# taz.de -- Gescheitert an der Festung Europa: Georges' Odyssee durch Afrika
       
       > Er hatte es fast geschafft, aber kurz vor Lampedusa wurde das Boot von
       > der libyschen Küstenwache gerammt. Seine Reise führte quer durch Afrika.
       > Die Geschichte der Odyssee
       
 (IMG) Bild: Ein Boot, das wie jenes von Georges N. ebenfalls absoff: Afrikanische Flüchtlinge im Mittelmeer. (Archivbild von 2003. Diese Menschen wurden von italiens Küstenwache gerettet – und abgeschoben.)
       
       Ich bin 30 Jahre alt, diplomierter Betriebswirtschaftler der Universität
       Douala in Kamerun und arbeitslos. Ein Jahr habe ich mit dem Versuch
       verbracht, von Afrika nach Europa zu gelangen. Ich habe viel auf dieser
       Reise gelernt. Wenn meine Familie mir nicht geholfen hätte, wäre ich nicht
       lebend zurückgekommen, und ich bin ihr unendlich dankbar. Die Überfahrt
       über das Meer ist sehr riskant, und die langen Fahrten durch die Wüste sind
       es ebenfalls - es gibt keine Überlebensgarantie.
       
       Meine Reise begann an einem Tag im März 2008, kurz nach den schweren
       Unruhen in Kamerun, bei denen über 100 Jugendliche bei Protesten gegen die
       Regierung getötet wurden. Ich beschloss wegzugehen. Ich setzte mich in den
       Zug aus Douala nach Ngaoundéré. Ich hatte als Startkapital 230.000
       CFA-Franc (ca. 350 Euro) dabei: ein Teil bestand aus persönlichen
       Ersparnissen, ein Teil war geborgt.
       
       Als ich morgens früh um neun nach 15 Stunden Fahrt in Ngaoundéré ankam,
       stieg ich sofort in einen Bus nach Kousséri, ganz im Norden Kameruns. Erst
       in der Nacht darauf kam ich an, um 2 Uhr früh. Zwei Tage blieb ich in
       Kousséri, dann reiste ich weiter zur nigerianischen Grenze, wo ich
       problemlos ein kamerunisches Ausreisevisum bekam und ein Transitvisum für
       Nigeria. Ich gelangte ohne Probleme nach Maiduguri, dann nach Kano, und von
       dort ging die Reise weiter nach Niger.
       
       In Niger fingen die Schwierigkeiten an. Die Sicherheitskräfte an der Grenze
       verlangen Geld, um dich weiterreisen zu lassen. Und Kameruner sind nicht
       willkommen, weil sie als Straßenräuber verrufen sind. Nun, ich kam weiter.
       Aber mit dem Auto durch Niger in Richtung Norden zu fahren, ist nicht
       einfach, denn es gibt in Niger eine bewaffnete Rebellion. Die Autos müssen
       im Konvoi fahren, mit Militäreskorte, und die Fahrt dauert mehrere Tage. Es
       gibt viele Schikanen der Polizei, und wenn du nicht aufpasst, ist nach
       einer Durchsuchung dein Geld weg, und du kannst von vorne anfangen.
       
       Niger ist ein sehr armes Land, alles ist sehr hart und schwierig. Ich habe
       junge Kameruner gesehen, die dort sechs Monate und mehr arbeiten, um am
       Ende umgerechnet 50 Euro zu verdienen, wenn sie sie überhaupt bekommen.
       Wenn dann die Familie von zu Hause nichts schickt, ist es das nackte Elend.
       Kann man die Polizisten schmieren, ist die Reise leichter. Auf diese Weise
       gelangte ich bis in die letzte nigrische Stadt vor der Wüste: Arlit.
       
       In Arlit läuft der gesamte Handel mit den Maghreb-Ländern zusammen. Es gibt
       einen großen Busbahnhof, und die Buseigentümer besorgen dir Unterkunft bis
       zur Abreise. Es gibt zwei Arten von Bussen: Landrovers, die aber teurer
       sind, weil sie nicht so viele Leute mitnehmen, vielleicht zehn - die Fahrt
       kostet 25.000 FCFA (ca. 38 Euro). Oder Toyota-Pick-ups, wo man hinten auf
       der Ladefläche sitzt. Die sind billiger und voller.
       
