# taz.de -- Evangelikale in Deutschland: Um Gottes willen!
       
       > Sie kämpfen gegen Emanzipation und Evolutionslehre, Pornografie,
       > Homosexualität und den Islam: Evangelikale Christen sind auf einem
       > Kreuzzug gegen den Zeitgeist in Deutschland.
       
 (IMG) Bild: Es gilt ausschließlich: Das geschriebene Wort!
       
       Pastor Wenz geht auf der Bühne hin und her. Ein hagerer Mann, der das Haar
       streng zur Seite gescheitelt trägt. Später wird er seiner Stuttgarter
       Gemeinde jovial zurufen: "Komm, wir geben Jesus mal einen richtigen
       Applaus!" Und seine Gemeinde wird johlen, tosen, klatschen. Nun aber ballt
       Wenz die Hand zur Faust. "Es gibt Feinde", ruft er. "Es gibt Menschen, aber
       auch böse Mächte, die das nicht wollen, was Gott will!" Schweißflecken
       zeichnen sich unter seinen Achseln ab. "Wir sind das Volk Gottes, wir sind
       eine heilige Nation", brüllt er schließlich. "Ist Gott für uns, wer mag
       wider uns sein?"
       
       Peter Wenz ist Leiter der Biblischen Glaubensgemeinde im Stuttgarter
       Stadtteil Feuerbach. Bis zu 4.000 Menschen kommen jedes Wochenende in die
       Gottesdienste. Im Jahr macht das knapp 200.000 Besucher - und das
       Gotteshaus zur wohl ersten evangelikalen Megachurch in Deutschland.
       
       In den USA wird am Ende der Ära Bush ein Viertel der Bevölkerung den
       Evangelikalen zugerechnet, das wären mehr als 70 Millionen
       ultrakonservative Protestanten, die auf einer wörtlichen Auslegung der
       Bibel bestehen. Selbst der neue Präsident Barack Obama kommt offenbar nicht
       an ihnen vorbei: Bei seiner Amtseinsetzung am 20. Januar wird der
       evangelikale Pastor Rick Warren - ein erbitterter Gegner von Homoehe und
       Abtreibung - um Gottes Beistand bitten. In Deutschland dagegen haben sich
       die evangelikalen Christen lange abgeschottet und öffentlich wenig
       eingemischt - ganz im Sinne von Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die politische
       Zurückhaltung nahe legt. Sie kuschelten sich in ihren frommen Ghettos ein,
       kritisierten selbst die Vertreter der Evangelikalen die eigenen Schäfchen
       immer wieder. Inzwischen ist aber von politischer Zurückhaltung nichts mehr
       zu spüren. Wenn von diesem Sonntag an rund 350.000 deutsche Evangelikale an
       ihrer jährlichen Gebetswoche teilnehmen, beten sie auch "für Christen in
       Schlüsselpositionen von Politik, Kultur, Medien und Wirtschaft"; "für
       unsere Regierung im Land bei der Beurteilung des Islam"; und dafür, "dass
       unser Land und die Gesellschaft wieder mehr von christlichen Werten und der
       christlichen Botschaft geprägt werden".
       
       Immer lauter mischen sich die Evangelikalen in Debatten und Wahlkämpfe ein,
       bombardieren Politiker mit Briefen und Fragen. "Sind Sie bereit, die
       Propagierung familienzerstörender Elemente in den Medien gegebenenfalls
       auch durch gesetzliche Schutzmaßnahmen zu vermindern?", heißt es in einem
       Wahlfragebogen, den der Evangelikalen-Dachverband "Deutsche Evangelische
       Allianz" an die Politik richtet. Die Evangelikalen betreiben ein ganzes
       Netzwerk aus Zeitschriften, Nachrichtenagenturen, Fernsehsendern und
       Radiostationen, sie beschäftigen eigene Lobbyisten und PR-Kräfte. "Wir
       haben derzeit so viele Chancen, uns selbst in den Medien darzustellen, wie
       nie zuvor", jubelte im Dezember der Evangelikalen-Funktionär Thomas
       Schirrmacher.
       
