# taz.de -- Aborigines in Australien: Wo Tourismus kulturelle Vielfalt stützt
       
       > Für viele Ureinwohner ist der Tourismus zu einem Weg heraus aus
       > Abhängigkeit und Frustration geworden.
       
 (IMG) Bild: Nicht hochklettern, heiliger Ort: Uluru (Ayers‘ Rock)
       
       „Jetzt gehen wir in den Supermarkt“, sagt Neville Poelina. Seine Gäste
       wundern sich und stöhnen. Es ist neun Uhr früh, und das Thermometer steht
       bei 38 Grad. Die schwitzenden Touristen könnten sich nirgendwo weiter weg
       fühlen vom klimakontrollierten Neonlichtambiente eines modernen
       Einkaufszentrums als hier, in der von Spinifexgras bedeckten Savanne der
       Kimberley-Region im Norden Westaustraliens. Kaum ein Gebiet Australiens ist
       so abgelegen und menschenleer; eine Fläche fast doppelt so groß wie
       Großbritannien. Nur gerade zwei Straßen durchqueren die Region, der
       geteerte Great Northern Highway und die Gibb River Road, eine harte
       Allradstrecke, die schon so manchem Reisenden Reifen und Achse gekostet
       hat; oder das Leben.
       
       Auf einer staubigen Nebenpiste östlich der Stadt Broome parkt Neville sein
       Allradfahrzeug. Er will den Gästen erklären, wie „meine Leute 60.000 Jahre
       lang gelebt haben“. Seine „Leute“, das sind die Aborigines, die
       australischen Ureinwohner. Der 47-jährige ist Angehöriger des
       Nyikina-Stammes. Mit einem Stock bricht er aus einem mannhohen,
       orange-braunen Termitenhügel faustgroße Stücke trockenen Lehms. In einer
       von den Insekten gebauten Kammer findet er mehrere Handvoll Samen von
       Gräsern aus der Umgebung. Die Ureinwohner zermahlen sie und backen aus dem
       Mehl eine Art Fladenbrot. „Seht ihr: wie in einem Supermarkt. Die Termiten
       schleppen das Essen an und wir bedienen uns“. Sagts, greift zur Eiskiste
       und setzt sich eine Dose „Mother“ an den Mund, eine koffeingeladene
       australische Version des Energiedrinks „Red Bull“. „Aah, ich liebe das
       Zeug“, meint Poelina. Scheinbar problemlos lebt er in zwei Welten, die
       unterschiedlicher nicht sein könnten. Doch längst nicht alle australischen
       Ureinwohner schaffen das so problemlos.
       
       Australien schockierte die Welt mit Berichten über sexuellen Missbrauch und
       Verwahrlosung von Aboriginal-Kindern. Laut einer Studie finden solche
       Verbrechen in fast allen von knapp 50 untersuchten nordaustralischen
       Aboriginal-Gemeinden statt. Als grundlegende Ursache nennen Experten die
       Erosion der traditionellen Werte der ersten Australier. Dazu komme der weit
       verbreitete Missbrauch von Drogen, Alkohol und Pornografie. Die Situation
       werde durch den chronischen Mangel an öffentlichen Diensten wie Polizei und
       Krankenversorgung verschärft. Neu waren die Erkenntnisse nicht, neu aber
       war, dass die Regierung reagierte. Sie schickte Soldaten, Polizisten,
       Krankenschwestern und Ärzte los und führte in 70 Gemeinden des Northern
       Territory Sondergesetze ein. Alkohol und Pornografie wurden verboten, ganze
       Gemeinden sind inzwischen unter der Verwaltung weißer Administratoren.
       Viele nichtindigene Australier sehen einmal mehr ihre Vorurteile bestätigt:
       Aborigines sind Menschen, die in den 200 Jahren seit der europäischen
       Invasion Australiens den Weg von der Steinzeit in die Moderne nicht
       geschafft haben.
       
