch "Verse" - in eine den ganzen Text
       nochmal neu erhellende Verbindung gebracht wird.
       
       Ein zentraler Bestandteil von Marcel Beyers "Lexikon" ist von Anfang an die
       Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gewesen: Gedichte, die vor
       allem um dieses Thema kreisen, hatte Beyer am Vortag bei der
       Eröffnungslesung der Dozentur im Kieler Literaturhaus gelesen. Neben
       manchen unveröffentlichten Gedichten waren das vor allem Texte aus
       "Falsches Futter" und wenige aus seinem bisher letzten, vor sechs Jahren
       erschienenen Gedichtband "Erdkunde". Ohne große Vorrede begann Beyer einen
       Querschnitt aus fast zwanzig Jahren lyrischer Arbeit vorzutragen,
       erläuterte immer wieder bei manchen Texten den historischen Kern, den man
       unbedingt kennen müsse, um die Gedichte zu verstehen.
       
       Dabei entstand von Beginn an die sachliche Atmosphäre eines öffentlichen
       Gesprächs des Autoren mit sich und seinen Texten, von dem sich der Zuhörer
       jedoch in keinem Moment ausgeschlossen fühlte; zumal Beyer seine Gedichte
       mit einer verhaltenden Glut vorträgt, die etwas unmittelbar Bezwingendes
       hat.
       
       Klar wurde während der zurückliegenden Tage in Kiel aber auch: Gerade bei
       einem Autor wie Beyer würde man sich wünschen, die Liliencron-Dozentur
       bestünde aus mehr als nur drei Veranstaltungen. Eine gute Idee in diesem
       Zusammenhang war es, die abschließende Veranstaltung am heutigen Donnerstag
       im Literaturhaus als eine Begegnung zweier Dichter anzulegen: Da wird
       Marcel Beyer mit Ulf Stolterfoht, dessen jüngster Band "holzrauch über
       heslach" von der Kritik zurecht gefeiert wurde, in ein bestimmt so
       anregendes wie heiteres Zwiegespräch treten.
       
       19 Nov 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stephan Turowski
       
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