       Wir haben uns in einen Toyota gezwängt, aneinandergedrängt wie die Ziegen,
       insgesamt passen 35 bis 40 Leute auf einen solchen Wagen. Man muss kräftig
       sein, um seinen Platz verteidigen zu können. Wer schwächelt, kann
       herunterfallen, und meistens fährt das Auto dann einfach weiter. Wir haben
       mehrere junge Leute in der Wüste begraben.
       
       Die Wüste ist ein sehr gefährlicher Ort, eine Welt für sich, eine Welt aus
       Sand und sonst nichts. Jeder Reisende sollte mindestens zehn Liter Wasser
       dabeihaben und etwas zu essen, also Tapioca, Kekse und große Dosen
       gezuckerter Milch. Essen kann man nur, wenn der Fahrer Pause macht. Die
       Fahrt im Pick-up dauert zwei Tage.
       
       Unsere Reise endete zehn Kilometer vor Tamanrasset, der ersten großen Stadt
       in Algerien. Wir mussten aussteigen und einen Führer finden, der uns in der
       Stadt bei unserer jeweiligen Gemeinschaft unterbrachte. Diese Führer
       betreiben das als Geschäft, sie warten schon auf die Leute und nehmen sie
       mit, und wenn man das nicht will, warnen sie die Polizei, also hat man
       keine Wahl. Die Wohnorte der Klandestinen in Tamanrasset sind die Hölle.
       Man lebt in den Felsen, auf nacktem Stein und Skorpionen ausgesetzt. Die
       hygienischen Bedingungen sind miserabel.
       
       In Algerien besteht das Problem vor allem darin, nicht verhaftet zu werden.
       Die Polizei ist allgegenwärtig, und wenn du verhaftet wirst, bringen sie
       dich zur Grenze zwischen Algerien und Mali an einen sehr üblen Ort namens
       Tisawati, wo schon viele gestorben sind. Ich hatte Glück, ich konnte
       arbeiten, und so beschloss ich, weiterzureisen nach Algier, in die
       Hauptstadt, um von dort aus nach Marokko zu kommen. Ich reiste quer durch
       das Land und über die Grenze bis zur Grenzanlage der spanischen Exklave
       Melilla. Ich wähnte mich fast am Ziel.
       
       Sieben Tage verbrachte ich im Wald, wo viele Illegale in kleinen
       Unterschlüpfen hausen. Man lebt von den Resten, die marokkanische und
       spanische Polizisten in die Mülleimer schmeißen. Abends vertrieben wir uns
       die Zeit mit Tänzen und Fußball zwischen den verschiedenen Nationalitäten.
       Es gibt im Wald eine richtige Regierung, jedenfalls nennt sie sich so, sie
       sorgt für Ordnung, registriert die Neuankömmlinge und verteilt sie nach
       Herkunftsland.
       
       Das Ganze lebt vom Prinzip Hoffnung: Irgendwann schaffst du es über die
       Grenze und bist in Europa. Also bleiben alle und hoffen. Zurück nach Hause
       können sie nicht, es wäre ja eine Schande. Die größte Gruppe bilden die
       Nigerianer.
       
       Die Versuche, die Grenzanlagen zu überwinden, sind nach der Ankunftszeit
       gestaffelt: Die Ältesten gehen zuerst. Einige lebten schon seit Jahren
       dort. Das hat mich abgeschreckt. Also überlegte ich, einen anderen Weg zu
       nehmen, über Libyen. Das bedeutete, erneut durch Marokko und quer durch
       Algerien zu reisen.
       
       Trotz der starken Polizeipräsenz ist das nicht unmöglich. Die Araber machen
       gerne Geschäfte, also geht eigentlich alles. Jeder Klandestine reist mit
       einem gefälschten malischen Pass, denn die Pässe aus Mali erlauben
       Reisefreiheit in ganz Westafrika südlich der Sahara. Also ist für die
       Araber jeder Afrikaner ein Malier. Wenn man keinen malischen Pass hat, muss
       man im Verborgenen reisen, im Landrover.
       
       Das Leben als Klandestiner in Algerien ist nicht einfach. Die meisten
       verbringen ihre Zeit mit Kartenspiel, Haschischrauchen und, wenn sie mutig
       sind, nächtlichen Überfällen. Arbeit ist selten, aber wenn man welche
       findet, gibt es umgerechnet 5 Euro am Tag, davon kann man leben. Ich reiste
       also durch Algerien und erreichte Djanet im Südosten des Landes, die letzte
       Stadt vor der Grenze zu Libyen.
       
