# taz.de -- Homosexualität in Indien: Die Lust an der Provokation
       
       > Obwohl in Indien immer wieder religiöse Fanatiker gegen jegliche Form von
       > Modernisierung wüten, behauptet sich schwullesbisches Leben immer mehr.
       > Man sieht das an Menschen wie R Raj Rao.
       
 (IMG) Bild: Das Subversive ist das Besondere: Teilnehmer einer Gayparade in Neu-Delhi.
       
       R Raj Rao ist leicht zu beschreiben. Man muss einfach jedes einzelne
       Klischee aufzählen, das über Inder kursiert: distanzlos, neugierig,
       freundlich, feminin, klein. Das alles ins Gegenteil gekehrt ist R Raj Rao.
       Bei seinem letzten Auslandstrip ist der Professor aus Pune wiederholt
       aufgehalten worden: allein wegen seines Aussehens. Erst wollte ihn Bombay
       Airport nicht ins Flugzeug lassen, dann wollte ihm London Heathrow die
       Einreise verweigern. Sowohl Inder als auch Engländer wähnten ihre Kultur
       durch ihn gefährdet.
       
       R Raj Rao sieht tatsächlich gefährlich aus. Er hat ein Gesicht wie ein
       Räuber aus einer orientalischen Erzählung: die gebogene Nase, die Augen
       tief in dunklen Höhlen. Im Kontrast dazu suggerieren sein bizarrer
       schwarzer Bart und sein Haarschnitt die Zugehörigkeit zu irgendeiner irre
       aktuellen Szene, die man wohl erkennt, aber nicht zuordnen kann, weil man
       einfach nicht dazugehört. R Raj Rao ist eine unbequeme Erscheinung. "Ich
       sehe eben aus wie ein Terrorist", sagt R Raj Rao und lacht. Es bleibt
       unklar, ob er auf das Bedrohliche seiner großen Statur nun stolz ist oder
       es eher bedauert.
       
       "Ich finde es wichtig, dass man über sich selbst lachen kann", erklärt Rao,
       ohne dass dadurch besonders viel klarer würde. Nur eines ist sicher: Rao
       provoziert gerne. Er lebt öffentlich als Schwuler in einem Land, in dem bis
       Anfang Juli Homosexualität noch unter Gefängnisstrafe bis zu zehn Jahren
       stand. Sex unter Männern wird hier mit dem Label MSM belegt und wird
       hingenommen als ein unvermeidliches Übel in einer Gesellschaft, in der
       Frauen streng bewacht werden. Als sexuelle Identität jedoch ist Schwulsein
       tabu. Oft zahlen Schwule und Lesben hier Schmiergelder, um sich vor
       Erpressern oder Übergriffen der Polizei zu retten. Rao auch.
       
       Aber Rao versteckt sich nicht: Stolz nimmt er für sich in Anspruch, den
       ersten Schwulenroman seines Landes geschrieben zu haben. Andere
       Romanautoren wie Vikram Seth zu Beispiel, der zu seinem männlichen Partner
       steht, hätten nur kleinere Episoden über Homosexuelle eingebaut. "The
       Boyfriend" aber, 2003 auf Englisch bei Penguin India erschienen,
       konzentriert sich komplett auf die Liebe des freien Journalisten und
       Intellektuellen Yudi zu dem gesellschaftlich unter ihm stehenden Milind,
       der sich zum homosexuellen Leben nicht so recht entscheiden mag.
       
       Rao ist ein Aktivist für die Rechte von Schwulen und Lesben. Nach
       jahrelangem Aufstand wurde es ihm von den Autoritäten endlich erlaubt,
       Kurse explizit über schwule und lesbische Themen in der Literatur zu
       unterrichten, er ist außerdem Autor der Gedichtsammlung BomGay, die Riyad
       Vinci Wadia zu seinem kontroversen Film von 1996 inspirierten. Rao schreibt
       Verse über Körper und was man damit machen kann - Texte, die Bücher wie die
       "Feuchtgebiete" wie eine Wüste aussehen lassen.
       