       „Unsinn“, sagt Neville Poelina, und nippt an seiner Dose. „Wenn man die
       Beine zusammengebunden hat, kann man nicht rennen.“ Der Konflikt zwischen
       den Ureinwohnern und den britischer Sträflingen und Siedlern, die im Jahr
       1788 im heutigen Sydney landeten, war vorprogrammiert. Dem Versuch der
       Ausrottung der ersten Australier durch die Weißen folgte der Versuch der
       zwangsweisen Anpassung an die moderne Gesellschaft. Beide Experimente
       scheiterten. Die generelle Abneigung, die viele europäischstämmige
       Australier gegenüber den Ureinwohner zeigen, aber überlebt bis heute. Erst
       in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts erhielten Aborigines die
       australische Staatsbürgerschaft. Erst 1992 anerkannte das Gesetz, dass auf
       dem Kontinent vor der Ankunft der Weißen jemand gelebt hatte. „Jetzt ist
       die Zeit gekommen, unser Schicksal selber in die Hand zu nehmen“, sagt
       Paolina.
       
       Er repräsentiert eine Seite des indigenen Australien, von der man nie
       liest: die des erfolgreichen Geschäftsmannes. Paolina ist Gründer und
       Besitzer des Aboriginal-Tourismusunternehmens Uptuyu. Gemeinsam mit seiner
       Frau Jo leitet er ein kleines Camp tief in der Kimberley-Region. Von dort
       aus führt er Touristen in die Mythologie und den traditionellen Alltag der
       Ureinwohner ein. „Ich habe mir das alles selber aufgebaut“, meint Poelina,
       „ohne Hilfe der Regierung“. Er geht mit den Besuchern jagen, angeln und
       sucht mit ihnen nach „Bushtucker“, in der Natur vorkommende Nahrung, wie
       die Grassamen im Termitenhügel. Und er lebt gut davon. Sein Allradfahrzeug
       ist brandneu. Unzählige Ideen für den Ausbau seines Geschäftes schwirren
       ihm durch den Kopf; ein Trainingszentrum für „meine Leute“ will Poelina auf
       seinem Land bauen, ein „Vorbild für unsere Kinder sein“.
       
       Neville Poelina ist Teil einer stillen Revolution im indigenen Australien.
       Tourismus ist für viele Ureinwohner zu einer Chance geworden. Dutzende von
       touristischen Unternehmen wurden in den letzten Jahren von Aborigines
       gegründet: von 1-Mann-Betrieben, die Kleingruppentouren zu Felsmalereien in
       Cape York im Bundesstaat Queensland anbieten, über Aboriginal-Kunstgalerien
       in den Großstädten bis hin zu „Öko-Zelten“ im Karijini-Nationalpark in
       Westaustralien.
       
       „16 Prozent der Landmasse Australiens ist von uns Ureinwohnern
       kontrolliert“, erklärt Aden Ridgeway, Chef des Departements „Indigener
       Tourismus“ der staatlichen australischen Tourismusbehörde Tourism
       Australia. Da sei es nur logisch, dass Aborigines im Tourismus eine Rolle
       spielten. „Damit sind wir einzigartig.“
       
       Aboriginaltourismus entspricht nicht nur einer Nachfrage, er ist auch ein
       gutes Geschäft. 570 Millionen australische Dollar flossen im letzten Jahr
       in diese Sparte der australischen Reiseindustrie. Die Zahl der Anbieter
       wächst: Etwa 130 Aboriginal-Tourismusunternehmen sind registriert. Mit
       hunderten von Angestellten versorgen sie einen Markt von jährlich 830.000
       Besuchern - 16 Prozent aller ausländischen Touristen. Sie wollen während
       ihres Australienurlaubs eine „indigene Erfahrung“ haben, wie der Kontakt
       mit der ältesten überlebenden Kultur der Welt in der
       Reiseindustrieterminologie heißt. Laut einer Studie geben 150.000 Besucher
       das Interesse an der Kultur der Aborigines sogar als Hauptgrund für ihre
       Reise nach Down under an. Die Europäer - allen voran Schweizer und Deutsche
       - sind führend. Ein Drittel aller Besucher haben in Australien eine
       „indigene Erfahrung“. Wie etwa mit Bill Aiken, dem Mann mit den 36 Frauen.
       
