# taz.de -- Retrospektive der Berlinale: Die Schau der Dinosaurier
       
       > Das Gedächtnis des Kinos: Die Entscheidung, die diesjährige Retrospektive
       > dem legendären 70-mm-Breitwandkino zu widmen, hat weltweit für
       > Begeisterung gesorgt.
       
 (IMG) Bild: Weltberühmt: der 70-mm-Streifen "Lawrence of Arabia".
       
       Der französische Regisseur Abel Gance war ein Pionier des Kinos. Als sein
       Historiendrama "Napoléon" im April 1927 in der Pariser Oper uraufgeführt
       wurde, setzte es nicht nur dank seiner Spieldauer von sechs Stunden
       Maßstäbe. Es war auch der erste kommerzielle Versuch, bis dato
       experimentell eingesetzte Breitwand-Verfahren in das Format eines epischen
       Kinos zu überführen.
       
       Wer jemals in den Genuss einer der seltenen Live-Aufführungen der von Kevin
       Brownlow restaurierten "Napoléon"-Fassung gekommen ist, wird bestätigen
       können, dass Gance Film zu den überwältigendsten Kino-Erlebnissen im Leben
       eines Filmliebhabers gehört. Wenn sich zu Beginn des letzten Aktes, mit der
       finalen Schlacht des Italien-Feldzugs, der Vorhang zu beiden Seiten der
       Leinwand öffnet und "Napoléon" sich mit Hilfe einer Dreifachprojektion
       schließlich in seiner ganzen panoramischen Pracht über das Blickfeld des
       Betrachters erstreckt, fällt es auch dem abgebrühtesten Kinogänger schwer,
       sich nicht von dem nationalistischen Pathos anstecken zu lassen. Seinerzeit
       aber kam Gance Film knapp zu spät. Das Kino stand kurz vor seiner zweiten
       Revolution, der Einführung des Tonfilms, und "Napoléon" geriet in
       Vergessenheit.
       
       Genau 25 Jahre später öffnete sich im New York Broadway Theatre erneut ein
       Vorhang. Weiter und weiter. Fred Waller und sein Partner Michael Todd
       hatten zur Premiere von "This is Cinerama" geladen, einem
       Demonstrationsfilm für das erste kommerziell verwertbare
       Breitwand-Kinoformat gleichen Namens. Die Lokalpresse überschlug sich
       regelrecht; die Daily News schrieb von der größten Sensation seit der
       Erfindung des Penicillins.
       
       Technisch basierte Cinerama auf Gance Tryptich-Technik mit drei parallel
       geschalteten Projektoren, wobei das Seitenverhältnis ihres Systems mit
       (Höhe zu Breite) 1 : 2,68 nicht ganz an das rekordverdächtige Format des
       "Napoleon"-Schlussakts (1 : 3,66) heranreichte. Als die 20th Century Fox im
       folgenden Jahr mit ihrem anamorphotisch verzerrten Cinemascope-System (1 :
       2,55 bzw. 1 : 2,35) auf den Markt drängte, zeichnete sich jedoch bereits
       ab, dass die Zukunft des Breitwand-Kinos im praktikableren
       Ein-Film-Verfahren liegen würde.
       
       Michael Todds legendäre Forderung nach einem Breitwand-System, bei dem
       "alles aus demselben Loch kommt" (womit die Projektormaske gemeint war),
       gab dann auch die Marschroute für die kommenden Jahre vor. Todd stieg bei
       Cinerama aus und schloss sich mit dem Unternehmen American Opticals
       zusammen. Um mit den panoramischen Dimensionen von Cinerama konkurrieren zu
       können, wählten sie ein Filmformat, mit dem bereits in der Frühgeschichte
       des Kinos experimentiert worden war: 65 mm (für das Kameranegativ) bzw. 70
       mm (für die Projektionskopie), bei einem Bildseitenverhältnis von 1 : 2,22.
       Der Name dieses 65/70-Systems gilt bis heute als Synonym für das 70-mm-Kino
       schlechthin: Todd-AO.
       
       Die Entscheidung der Deutschen Kinemathek, die diesjährige
       Berlinale-Retrospektive dem 70-mm-Kino zu widmen, hat unter
       Filmenthusiasten weltweit zu Recht für Begeisterung gesorgt. Die Wahl
       stellt nicht zuletzt auch einen Paradigmenwechsel für die Retrospektive
       dar, die sich in den letzten Jahren vornehmlich über Namen und inhaltliche
       Konzepte der Filmgeschichte angenähert hat. Der 70-mm-Film hingegen gilt
       nicht unbedingt als Metier von Auteurs und künstlerischen Innovationen; es
       ist zuallererst eine großartige Ingenieursleistung, die in einer solch
       geballten Form (26 Filme aus den Jahren 1956 bis 1999) möglicherweise auch
       Anstoß geben könnte, das Kino endlich einmal wieder als technikhistorische
       Errungenschaft zu feiern.
       
       Die Entwicklung von speziell gekrümmten Weitwinkelobjektiven, verbesserter
       Projektionstechnik und optimierten Farbmaterialien (u. a. von Eastman
       Kodak) bildeten die Grundlage des 70-mm-Films; genauso wie neue Filmpaläste
       mit konkaven Großbildleinwänden. Eine zweite, ebenso wichtige Innovation
       war das neue Sechsspur-Magnetton-Verfahren, das die 70-mm-Kopien mit einem
       bis dahin ungehörten Surround-Sound ausstattete. Neben der Farbbrillanz und
       der Schärfe der großformatigen Filmbilder (von der Fläche her knapp dreimal
       so groß wie ein herkömmliches 35-mm-Bildkader) war der räumliche Klang Ende
       der Fünfzigerjahre das beste Verkaufsargument des 70-mm-Films gegenüber der
       rasch wachsenden Konkurrenz des Fernsehens.
       