       Dort kannte ich niemanden und hatte Angst vor der Polizei, die ständig
       patrouilliert. Ich schlief zwei Nächte allein in der Wüste, während ich auf
       einen Führer nach Libyen wartete. Ich war sehr überrascht, als ich erfuhr,
       dass der Weg nach Libyen weiter durch die Wüste führt. Wir sollten
       Essensvorräte mitnehmen und mindestens fünf Liter Wasser. Um elf Uhr abends
       verließen wir die Stadt - zu der Zeit patrouilliert die Polizei nicht mehr.
       Wir liefen bis drei Uhr morgens, dann machten wir fünf Stunden Pause zum
       Schlafen.
       
       Ein paar hastige Bissen, dann ging es weiter, wie Soldaten, ohne Pause bis
       14 Uhr, dann zwei Stunden Pause, dann wieder Wüstenmarsch bis 20 Uhr. Der
       zweite Tag war sehr schwer, denn der Führer beschleunigte den Marsch, und
       wer nicht mithielt, wurde einfach in der Wüste zurückgelassen. Das traf
       mehrere unserer Brüder, sie konnten nicht mehr und hatten kein Wasser mehr.
       Wer Wasser hat, teilt nicht mit den anderen.
       
       Am dritten Tag griffen uns Banditen an, sie waren bewaffnet und wollten
       Geld. Dem Führer taten sie nichts, und wir merkten, dass Führer und
       Banditen sich kennen. Die Frauen wurden mitgenommen und in der Wüste
       vergewaltigt, vier bis fünf Tage lang. Manche wurden so geschlagen, dass
       sie starben. Ich wurde lediglich verprügelt. Als es weiterging, war unsere
       Gruppe um die Hälfte geschrumpft.
       
       Irgendwann dachte ich: Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr laufen,
       soll doch eine Patrouille kommen und uns mitnehmen. Aber die Fügung Gottes
       ergab, dass wir die libysche Stadt Ghat erreichten. Dort ging jeder zu der
       Gemeinschaft der Klandestinen aus seinem Land.
       
       Ich ging also zu den Kamerunern. Die Chefs sind die, die schon am längsten
       da sind, sie lassen die Neuankömmlinge für sich arbeiten und betrügen sie
       bei Geldgeschäften. Manche haben bereits arabische Frauen. Ich wurde
       zunächst gut aufgenommen und konnte mich drei Tage ausruhen. Dann aber muss
       man arbeiten, denn du musst dich ernähren und Miete zahlen. Jeden Morgen
       gehen die Klandestinen auf einen öffentlichen Platz namens "Tschad", und
       die Libyer kommen und suchen Arbeitskräfte aus. Oder ein bereits
       beschäftigter Klandestiner sucht einen Helfer.
       
       Viele von uns fingen hier an zu bedauern, dass sie ihre Heimat verlassen
       hatten. In Libyen gibt es keine Menschenrechte, man kann sich nicht
       beschweren. Man muss einfach die Situation ertragen und Mut haben. Ich
       beschloss, einen Beruf zu lernen. Ich wurde Maurer und Gipser.
       
       Damit verdiente ich genug Geld, um nach Sabha, Libyens alter Hauptstadt,
       weiterreisen zu können. Man muss wissen, dass Libyen ein Militärregime ist,
       also gehört jeder Mann auch zur Polizei, und man muss immer aufpassen. Wir
       reisten im hinteren Bereich eines Lieferwagens fünf Stunden lang.
       
       Sabha ist eine große Stadt, man verdient dort das Doppelte. Ich bekam mit
       einem Freund den Auftrag, ein Haus zu bauen. Damit verdiente ich 2.700
       Dinar, ungefähr 2.000 Dollar. So hatte ich nun wieder Kapital.
       
       Ich fuhr in die Hauptstadt Tripolis am Mittelmeer, um dort auf ein Schiff
       nach Europa zu kommen. Jeder weiß, wie das geht. Libyer organisieren die
       Reise, sie heuern Klandestine an, die auf Provisionsbasis Reisewillige
       suchen. Der Akquisiteur kriegt 150 Dollar pro Person, oder er kann umsonst
       mitfahren, wenn er fünf Passagiere zusammenkriegt. Als Passagier musst du
       verhandeln.
       
       Der eine zahlt 1.000 Dollar, ein anderer vielleicht 1.200. Gruppenreisen
       sind billiger. Man bezahlt, dann führen die Vertreter einen zu einer
       Unterkunft, wo man wartet, bis es losgeht. Die Schiffe fahren im Konvoi.
       Das erste Reiseangebot kam direkt von unserem libyschen Vermieter, er ist
       Oberst in der Armee und sagte, er sei ein Cousin des Präsidenten. Er ist
       nicht der einzige, es gibt ein Netzwerk von hochrangigen libyschen Militärs
       und Amtspersonen in diesem Gewerbe.
       