       Es sind nunmehr fast eineinhalb Millionen Evangelikale, die sich unter dem
       Dach der "Deutschen Evangelischen Allianz" versammeln. Manche Schätzungen
       kommen sogar auf bis zu 2,5 Millionen Evangelikale in Deutschland. Hunderte
       neue freikirchliche Gemeinden, die dem evangelikalen Spektrum zugerechnet
       werden, haben sich in den vergangenen Jahren gegründet. Viele von ihnen
       sind deutlich radikaler als die klassischen Freikirchen, die oft bereits im
       19. Jahrhundert entstanden sind. Dazu kommt eine unübersichtliche Zahl von
       Bibelhauskreisen, missionarischen Zentren, evangelikalen Vereinen und
       Sozialeinrichtungen - von Drogentherapiegruppen auf Bauernhöfen bis zu
       Armenspeisungen in den Städten.
       
       Seit wenigen Wochen haben die Evangelikalen auch eine staatlich genehmigte
       Hochschule, die Freie Theologische Hochschule in Gießen, die vorher
       lediglich den Status einer Akademie hatte. Als "Durchbruch für die
       Evangelikalen in Deutschland" hat deren Rektor das gefeiert. Die Grundlage:
       die 1978 aufgestellte Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel.
       
       Auch wenn die Bewegung alles andere als einheitlich ist: Wer das
       evangelikale Deutschland bereist, von Berlin bis Stuttgart-Feuerbach, von
       Leipzig bis ins hessische Werratal, erfährt rasch, was sie verbindet: Es
       ist der Widerstand gegen einen Zeitgeist, den sie als dekadent und gottlos
       empfinden. Die Evangelikalen stemmen sich gegen Emanzipation und
       Evolutionslehre, Pornografie, Homosexualität und den Islam. Sie geben sich
       proisraelisch - und missionieren dennoch auch unter Juden. Denn in ihren
       Augen wird nur errettet, wer Jesus als den Messias anerkennt.
       
       Doch so sehr sich die Evangelikalen um Einfluss bemühen, einem religiösen
       Rollback sind enge Grenzen gesetzt. Deutschland, eine heilige christliche
       Nation? Mit der Wirklichkeit hat das wenig zu tun. Und das ist ihre
       heimliche Tragödie: Eine pluralistische Gesellschaft hält die Evangelikalen
       aus - sie sind es, die an ihr verzweifeln.
       
       An den Wänden des Konferenzraums eines Büros in Leipzig hängen Zeichnungen
       von Einfamilienhäusern, Pläne von Wohngebieten, Prospekte. "Letzter
       Bauabschnitt in Engelsdorf", steht auf einem, "Nutzen Sie Ihre Chance!" Ein
       Mittfünfziger mit Bart und Brille betritt den Raum, zur Krawatte trägt er
       eine silberne Nadel. "Dr.-Ing. Reinhard Steinbruch", steht auf seiner
       Visitenkarte. Er ist der Chef des Planungsbüros im Leipziger Süden. Und
       Diakon in der Freien evangelischen Gemeinde Leipzig.
       
       Das Projekt, das Steinbruch heute präsentiert, hat nichts mit Häusern zu
       tun. Es geht um den biblischen Erlebnispark: das Genesis-Land. Die Idee
       stammt von schöpfungsgläubigen Schweizern. Kreationisten. Eigentlich
       wollten sie den Park im Raum Heidelberg bauen, bekamen aber im Sommer eine
       Abfuhr von Stadt und Region. Doch ihre millionenteuren Pläne wollen sie
       nach wie vor umsetzen. Nur wo? Ginge es nach Steinbruch, würde der
       Bibelpark in Ostdeutschland gebaut. "Das ist praktisch Diaspora", sagt er
       in leichtem Sächsisch. Christliche Diaspora.
       
       Zeitreise durch die Geschichte der Menschheit, von der Schöpfung bis zur
       Vollendung", steht auf einem Katalog, der auf dem Konferenztisch liegt.
       Darin sind die Grundsätze des Parks festgehalten: Es solle ein Ort
       entstehen, "an dem der biblische Bericht als historische Tatsache
       interpretiert und dargestellt wird". Was das heißt, steht dort auch: Das
       Erdzeitalter wird auf 6.000 bis 10.000 Jahre veranschlagt. An anderer
       Stelle heißt es: Dinos und Menschen lebten einst gemeinsam auf der Erde -
       schließlich erinnerten die Beschreibungen des Behemot und des Leviathan im
       Buch Hiob an Dinosaurier. Ein Faltplan zeigt eine Übersicht über den Park.
       In der Mitte: die Arche Noah. Auch sie soll so gebaut werden, wie es in der
       Bibel steht, 300 Ellen lang, 50 Ellen breit, 30 Ellen hoch.
       