       Die Geike Gorge in der Nähe der Stadt Fitzroy Crossing ist ein Magnet für
       jeden Touristen, der durch die Kimberley-Region reist. Die Schlucht ist
       eine Oase mitten in einer trockenen, spröden Landschaft. „Sie war ein
       Paradies für meine Vorfahren, reich an Nahrung und Wasser“, erklärt Bill
       Aiken von Drangku Heritage Cruise. Täglich fährt er Gäste auf einem Boot
       durch die Schlucht, erklärt die Bedeutung von Felsformationen und erzählt
       aus der „Traumzeit“, der mythischen Schöpfungsgeschichte der Ureinwohner.
       Und dann kommt die überraschende Behauptung, er habe 36 Frauen. „Leider
       aber habe ich nur die Verantwortung, nicht den Spaß“, macht er schnell
       klar. Wie die meisten Ureinwohner, die in der Tourismusindustrie
       beschäftigt sind, lebt Bill in zwei Welten. Auf der einen Seite ist er ein
       Geschäftsmann, der mit Handy und Laptop kabellos Buchungen entgegennimmt
       und Bankkonten abruft. Auf der anderen Seite folgt er strengen sozialen
       Regeln, die in vielen Ureinwohnergemeinden weiter strikt eingehalten
       werden. So gelten in Bills Clan auch die Ehefrauen seiner Brüder, Cousins
       und Onkel als seine Frauen. Er wird für sie verantwortlich, wenn deren
       „echte“ Ehemänner sterben.
       
       Die Wanderung zwischen zwei Welten, zwischen den strengen Regeln einer
       Urgesellschaft und den Zwängen und Verlockungen der Moderne ist auch für
       Ureinwohner, die im Tourismus Fuß fassen wollen, ein Stolperstein auf dem
       Weg zum Erfolg. „Die Zuverlässigkeit und Qualität von indigenen Touren und
       Unterkünften ist nach wie vor ein Problem“, sagt der Vorsitzende eines
       großen europäischen Reiseunternehmens. Das Wort Pünktlichkeit bedeute in
       der Aboriginalkultur nicht unbedingt dasselbe wie in der westlichen Kultur.
       So verhalten sich viele ausländischen Reiseveranstalter im Anbieten von
       Touren der Aborigines noch zurückhaltend. Doch die Situation wird laufend
       besser. Nicht zuletzt dank einer verstärkten Professionalisierung der
       Industrie und durch Ausbildung und staatliche Unterstützung. Es werden
       spezialisierte Kurse und Universitätslehrgänge angeboten. Dabei lernen
       junge Berufseinsteiger nicht nur, wie man Touristen das Überleben in der
       trockenen Umwelt der Kimberley-Region beibringt, sondern auch wie man einen
       trockenen Martini mixt.
       
       „Tourismus ist nicht die letzte Hoffnung für unsere Kultur, aber eine
       starke“, sagt Neville Paolina. „Wir müssen unsere Kultur
       kommerzialisieren.“ Tourismus gebe jungen Aborigines einen Grund, wieder
       Interesse zu finden an Traditionen und alten Werten. „Denn sie können damit
       Geld verdienen“, erklärt Paolina. Auf dem Weg vom Termitenhügel zurück zum
       Fahrzeug erklärt er seinen Gästen die vielen Arten von „Bushtucker“, die er
       in hier findet und isst: Früchte, Beeren, Kängurus, Schlangen, Echsen,
       Schildkröten. Nur Fledermäuse, die mag er nicht. „Warum soll ich etwas
       essen, das den ganzen Tag verkehrt an einem Baum hängt, schläft und dabei
       noch über sich selber scheißt? Da kauf ich mir lieber einen Hamburger.“
       
       22 Nov 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Urs Wälterlin
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Reiseland Australien
 (DIR) Australien
 (DIR) Aborigines
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kletterverbot für Australiens heiligen Berg: Endspurt der Unbelehrbaren
       
       Der heilige Berg Uluru in Zentralaustralien darf bald nicht mehr von
       Touristen bestiegen werden. Wanderwütige nutzen nun ihre letzte Chance.
       
 (DIR) Touristenziel Ayers Rock in Australien: Schutz für den heiligen Berg Uluru
       
       Der weltbekannte Uluru soll nicht mehr von Touristen bestiegen werden
       dürfen – eine bedeutende Entscheidung für die Aborigines.