# taz.de -- Julia Franck über ihr neues Buch: "Die Grenze hat sich verändert"
       
       > Ihr neues Buch, eine Anthologie über die deutsche Teilung, heißt
       > "Grenzübergänge" - im Überschreiten von Grenzen hat Julia Franck
       > Erfahrung: Ihre Kindheit verbrachte sie in Ost- und Westberlin.
       
 (IMG) Bild: Julia Franck schaut auch mal über den Tellerrand - hier von ihrem Balkon.
       
       taz: Frau Franck, in dem von Ihnen herausgegebenen Band "Grenzübergänge.
       Autoren aus Ost und West erinnern sich" wird Ihr Schriftsteller-Kollege
       Volker Braun mit den Worten zitiert, die DDR sei das langweiligste Land der
       Welt gewesen. Sehen Sie das auch so? 
       
       Julia Franck: Ich glaube nicht, dass die DDR langweiliger oder
       interessanter war als Wohnort als andere Länder. Ich vermute, er meint das
       als Provokation: Natürlich wird vieles im Nachhinein in die DDR
       hineininterpretiert, vieles wird mystifiziert, was mit dem Land
       zusammenhängt.
       
       Viele Autoren haben Ihre Einladung, einen Beitrag zu dem Buch zu schreiben,
       abgelehnt. Offenbar haben sie keinen Bezug mehr zur DDR, zur Grenze oder
       hatten nie einen. Empfinden Sie das als Ignoranz seitens der "Westler"
       gegenüber der DDR? 
       
       Ignoranz klingt so absichtsvoll. Ich glaube, es war einfach außerhalb des
       Interessenshorizonts vieler in Westdeutschland und auch in Westberlin
       lebender Menschen. Was mich vielmehr an den Begründungen zur Absage
       verwunderte, ist der häufig genannte "Mangel an Erfahrung". Hier stellt
       sich die Frage, wann eine Erfahrung eine solche ist und ob nicht auch ihr
       Mangel literarisch reizvoll gewesen sein könnte.
       
       Welche Absage hat am meisten geschmerzt? 
       
       Ich habe die Stimmen von Christa Wolf, Volker Braun, Hans Magnus
       Enzensberger und Peter Handke vermisst, das sage ich ganz offen. Diese
       Stimmen hätte ich gern in diesem Band gehabt. Das wären für mich vier
       Stimmen gewesen, die ich gerade, weil sie weit auseinanderliegen und ihr
       Blick auf die Grenze ein sehr unterschiedlicher sein muss, gerne
       dabeihätte.
       
       Sie sagen ja, dass es um das Überwinden von Grenzen in den Köpfen geht. Das
       setzt voraus, dass die Grenze noch vorhanden ist. 
       
       Ich denke, die Grenze hat sich sehr verändert in den letzten 20 Jahren. Sie
       besteht nicht mehr mit ihrer ganzen Undurchlässigkeit, bleibt aber in der
       Erinnerung lebendig. Bei bestimmten Themen wird schnell deutlich, aus
       welchem Teil Deutschlands man kommt. An denen sich zeigt, welche
       Identitäten sich entlang der Grenze herausgebildet haben durch das
       Heranwachsen hier oder drüben. Das ist auch in Bezug auf manche
       Entscheidungen nicht unwichtig - ich habe Freunde, die nach der Wende
       unbedingt nach Prenzlauer Berg oder Friedrichshain ziehen wollten, die aber
       in den Ferien nie in den ehemaligen Osten fahren würden. Das mit dem
       Service würde da nicht so gut klappen und so weiter. Da kommen viele
       Vorurteile hoch, die zeigen, dass da noch Fremdsein oder Unbehagen ist.
       
       War es für Sie eine bewusste Entscheidung, nach Friedenau zu ziehen, in den
       "Ur-Westen"? 
       
       Die Entscheidung, ob Westen oder Osten, war weniger wichtig. Ich wollte
       eben nicht mehr im Prenzlauer Berg wohnen, weil ich einen Beruf habe, der
       große Zurückgezogenheit erfordert. Ich wollte nicht mehr ständig Freunde
       auf der Straße treffen. Für mich ist der Rückzug wichtig. Ich habe mich mit
       dem Vater meiner Kinder darauf geeinigt, dass wir in die Nähe voneinander
       ziehen und unsere Kinder kurze Wege haben - es waren also viele praktische
       Gründe.
       
       Sind Sie jetzt ein Stück weit angekommen nach mehreren Umzügen in Berlin? 
       
       Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir schon wieder vorstellen, auch woanders
       in der Stadt zu wohnen. Was ich schätzen gelernt habe in Berlin, ist, dass
       ich mich in vielen Stadtteilen vertraut fühlen kann. Ich würde trotzdem in
       den nächsten zwei, drei Jahren keine neue Wohnung suchen, weil meine Kinder
       ihren Freundeskreis nicht schon wieder aufgeben sollen müssen.
       
       Sie sind als Kind ins Flüchtlingslager nach Marienfelde gekommen. Es war
       Ihre Initialzündung zu schreiben, haben Sie einmal gesagt. 
       
       Die Monate in dem Notaufnahmelager waren in Abhängigkeit zum Ort sicher die
       furchtbarsten in meinem Leben. Niemals sonst hat ein Ort so stark auf mein
       Leben und den Alltag gewirkt. Es ist für jeden Menschen schrecklich, auf so
       engem Raum und so unentrinnbar mit Menschen zusammenzuleben. Dazu wurden
       wir in der Schule als "Lagerkinder" verspottet und verprügelt; aus dieser
       Zeit ist mir die Erfahrung, fremd zu sein in einem Land, sehr eindringlich
       in Erinnerung geblieben.
       
       Wie kamen Sie dort zum Schreiben? 
       
       Das Weihnachtsgeschenk meiner Mutter an meine Zwillingsschwester und mich
       bestand aus je einem einfachen Heft mit einem Klarsichtfenster auf der
       Vorderseite; mit dem Hinweis, dieses Blanko könnten wir als Tagebuch
       benutzen. Schon bald war ich überdrüssig, das, was ich erlebt hatte, auch
       noch aufschreiben zu sollen. Ich verfasste also fiktionale Geschichten, die
       natürlich noch sehr viel mit meinem Alltag zu tun hatten.
       
       Sie haben sich übers Schreiben als Kind versucht, sich einen neuen, eigenen
       Raum zu schaffen? 
       
       Einen ideellen Raum, ja. Das Schreiben wurde für mich der Ort des Daseins
       und zugleich der Flucht aus der körperlichen Verortung im Lageralltag, dem
       Gefühl von Gefangenschaft, und das blieb über viele Jahre eine nahezu
       zwanghafte Neigung von mir. Nachmittags nach der Schule schrieb ich,
       Geschichten, Gedichte, Tagebücher, Briefe.
       
       Es drängt sich der Eindruck auf, dass Sie in jedem Roman einen Teil von
       sich verarbeiten. 
       
       Keiner meiner Romane ließe sich eins zu eins als meine Biografie lesen.
       Wohl aber partiell. Im Kern ist jede Arbeit eng verknüpft mit Dingen, die
       mich geprägt haben. Eher hat mich wohl meist das Thema gepackt, als dass
       ich das Thema packe.
       
       Ist eines dieser Themen das des Verlassenwerdens, das in Ihrem
       preisgekrönten Roman "Die Mittagsfrau" im Zentrum steht? 
       
       Das ist vielleicht mein archetypisches Thema - verlassen und verlassen
       werden von Orten und auch von Menschen. Der Umzug von Ost nach West war
       nicht die erste Erfahrung, schon innerhalb des Ostens sind wir mehrfach
       umgezogen, als Säugling war ich in einer Pflegefamilie, als Kleinkind im
       Wochenheim, dazwischen wechselnde Wohnungen, Bezugspersonen, Kindergärten
       und später Schulen. Über bewusste Entscheidungen versuche ich, meinen
       Kindern ein anderes Aufwachsen zu ermöglichen, eines, das mehr Kontinuität
       verspricht.
       
       In Ihrem Roman wurden die Passagen, in denen es um das Verlassenwerden
       geht, sehr gelobt. Andere, gerade die Erzählungen über das Berlin der
       20er-Jahre, wurden scharf kritisiert. Wie gehen Sie mit so harscher Kritik
       um wie etwa dem Vorwurf einer "gestelzten Sprache" und "klischeehafter
       Darstellung"? 
       
       Es gab Tage, an denen ich mich kaum aus dem Haus traute, beschämt, dass ich
       es überhaupt wage, einen Roman zu veröffentlichen. Polemik und Häme trifft
       persönlich genau an der Stelle, an der sie treffen will. Vielleicht ist
       Kritik ein natürlicher, demokratischer Reflex auf Kunst. Sie misst sich an
       ihrer Streitbarkeit. Daran, dass das subjektive Empfinden des Betrachters
       sich genau an diesem einen Objekt in mehrere Lagen hinein streitet. Ich
       versuche, das, was persönlich treffen soll, zu ertragen. Froh bin ich, dass
       32 fremdsprachige Verlage ihre Entscheidung getroffen haben, das Buch zu
       veröffentlichen. Froh bin ich auch über die ökonomische Unabhängigkeit, die
       mir aus dem Erfolg erwächst. Alles Weitere, in welcher Form der Roman in 50
       Jahren noch Bestand hat, entscheiden wohl spätere Leser.
       