       Steinbruchs Team hat mehrere Elemente des Parks entworfen. So auch den
       Pavillon "Feuer", der die Johannesoffenbarung darstellen soll. Die
       Apokalypse. Steinbruch schiebt eine DVD in den Laptop. Ein langgezogenes
       Gebäude ist zu sehen. "Komm herauf und ich werde dir zeigen, was nach
       diesem geschehen muss", sagt eine Stimme. Feuer. Schreie. "Den Abschluss
       der großen Trübsal erlebt der Besucher durch das Zerfallen des Universums",
       sagt die Stimme. Man sieht die Weltkugel. Ein Knall. Dunkelheit.
       Schließlich gelangt man in den Raum des Jüngsten Gerichts. An dieser
       Stelle, so die Stimme, werden "Lasermenschen" erscheinen. Ein Teil stürzt
       in einen Feuersee. Der Rest gelangt in die neue Welt. Das Neue Jerusalem.
       Nach sechs Minuten endet der Film.
       
       Glaubt Dr.-Ing. Reinhard Steinbruch all das? Glaubt er an das baldige Ende?
       Steinbruch zögert, druckst herum, schließlich antwortet er: Die Zeichen
       seien nicht zu übersehen. Die Pole schmelzen, das Wetter verändere sich,
       Naturkatastrophen nehmen zu. Keiner sei mehr für die Ehe, es werde in losen
       Partnerschaften gelebt, von Homosexualität ganz zu schweigen. "Der
       Zeitgeist an sich, die ganzen Lebensinhalte", sagt Steinbruch. "Das ist ein
       endzeitliches Verhalten."
       
       Ein Wohnhaus im Norden des Berliner Bezirks Neukölln, es ist November.
       "Kommunismus" hat jemand auf die Fassade gesprüht. Im ersten Stock haben
       sich gut zwanzig amerikanische und deutsche Twens versammelt. Zwei Tage ist
       es her, dass in den USA Obama die Wahl gewonnen hat, zwei Drittel der unter
       30-Jährigen haben ihn gewählt. Aber hier ist von Obamanie nichts zu spüren.
       Ein Twen aus Obamas Heimatstadt Chicago sagt, er habe gegen ihn gestimmt.
       Wegen dessen liberaler Haltung zur Abtreibung. Dan (28) aus Michigan setzt
       sich vor die Gruppe, er trägt T-Shirt, Jeans und weiße Nike-Socken. Er
       liest aus der Bibel, Psalm 23, ein deutscher Student übersetzt.: "Und muss
       ich auch durchs finstere Tal, ich fürchte kein Unheil." Danach gibt es
       Popcorn, Tortilla-Chips und Jesus-Lieder: "Denn ich bin sein und er ist
       mein, mit seinem Blut macht er mich rein."
       
       Wenn man so will, ist Dan ein Missionar im Praktikum, ein evangelikaler
       Entwicklungshelfer. "Campus Crusade for Christ" heißt die evangelikale
       Organisation, die ihn und ein Dutzend weitere US-Amerikaner für ein Jahr
       nach Berlin geschickt hat. Crusade, das heißt übersetzt Kreuzzug.
       
       Mehr als 1.000 Hochschulgruppen zählt "Campus Crusade" in den USA. Das
       deutsche Pendant "Campus für Christus" ist bisher an rund zwanzig
       Hochschulen vertreten. Die Bewegung sei zwar auch in Deutschland stark,
       aber bisher noch "very underground", sagt Dan. Wer seine Gruppe beobachtet,
       wie sie an der Technischen Universität in Berlin Jesus-DVDs und Broschüren
       über Gottes Plan für unser Leben anpreist, weiß, was er meint. Fast alle
       ignorieren den Stand vor der Mensa einfach nur. "Die meisten Studenten
       können wahrscheinlich ihre ganze Unizeit hinter sich bringen, ohne ein
       Gespräch mit jemandem zu haben, der wirklich an Jesus glaubt", sagt Dan.
       Aber genau deshalb ist er ja hier.
       