       Es existieren zwei Sorten von Booten: große Fischerboote, auf denen ist
       mehr Platz, und kleine Boote, genannt "Lampa-Lampa" nach ihrem Zielort
       Lampedusa, die sind gefährlicher. Dort passen 25 bis 30 Menschen drauf,
       aber meistens sind es doppelt so viele. Es werden immer zwei Illegale
       eingewiesen, das Boot zu steuern, einer sitzt vorne und einer hinten. Sie
       lernen das eine Woche lang. Die Passagiere dürfen nichts mitnehmen, auch
       keinen Proviant, sie werden vorher durchsucht.
       
       Unsere Gruppe kam aus Kamerun, Nigeria, Burkina und Mali. Wir waren über
       100. Das Wetter war gut. Das Problem war die Überfrachtung. Wir kamen nur
       sehr langsam voran. Nach einiger Zeit, ich glaube, wir waren nur noch 100
       Kilometer von Lampedusa entfernt, holte uns die libysche Küstenwache ein,
       stoppte unser Boot und verlangte 50 Dollar von jedem Passagier. Wir hatten
       dieses Geld nicht, und so fing die Küstenwache an, unser Boot zu rammen.
       Wir begannen reihenweise ins Wasser zu fallen. Zum Glück kam eine
       italienische Marinepatrouille vorbei, die Libyer ergriffen die Flucht. Ich
       schwamm schon im Meer und kämpfte mit den Wellen. Einige waren bereits
       ertrunken. Die Italiener retteten uns.
       
       Sie begleiteten uns zurück nach Libyen, weil sich der Vorfall in libyschen
       Gewässern ereignet hatte. Wir wurden in ein Gefängnis gebracht, ohne
       weiteres Verfahren oder Anhörung. Das Gefängnis heißt "Zanzu", es ist
       berüchtigt für Folter an Schwarzen. Man muss großes Glück haben, dort
       wieder herauszukommen. Man steckte uns einfach in Zellen, und die Wächter
       warteten ab, wie es uns schlechter und schlechter ging. Es gibt nichts zu
       essen. Wer krank wird, bekommt keine Hilfe. Wer stirbt, muss von den
       anderen begraben werden. Die Wächter dort haben kein Herz.
       
       Ich weiß nur noch, dass ich bewusstlos wurde und man mich in ein
       Krankenhaus brachte, wo ich einen Monat lag, ohne zu wissen, wo ich war und
       was mit mir los war. Mir hat ein tunesischer Polizist geholfen, der dort
       ein Praktikum absolvierte. Er kümmerte sich um mich wie um einen Bruder, er
       schützte mich, und als es mir ein wenig besser ging, kontaktierte er meine
       Familie.
       
       Die Libyer führten an den Afrikanern Operationen durch. Ich sah einen aus
       Burkina, dem war rechts der Bauch aufgeschnitten, er konnte kaum noch
       sprechen, nach ein paar Stunden war er tot. Der Tunesier sagte mir, es
       würden Organe für Experimente entnommen, vor allem Nieren. Ich sah
       Menschen, denen fehlten die Geschlechtsorgane. Es tut sehr weh, daran zu
       denken.
       
       Wer überlebt hat, bekommt irgendwann einen Bescheid über 1.500 Euro für
       Krankenhausaufenthalt, Bußgeld und Ausweisung. Meine Familie, von dem
       Tunesier gewarnt, schaffte es, dieses Geld aufzubringen. Man wird einem
       Richter vorgeführt, zahlt, und das war es. Aber noch waren die Schikanen
       nicht vorbei. Man braucht ein Ausreisevisum. Am Flughafen wollten sie nicht
       glauben, dass ein illegaler Afrikaner ein Flugticket nach Hause besaß, und
       beschlagnahmten mein Ticket und meinen Pass. Ich musste den Präsidenten der
       kamerunischen Gemeinschaft in Libyen einschalten, der das Problem für 90
       Euro regelte.
       
       Ich wollte nur noch nach Hause. Ich hatte genug von dem Elend. Ich traf am
       23. April 2009 in Kamerun ein, am Flughafen von Douala. Meine Reise hatte
       über ein Jahr gedauert.
       
       2 Jul 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Georges N.
       
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