       Der 70-mm-Film ist "Spektakelkino" im besten Sinne, das unterstreicht schon
       ein Blick auf das Programm der diesjährigen Retrospektive: "Ben-Hur",
       "Cleopatra", "Mutiny on the Bounty", "West Side Story", "Lawrence of
       Arabia", "2001 - Space Odyssey", "Patton", "Voina i mir" ("Krieg und
       Frieden"). Kaum ein Film unter zweieinhalb Stunden, epische Themen,
       überlebensgroße Figuren, historische Ereignisse - der 70-mm-Film stand von
       Beginn an für großes Kino ("Bigger than Life" so dann auch der Titel dieser
       Retrospektive).
       
       Nicht ganz zufällig fiel seine Blütezeit in jene Phase, als die
       traditionsreichen Hollywood-Studios ökonomisch zu wanken begann. Der echte
       70-mm-Film - in Abgrenzung zu den vielen auf 35-mm-Negativen gedrehten
       Titeln, von denen "aufgeblasene" Verleihkopien kursierten - mit seinen
       konkurrierenden Systemen Todd-AO, Super Panavision 70, MGM Camera 65,
       Dimension 150 und 70 mm Super Cinerama (in Osteuropa entstanden parallel
       dazu die bahnbrechenden 70/70-Systeme DEFA 70 und Sovscope-70) wurde zum
       Ausdruck und gleichzeitig zum Symptom dieser Krise. Sein Bombast war eine
       Reaktion auf die schwarz-weiße Kleinförmigkeit des Fernsehens, der letzte
       Distinktionsgewinn des alten Hollywoods. Zugleich beförderten gerade diese
       Prestigefilme mit ihren oftmals monumentalen Budgets die Studios an den
       Rand des Ruins. Joseph L. Mankiewicz gigantischer Flop "Cleopatra" stand
       lange Zeit in dem Ruf, das Studiosystem ganz allein in die Knie gezwungen
       zu haben.
       
       Diese Tatsache macht die diesjährige Retrospektive auch zu einer Art
       Dinosaurierschau. They dont make movies like these anymore. Sie bietet
       allerdings die seltene Chance, diese Filme noch einmal in jenem
       historischen Format zu erleben, für das sie einst konzipiert worden waren.
       Die Deutsche Kinemathek hat einen enormen logistischen Aufwand betrieben,
       um eine authentische Präsentation der teils originalen, teils restaurierten
       70-mm-Kopien zu gewährleisten. Spielstätte für die anamorphotisch leicht
       gezerrten Kopien ist das Kino International, das letzte überlebende
       70-mm-Kino aus DDR-Zeiten.
       
       Diese Retrospektive ist, so viel kann man ihr schon im Vorfeld
       bescheinigen, ein Triumph, wie er noch vor wenigen Jahren unmöglich gewesen
       wäre. Anlässlich einer großen Cinemascope-Retrospektive 1988 hatte die
       Münchner Filmpublizistin Frieda Grafe noch den bedauernswerten Zustand
       vieler Kopien beklagt, die allenfalls eine Ahnung von der ursprünglichen
       Pracht der Filme vermittelten. Und sie hoffte auf eine zukünftig bessere
       Zusammenarbeit zwischen Festivals wie der Berlinale und den großen Studios.
       
       Dieser damals fromme Wunsch ist inzwischen Realität geworden. Heute kann
       die Berlinale-Retrospektive aus einem Fundus an restaurierten Titeln
       schöpfen; gleichzeitig genießt sie als Archivfestival mittlerweile einen
       Status, der Filmarchive wie Studios in die Verantwortung nimmt, für
       bestmögliche Kopien ihrer Filme zu sorgen. So ist im Rahmen der 70-mm-Retro
       erstmals die vom Bundesfilmarchiv in Auftrag gegebene restaurierte Fassung
       des Travelogue-Films "Flying Clipper - Traumreise unter weißen Segeln" zu
       sehen. Auch die aufgeführten Kopien von "Cleopatra", "Lord Jim", "2001 -
       Space Odyssey", "Hello Dolly", "Khartoum", "Patton", "Playtime" der
       Robert-Wise-Musicals "West Side Story", "Sound of Music" und "Star" sind
       allesamt Restaurierungen der letzten Jahre.
       
       Der technische Aufwand dieser Restaurierungen kann gar nicht genug
       gewürdigt werden. Weltweit existieren nur noch eine Handvoll Kopierwerke,
       die überhaupt in der Lage sind, 70-mm-Kopien zu erstellen. Die diesjährige
       Retrospektive befindet sich damit auch an einem geschichtlichen
       Scheidepunkt. In wenigen Jahren wird die traditionelle, analoge
       Filmprojektion aus den Kinos verschwunden sein und allenfalls von
       Filmmuseen und Archivfestivals aufrechterhalten werden können. Formate wie
       35 mm oder 70 mm interessieren dann nur noch Historiker. Insofern kommt die
       Retrospektive "Bigger than Life" zum richtigen Zeitpunkt. In ihr
       manifestiert sich noch einmal ein historisches Bewusstsein des Kinos, das
       gleichermaßen von dessen technischem und künstlerischem Erfindergeist
       zeugt.
       
       5 Feb 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Busche
       
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