       Der Rohbau eines Autowasch-Centers in Stuttgart, umgeben von Autohäusern
       und Tankstellen. Gleich dahinter: das "Gospel Forum". Der knapp zwanzig
       Meter hohe Flachdachbau ist eine Mischung aus Mehrzweckhalle und
       SB-Möbelmarkt. Viel Glas. Viel Beton. Helles Holz. Lüftungsrohre an der
       Hallendecke. Das "Ikea der Evangelikalen" hat man es schon genannt.
       Neuankömmlinge bekommen Gummibären in Herzform. Und einen Gutschein für ein
       Erfrischungsgetränk. Man gibt sich offen, nach außen hin modern. Zu Beginn
       des Gottesdiensts spielt eine Soft-Rock-Band. Nach wenigen Takten recken
       die ersten Besucher die Arme in die Höhe. Die Halle ist voll, selbst auf
       der Empore bleibt kaum ein Stuhl leer. Pastor Wenz trägt ein
       fliederfarbenes Hemd zur dunklen Anzughose, als er an diesem Sonntag im
       November vor seiner Gemeinde steht. "Gott sprach gerade zu meinem Herzen,
       jemand wird jetzt geheilt an seiner Bauchspeicheldrüse", ruft Wenz über ein
       Soundbett aus Orgel und Gitarre. "Die Ärzte werden es bestätigen!"
       
       Göttliche Wunder auf der einen, dämonische Mächte auf der anderen Seite:
       Hier in Stuttgart-Feuerbach glaubt man fest daran. Am Abend zuvor war ein
       italienischer Gastprediger da. Am Ende seines Heilungsgottesdiensts kommen
       die Besucher nach vorne, auf Krücken, in Rollstühlen, gestützt von
       Angehörigen. Eine Familie bringt ihr schwer krankes Kleinkind. Der Prediger
       drückt ihm die Hand auf den Kopf: "By the power of god, be healed."
       
       Peter Wenz und seine Biblische Glaubensgemeinde (BGG) gehören zur
       charismatisch-pfingstlerischen Strömung des Christentums, jenen
       Evangelikalen, die besonders viel Zuwachs verzeichnen. Ihr Ziel: Eine
       "persönliche Beziehung" zu Gott aufzubauen - wie auch immer das
       funktioniert. Wenz selbst habe bis 1978 ohne eine solche Beziehung zu Gott
       gelebt, erzählt er später in einem Hinterzimmer. Dann erlebte er seine
       Wiedergeburt. Er war damals zwanzig Jahre alt und angehender Zeitsoldat.
       Heute ist er ein Soldat des Herrn.
       
       Einer, der die Öffentlichkeit nicht scheut. Im September 2006 durfte Wenz
       in Sabine Christiansens TV-Talk über ein Thema diskutieren, mit dem er sich
       auskennt: Wann wird aus Frömmigkeit Fanatismus?
       
       "Sex: Gottes Wahrheit" heißt ein Ratgeber, den Frauen an einem Stand im
       Foyer verkaufen. Dort werden vorehelicher Sex und Oralverkehr als Werk des
       Teufels bezeichnet. Onanie? Führt in dämonische Abhängigkeit. Jugendliche
       stehen im Foyer, albern herum. Sie hatten gerade Teeniebibelschule. "Allah
       ist mächtig, Allah ist groß", ruft einer. "Ein Meter siebzig und
       arbeitslos."
       