       Kritik, zum Teil harsche, brachte Ihnen ja auch der Essay im Spiegel ein,
       in dem Sie gegen das Volksbegehren "Pro Reli" Position bezogen. Warum haben
       Sie sich öffentlich geäußert? 
       
       Anfangs hielt ich es für ein kommunales Thema unter vielen. Erst als die
       Pro-Reli-Initiative allgegenwärtig wurde und ich bemerkte, wie emotional
       aufgeladen und aggressiv die Debatte geführt wurde, beschloss ich mich zu
       positionieren.
       
       Die Pro-Reli-Kampagne fordert, was in den meisten deutschen Bundesländern
       gang und gäbe ist. Ethik als Pflichtfach ist ja die Ausnahme. 
       
       Das ist ein Argument von Pro Reli, das ich für schwach halte. Warum sollte
       etwas gut sein, nur weil es in den meisten Bundesländern üblich ist?
       Religion als ordentliches Lehrfach wurde in der Verfassung von 1919
       festgelegt. Das ist lange her. Die Kirche hat den Nationalsozialismus nicht
       verhindern können. Religion allgemein verhindert keine Kriege und
       Auseinandersetzungen. In Regionen, wo Religion fest verankert ist wie im
       Gaza-Streifen, gehört Krieg zum Alltag. Das Argument der
       Pro-Reli-Aktivisten, dass man sich anderen Religionen und Kulturen erst
       öffnen kann, wenn man ein tieferes Verständnis der eigenen Religion
       gewonnen hat, wird von der Realität entkräftet.
       
       Worin sehen Sie den Vorteil des Ethikunterrichts gegenüber dem
       Religionsunterricht? 
       
       Ich glaube, dass die Konkurrenz zwischen beiden konstruiert ist. Die
       Religion konkurriert mit der Ethik so wenig, wie der Geschichtsunterricht
       mit Religion konkurriert. Ethik ist ein Teilbereich der Philosophie, der
       die Religion berücksichtigt und als Fach die Möglichkeit bietet, über
       gemeinsame und unterschiedliche Werte zu diskutieren.
       
       Glauben Sie wirklich, dass ein streng muslimisch erzogenes Kind im
       Unterricht über seine kulturelle Prägung spricht - etwa über so intime
       Dinge wie den Ehrbegriff der Familie? 
       
       Ist das nicht ein Vorurteil? Warum nicht? Es ist Aufgabe des Lehrers, ein
       Klima zu schaffen, in dem ein muslimisches Kind über intime Dinge sprechen
       kann. Kleinere Klassen helfen hier sicherlich mehr als ein nach Herkunft
       getrennter Unterricht. Es ist keineswegs so, dass christliche Religion
       durch das Fach Ethik aus dem Unterricht verdrängt wird. Man kann im
       Deutschunterricht Literatur ja gar nicht verständlich machen, ohne auf das
       abendländische Weltbild einzugehen, das der Literatur zu Grunde liegt.
       Musik, Kunst und Geschichte ebenso. Was ich befürchte, wenn die
       Pro-Reli-Kampagne sich durchsetzt, ist eine Spaltung der Schülerschaft.
       Keine Schule hat die Kapazitäten, Religionsunterricht in mehreren
       konfessionellen Ausrichtungen anzubieten. Das bedeutet, dass an der einen
       Schule die Thora, an der anderen die Bibel und an der nächsten der Koran
       unterrichtet wird. Mein Kind wäre dann kaum mit muslimischen Kindern an
       derselben Schule. Und das will ich einfach nicht.
       
       Sie sind engagiert in der Diskussion um Pro Reli, geben einen Ost-West-Band
       heraus, der gerade erschienen ist, werden diesen Band überall in
       Deutschland vorstellen. Bleibt noch Zeit für die Arbeit an einem neuen
       Buch? 
       
       Ja, ich arbeite an einem neuen Roman. Werde aber erst ab September die Zeit
       haben, mich ihm ganz zu widmen.
       
       Welche Idee haben Sie für den neuen Roman? Die eigene Biografie ist langsam
       erschöpft, oder? 
       
       Ach, Sie ahnen ja gar nicht, mit welchen Erfahrungen meiner Biografie ich
       noch nicht gearbeitet habe. Mein Leben ist wesentlich vielseitiger als das,
       was ich bislang in Interviews und Büchern erzählen wollte.
       
       16 Mar 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kristina Pezzei
 (DIR) Philipp Sawallisch
       
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