# taz.de -- China 20 Jahre nach Tiananmen-Massaker: Tradition statt Revolte
       
       > Trotz seines Scheiterns hat der Aufstand auf dem Platz des Himmlischen
       > Friedens von 1989 die Volksrepublik China enorm verändert - allerdings
       > nicht so wie im Westen erwartet.
       
 (IMG) Bild: Menschen auf dem Tiananmen-Platz - aber nicht zum Demonstrieren.
       
       Die Studenten der Peking-Universität tragen heute Jeans, Adidas-Turnschuhe
       und einen Laptop unterm Arm. Sie lesen im Internet die New York Times und
       haben Software geladen, mit der sie die Zensur umgehen. Sie sind immer noch
       Chinas junge Elite. Und doch sind uns die chinesischen Studenten von heute
       in mancher Hinsicht ferner und fremder als ihre Vorgänger vor 20 Jahren.
       
       Damals unternahm ich meine erste Reise nach China - zu den revoltierenden
       Studenten von 1989. Auf dem Campus der Peking-Universität, auf dem kleinen,
       asphaltierten Platz mit seiner dreieckigen Verkehrsinsel, einem Buchladen
       und einem winzigen Laden, traf ich einige von ihnen. Dieser Platz war das
       geistige Zentrum der Bewegung.
       
       Ringsherum an den Mauern der Studentenheime hingen unzählige selbst gemalte
       Wandzeitungen - das einzige Verständigungsmedium der Studenten. Sie
       schilderten den Verlauf der Revolte, von der anfänglichen Kritik an der
       Korruption im Parteiapparat bis hin zu den radikalen demokratischen
       Forderungen in der Endphase des Protests.
       
       Die Studenten nahmen mich mit ins Wohnheim. Sie wohnten zu sechst oder zu
       acht in kleinen Zimmern. Dort stapelten sich die chinesischen
       Erstübersetzungen von Sartre, Camus, Foucault und Habermas in den Regalen,
       und aus alten Kassettenrekordern krächzte Rockmusik. Ich wohnte damals in
       Paris, wo die Vorbereitungen auf das 200. Jubiläum der Französischen
       Revolution liefen. Kaum hatte ich das den Studenten erzählt, verwickelten
       sie mich in lange Diskussionen über die Französische Revolution. Kein Thema
       schien ihnen in diesem Augenblick näher zu sein als Revolution.
       
       Der Mai hatte in Peking die Arbeiter auf die Straßen gebracht. Nicht mal
       die Kader hielt es noch in ihren Bürostuben. In den Ministerien und
       staatlichen Medien organisierten Beamte und Journalisten
       Solidaritätsdemonstrationen für die protestierenden Studenten. Das
       Politbüro unter dem mit den Studenten sympathisierenden Generalsekretär
       Zhao Ziyang hörte auf zu funktionieren. Ganz Peking stand kopf. Bis Deng
       Xiaoping die Armee zu den Waffen rief.
       
       Zwanzig Jahre später weiß ich: Nie haben die jungen politischen Eliten in
       Peking so westlich gedacht wie damals - eine Folge der Entwicklung der
       Achtzigerjahre. Nach der Kulturrevolution hatte sich China geistig
       geöffnet; es war die größte Öffnung seit den Zwanzigern, als die
       4.-Mai-Bewegung über das Land fegte und zur Gründung der KP führte. Jetzt
       aber hatten Maoismus und Marxismus bei der Jugend ausgedient.
       
       Gao Xingjian, der Sarte-Übersetzer und spätere Literaturnobelpreisträger,
       hatte in Peking als Dramatiker ein neues, existenzialistisches Theater
       begründet. Xu Xing, der junge Wilde unter den Pekinger Schriftstellern,
       hatte den libertären, ichzentrieten Roman erfunden, den es in der
       chinesischen Literatur bis dahin nicht gegeben hatte. Und Cui Jian der
       Rockmusik eine chinesische Stimme gegeben. Das waren die Achtziger in
       China: eine Emanzipation des Geistes und des Individuums anhand westlicher
       Vorbilder. Gao war ein Sarte-Nachbeter, Xu ein chinesischer Hermann Hesse,
       Cui liebte die Stones. Kein Wunder also, wenn ihre vielen jungen Fans, die
       1989 auf den Tiananmenplatz zogen, im Sog ihres Protests eine Replik der
       New Yorker Freiheitsstatue errichteten. Das Neue, Unbekannte, Faszinierende
       war westlich. Es formte sich eine Generation: die 89er.
       
       Die politische Freiheit blieb ihnen versagt. Stattdessen gelangten viele
       von ihnen zu Reichtum, als die Partei 1992 als Reaktion auf die Revolte die
       Gründung von Privatunternehmen in den Städten erlaubte. Also versuchten
       sich die 89er im Unternehmertum, was ihren Unmut entschärfte.
       
       China 1989 war eben nicht Frankreich 1789: Ein Bürgertum gab es noch nicht.
       Aber 1989 war in China der Auslöser für die Entstehung eines Bürgertums. Es
       hat das Land zwanzig Jahre später zur drittgrößten Wirtschaftsmacht der
       Welt gemacht. Was natürlich seither die Erwartungen im Westen schürt, dass
       es nun doch bald zur Revolution in China kommen müsste. Doch die
       Erwartungen sind unbegründet.
       