       Über den "Charisma Shop" ist auch eine Predigtreihe zum Thema "Sexualität
       im Licht der Bibel" als CD-Set zu beziehen. "In der Bibel steht alles genau
       drin", ruft Pastor Wenz auf der Aufnahme. "Gott will den Mann männlich und
       die Frau will er weiblich." Aus der Gemeinde hört man ein lautes "Ameeen".
       Später doziert Wenz über Homosexualität. Seine Stimme hebt an: "Wenn jemand
       hier ist heute, der homosexuell gebunden ist: Du sollst frei werden durch
       den Kraftstrom des Heiligen Geistes."
       
       ie Gemeinde radikalisiere sich in Richtung "eines protestantischen
       Fundamentalismus US-amerikanischer Prägung", schrieb der
       Weltanschauungsbeauftragte der evangelischen Landeskirche Württemberg schon
       vor gut acht Jahren. Wenige Monate später öffnete das "Gospel Forum".
       Solche Kritik wischt Wenz weg. Es gebe immer Neider, sagt er. Er wähnt sich
       auf der richtigen Seite. Als Teil einer weltweiten Bewegung, die wächst und
       wächst und wächst. Unter ihm ist um die Gemeinde eine Art
       sozial-moralisches Milieu herangewachsen, vergleichbar mit dem
       sozialdemokratischen Arbeitermilieu im 19. Jahrhundert. Oder dem
       katholischen Milieu in den 20ern und 30ern. Zur Gemeinde gehört der
       "Christliche Sportverein Stuttgart 1999 e. V.". Eine eigene Kita. Eine
       Pfadfindergruppe. Seniorentreffs. Von der Wiege bis zur Bahre: evangelikal.
       
       Rosemarie D. (42) steht im Garten ihres Hauses in Archfeld im Werratal, ein
       Dorf am äußersten Rand Hessens. Sie trägt einen langen Rock und ein blaues
       Kopftuch, das mit Spangen an ihren blonden Haaren befestigt ist. Auf dem
       Arm hält sie die knapp ein Jahr alte Sulamith. Noah (5) und Jeremia (8)
       werfen sich gegenseitig einen Gummiring zu. "Hochwerfen und dann
       auffangen", ruft die Mutter. Sportunterricht. Zwischen Gemüsebeet und
       Gartenteich.
       
       Einige Meter weiter steht eine Wäschespinne. Darauf hängt ein T-Shirt, das
       einem der sieben Kinder gehört. Der Aufdruck lautet: "Ich bin ein
       Meisterwerk Gottes." Am Gartentor steht auf einem Holzschild: "Herr, Gott,
       du bist unsere Zuflucht für und für".
       
       Ende der 90er-Jahre haben sich Rosemarie und Jürgen D. in das
       150-Seelen-Dorf zurückgezogen, in ein altes Bauernhaus mit knarzenden
       Dielen und niedrigen Decken. Hier können sie leben, wie sie wollen. Oder
       eher: so leben, wie Gott es will. So dachten sie zumindest bis vor kurzem.
       
       Rosemarie und Jürgen D. weigern sich seit Jahren, ihre Kinder in eine
       Schule zu schicken. Sie wollen nicht, dass jemand anderes die Kinder
       unterrichtet als sie, die Eltern. Das Landgericht Kassel hat die beiden im
       Sommer deshalb zu je drei Monaten Gefängnis verurteilt. Die Familie ging in
       Revision, mit Erfolg, an Heilig Abend kam der Bescheid. Nun muss der Fall
       neu verhandelt werden. Ausgang: ungewiss.
       
       500 bis 1.000 sogenannter Homeschooling-Familien gibt es in Deutschland.
       Eine Entwicklung, die der Staat eigentlich unterbinden will. Die Entstehung
       von "Parallelgesellschaften" müsse verhindert werden, heißt es in den
       Urteilen hoher Gerichte.
       
       Parallelgesellschaft? Eine hessische Christenfamilie?
       
       Zum Klassenzimmer geht es den Flur entlang links. Dort steht eine kleine
       Schultafel, an der Wand hängt eine Weltkarte. Daniel (12) und Lukas (14)
       sitzen an ihren Schreibtischen. Sie haben Unterricht beim Vater. Lukas
       lernt Geschichte, Daniel Englisch. "She teaches. She ist das Subjekt",
       erklärt Jürgen D. Jeden Tag von sieben bis dreizehn Uhr ist Unterricht. Am
       Nachmittag dann verdient der studierte Politologe Geld mit
       Nachhilfeunterricht. Viel dürfte dabei nicht zusammenkommen. Aber auf
       irdische Reichtümer gibt die Familie sowieso nicht viel.
       
       Am Ende der Stunde vermerkt der Vater, was die Kinder gelernt haben.
       Englisch, Relativsätze, schreibt er in Daniels Ordner. In einem anderen
       Ordner, den er hervorkramt, hat er die Lehrpläne Thüringens abgeheftet, an
       denen er sich grob orientiere. "Das hat alles Hand und Fuß."
       
       Hat es das wirklich? Auf dem Schreibtisch liegen Stifte der
       fundamentalistischen "Partei Bibeltreuer Christen", die bei den letzten
       Bundestagswahlen knapp 110.000 Stimmen bekam. In den Regalen stehen
       Dutzende von alten Schulbüchern. Gängige Lehrwerke von Klett oder
       Diesterweg, wenn auch teils aus den Siebzigern. Im Regal mit den
       Biologiebüchern steht jedoch ein neueres Buch: "Evolution. Ein kritisches
       Lehrbuch", die bekannteste deutsche Kreationistenfibel. Einen Raum weiter
       steht "Die Evolutions-Lüge". Ein Buch, in dem es gleich zu Beginn heißt:
       "Aus einem Affen wurde nie ein Mensch!"
       
       Ist das der Grund, warum Familie D. ihre Kinder nicht in die Schule
       schicken wollen? Weil sie ihnen Darwin nicht zumuten wollen? Die
       Erkenntnisse jenes Mannes, dessen 200. Geburtstag die Welt im Februar
       feiert?
       
       Jürgen D. sitzt nach dem Unterricht in der kühlen Stube, der Holzofen ist
       an diesem Herbsttag noch nicht in Betrieb. Er trägt einen grauen Pulli,
       schwarze Jeans und braune Sandalen. "Der Glaube an Gott, an Jesus Christus,
       was spielt der denn noch für eine Rolle? Man wird als Christ ja heute fast
       schon belächelt", sagt er. Er kramt eine Schrift hervor, die er zusammen
       mit seiner Frau verfasst hat: "Jonathans Werdegang als Hausschüler". Er
       will damit zeigen, wie gut die Kinder lernen. Darin ist nachzulesen, wie
       der älteste Sohn nach Jahren des Hausunterrichts kurz die Realschule
       besuchte und mit einem Notenschnitt von 1,1 abschloss. Gerade hat Jonathan
       (16) eine Schreinerlehre angefangen. Ein Handwerksberuf. Wie Jesu Vater
       Josef, der Zimmermann.
       
       Es ist still geworden im Haus, trotz der sieben Kinder. Auch von draußen
       dringt kein Autolärm herein. Man hört keine Handys, keine Gameboys, keinen
       Fernseher, kein Radio. All das wollen die Eltern von ihren Kindern
       fernhalten.Was ist mit Sexualkunde? Die Frage lässt Jürgen D. unruhig
       werden. Dies sei kein Thema, das man im Unterricht explizit behandeln
       müsse, sagt er. Aber die Kinder bekämen ja alles mit. Wenn der Hahn die
       Henne auf dem Hof besteigt zum Beispiel.
       
       Rosemarie D. sitzt in der Küche, bereitet das Essen vor, Nudeln mit
       Tomatensalat. "Lieber drei Monate Gefängnis für uns Eltern als jahrelanges
       Gefängnis in der Schule für die Kinder", sagt sie. In der Schule seien der
       Manipulation Tür und Tor geöffnet. "Da kommen irgendwelche Modeströmungen
       rein und bestimmte Meinungen werden verfestigt." Was genau sie damit meint?
       "Das, was der Zeitgeist eben gerade diktiert."
       
       Auf dem Weg zum Bahnhof erzählt Jürgen D. von den Christenverfolgungen im
       Römischen Reich. Und davon, wie heute weltweit Christen unterdrückt würden.
       In China. Nordkorea. Was er nicht sagt, aber wohl meint: Inzwischen ist es
       auch hier schon so weit. Verbitterung klingt in seinen Worten mit. Übers
       Auswandern haben sie nachgedacht, aber das Geld fehlt.
       
       Die Familie als christliche Eiferer zu betrachten, ist die eine
       Möglichkeit. Man kann es aber auch so sehen: Vor hundert Jahren wären
       Jürgen und Rosemarie D. in Deutschland kaum aufgefallen. Im 21. Jahrhundert
       aber wirken sie wie aus der Zeit gefallen.
       