       Es fiel im Westen leicht, den Einfluss der 89er fehlzudeuten. Ihre
       demokratische Revolutionsbegeisterung auf dem Tiananmenplatz war zwar echt,
       aber angelesen. Die Arbeitermassen, die den Studenten zeitweise folgten,
       kämpften stattdessen gegen ihre Verarmung unter der Misswirtschaft der
       Partei. Die radikalen individualemanzipatorischen Botschaften der Gaos, Xus
       und Cuis hatten sie nie erreicht, noch weniger die Bauernmassen auf dem
       Land. Die Partei hatte also Zeit, nachdem sie die Studenten ruhiggestellt
       hatte. Sie musste vorerst nur besser wirtschaften. Auf die Dauer aber hätte
       das nicht genügt, zumal die in den 90er-Jahren von der KP aufgenommene
       marktwirtschaftliche Wirtschaftsideologie ja für sie ebenfalls gefährlich
       war.
       
       Doch China hat eine große, über viele Dynastien hinweg geformte politische
       Tradition, die unter Mao verloren gegangen war. Noch die 89er waren
       gewissermaßen seine Adepten, indem sie dem Land ein neues politisches
       System verordnen wollten. Aber je länger die pragmatische Herrschaft Deng
       Xiaopings währte und wirtschaftlichen Erfolg brachte, desto mehr entdeckte
       China seine alten politischen Traditionen wieder.
       
       Ausgerechnet ein radikaler 89er, der Philosoph Wang Hui, brachte diese
       Entwicklung erstmals zum Ausdruck. Chinas Intellektuelle, behauptete Wang
       in seinem bahnbrechenden Aufsatz "Ideelle Verfassung im heutigen China und
       die Frage der Modernität" aus dem Jahr 1997, hätten unter Modernisierung
       stets nur die Kritik der eigenen Tradition verstanden, "wobei sie die
       Kultur und Werte der modernen westlichen Gesellschaft zum Maßstab nehmen".
       Dem aber erteilte Wang nun eine klare Absage. China, so forderte Wang,
       brauche "neue Theorien und Systeme".
       
       Sein Aufsatz markierte eine Wende im Post-89er-Denken. Plötzlich herrschte
       ein neuer Konsens, dass China kein historisches Auslaufmodell wie die
       Sowjetunion war. Es gab wieder Dinge im Land, die funktionierten. Und man
       fragte: Warum? Die Antworten kamen oft von weit her aus der eigenen
       Geschichte. Deng hatte sich, erst posthum erkennbar - er starb 1997 -, als
       vorzüglicher Konfuzianer erwiesen. Er hatte die alte Eliteschulung für die
       Staatsbeamten wieder eingeführt. Dass nur die Klügsten dem Staat dienen,
       unabhängig von ihrem Gesellschaftsstand, hatte Chinas Dynastien über
       Jahrtausende das Überleben gesichert. Deng hatte eine Landreform, die eine
       egalitäre Bodenaufteilung mit dem Anreiz zur Gründung
       privatkapitalistischer Familienbetriebe verband, an den Anfang all seiner
       Reformen gestellt. Schließlich vertraute er auf einen Föderalismus, wie er
       zuletzt in Zeiten der Qing-Dyanstie gepredigt worden war. All das aber trat
       Intellektuellen wie Wang Hui erst später ins Bewusstsein. 1989 war Deng für
       sie noch ein Schlächter gewesen.
       
       Mit der Entdeckung der Tradition in der eigenen Politik aber wich der Drang
       nach radikalen Systemveränderungen. Nicht nur die wirtschaftliche
       Entwicklung trug dazu bei. Auch das Gefühl, die KP habe sich mit der Zeit
       von einem Einmannbetrieb in einen professionellen konfuzianischen
       Staatsapparat verwandelt. Der ist zwar bekanntermaßen korrupt, doch
       Korruption war in China zu allen Zeiten ein Problem. Das ärgert viele
       Chinesen. Aber das gilt für sie nicht als Systemkritik. Viel stärker ist
       heute die Erwartung, dass der Staat als guter Verwalter alle Chinesen am
       Reichtum teilhaben lässt. Das wollen sogar die neuen Mittelschichten, zu
       denen viele 89er heute zählen. Denn sie fürchten sich vor dem Sozialneid
       einer verarmten Bauernschaft. Darin aber erweist sich die KP immer noch als
       erfolgreich: Sie schafft es, Schulen, Straßen und Krankenstationen bis in
       jeden Winkel des Landes zu verteilen.
       
       Haben die 89er verloren? Im Gegenteil. Die Kollektive sind aufgelöst. Der
       Individualismus hat seinen Siegeszug angetreten. Aber China ist groß und
       folgt seinen eigenen politischen Regeln. Die Versuche, sie auszuheben, sind
       im 20. Jahrhundert alle gescheitert. Besser, man versucht es nicht noch
       einmal. Auch auf die Gefahr hin, dass der Westen es nicht versteht.
       
       2 Jun 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Georg Blume
       
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