       "Gott hat uns diesen Weg gezeigt", sagt Jürgen D. zum Abschied. Dem
       Besucher drückt er ein Glas Honig in die Hand, von den eigenen Bienen. Und
       ein Neues Testament.
       
       Wolfgang Baake (58) bewegt seinen wuchtigen Körper in das Café Einstein in
       Berlin, Unter den Linden, nur wenige hundert Meter vom Bundestag entfernt.
       Ein Treffpunkt von Politikern, Journalisten, Lobbyisten. An den Wänden
       hängen Fotos von Genscher und Clinton. Baake ist so etwas wie der
       Cheflobbyist der deutschen Evangelikalen. Er nennt sich "Beauftragter am
       Sitz des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung". Seine
       Organisation, die "Deutsche Evangelische Allianz", findet sich auf der
       Lobbyliste des Bundestags auf Platz 744 von 2051, kurz nach der Deutschen
       Dystonie Gesellschaft. Baakes Themen sind der Schutz von Ehe und Familie,
       Abtreibung, Sterbehilfe. "Wir müssen dahin zurück, wo unsere Gesellschaft
       herkommt", sagt Baake zum Frühstück.
       
       enn er sich öffentlich zu Wort meldet, verteidigt Baake zum Beispiel
       Lehrer, die im Biologieunterricht die Schöpfungslehre unterrichten. Oder er
       kritisiert das ZDF aufgrund der Filmreihe "Sommernachtsfantasien". Für ihn
       ist diese dem Thema Erotik verpflichtete Reihe nichts anderes als
       "praktizierte Pornografie". Lange hat das, was er sagt, nur wenige
       interessiert. Im Dezember aber verlangte Baake den Rücktritt des Chefs der
       Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger - und hatte damit fast
       Erfolg. Streitpunkt war ein Text in einer bundesweiten Schülerzeitung, in
       dem die jugendlichen Autoren die Evangelikalen heftig kritisierten. Die
       Zeitung wird von der Bundesbehörde mitfinanziert. Auf Druck von bibeltreuen
       Christen und aus der Politik distanzierte sich Bundeszentralenchef Krüger
       von dem Schülerheft - und von einem Begleitschreiben, in dem er selbst
       Islamisten und evangelikale Gruppen verglichen hatte. Es ist zwar nur ein
       kleiner, aber doch bemerkenswerter Sieg für die Evangelikalen. Und für
       Baake.
       
       Ein Foto vom März des Jahres 2007 zeigt ihn und andere Vertreter der
       deutschen Evangelikalen im Berliner Bundeskanzleramt. Neben der
       Pfarrerstochter Angela Merkel. Es sei ein sehr interessantes Gespräch
       gewesen, erinnert sich Baake an diesem Freitag im Herbst. Was sie denn
       Interessantes miteinander besprochen haben? "Vertraulich." Nach dem
       Frühstück will Baake an diesem Tag noch Abgeordnete von Union und FDP
       treffen. Wen genau, sagt er wiederum nicht. Einen "Funktionär der
       Fundamentalisten" hat ihn die konservative Welt einmal genannt.
       
       Aber ist Baake das? Ein Fundamentalist? "Was ist besser, als auf einem
       Fundament zu stehen?", fragt Baake am Ende des Gesprächs zurück. "Dem
       Fundament der Bibel?"
       
       10 Jan 2009
       
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 (DIR) Wolf Schmidt
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 (DIR) Schule
       
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 (DIR) Debatte um eine Zwangsinstitution: Gar keine Schule
       
       Eine Gruppe Hamburger Eltern stellt die Schulpflicht infrage. Sie sagen,
       die Schule mache ihre Kinder krank. Sie wollen, dass Zuhauselernen erlaubt
       wird.
       
 (DIR) Flucht vor der Schulpflicht: Deutsche erhalten US-Asyl
       
       Damit sie ihre Kinder zu Hause unterrichten kann, siedelt Familie Romeike
       aus Baden-Württemberg in die USA über. Ein US-Gericht urteilte, die
       Romeikes würden politisch verfolgt.