       "The Boyfriend" war eine besondere Provokation. Der Fakt allein überrascht
       erst mal nicht so sehr: Schließlich ist der Roman gerade von Konservativen
       immer noch als Königsdisziplin der Literatur eines Landes angesehen, und
       schließlich erschien "The Boyfriend" 2003, in einem Jahr, in dem der
       sogenannte Sodomiten-Paragraf noch in Kraft war und Schwule und Lesben
       ständig Opfer von homophoben Übergriffen wurden.
       
       "The Boyfriend" spielt damit bewusst: Er beginnt gleich mitten in einem
       verdreckten und verpissten Bombayer Bahnhofsklo, dessen Aroma der Autor
       schwelgend in sich einsaugt, als sei es eine sommerliche Blumenwiese. "The
       Boyfriend" klagt aber diese Art des flüchtigen Sex zwischen Unbekannten im
       Untergrund nicht an. Der Erzähler scheint sich nicht nach einer Zeit einer
       offiziellen Schwulenehe zu sehnen. Im Gegenteil, er hebt eher das
       Außergewöhnliche dieser Lebensweise hervor, er feiert es. Das Subversive
       ist das Besondere.
       
       "The Boyfriend" und sein Autor sind auch ein Beispiel für den langsamen
       Wandel in Indiens Gesellschaft. Rao wurde in der indischen Öffentlichkeit
       nicht für seine Beschreibung der wahllosen Liebe in den Urinalen
       kritisiert, es gab keine Angriffe gegen ihn, politisch nicht und auch nicht
       körperlich, sagt er. Die Präsentation des Buchs fand in einem der größten
       Buchläden Bombays statt, das Fernsehen kam, und alle größeren Zeitungen
       berichteten. "Und das auch noch sehr positiv", sagt Rao, "das hat mich sehr
       überrascht." Die Kritik fand, wie Rao glaubt, stellvertretend eher andere
       Wege: Ein zu nüchterner Stil und eine allzu karge Sprache, der Erzählung
       fehle die Spannung, hieß es. Das allerdings findet Rao eher albern. Er habe
       ja gerade einen Roman geschrieben, der das Gewöhnliche angreift. "Das
       spiegelt sich natürlich in der Form wider."
       
       Das Buch ist auf Französisch erschienen und auf Italienisch. Fragt man
       Experten, wie es in Indien ankommt, so weichen sie aus. "Das ist nicht
       Literatur im eigentlichen Sinne", erklärt ein Literaturprofessor. In der
       Community wiederum wurde Rao für seine Weigerung, Homosexualität als eine
       völlig normale Form der Liebe zu sehen, kritisiert. "Indiens Gay
       Community", sagt Rao, "will Teil des Mainstreams sein. Es gibt ein
       konservatives Schwulsein." Für Rao ist das nur eine Art der Unterdrückung.
       
       "Indien ist wie ein Gefängnis", erklärt Rao, "Männer und Frauen leben unter
       einer sexuellen Quarantäne." Die Geschlechter werden strikt getrennt, die
       große Mehrheit praktiziert die arrangierte Ehe, die Eltern, Tanten und alle
       möglichen älteren Verwandten sind permanent auf der Suche nach passenden
       Partnern für Unverheiratete. Es regiert die Heteronormativität. Männer, die
       Hand in Hand über die Straße gehen, was man durchaus häufig sieht,
       verbindet in den Augen der Gesellschaft yaari, was am leichtesten mit
       Männerfreundschaft erklärt ist. "Es wird einfach nicht akzeptiert, dass
       zwei Menschen desselben Geschlechts irgendetwas anderes als Freunde sind,
       und aus der Umkehr daraus folgt, dass zwei Menschen unterschiedlichen
       Geschlechts, die zusammen gesehen werden, auf jeden Fall eine sexuelle
       Beziehung zueinander haben." Und Küsse in der Öffentlichkeit? "Das passiert
       einfach nicht, weder bei Homo- noch bei Heterosexuellen."
       
       In Indien bestimmt die Familie das Leben. In ihrem Mikrokosmos spiegelt
       sich das Land wider. Ohne Familie gehört man nicht dazu. Wer allein lebt,
       wie der Held aus "The Boyfriend", ist im Grunde komplett isoliert. Aber R
       Raj Rao hat sich gegen diese Normen aufgelehnt. Homosexualität wird in
       Indien wie auch in vielen anderen Ländern gern als westlicher Import
       gesehen, Zeichen der Unterdrücker, die die einheimischen Kulturen damit
       korrumpieren. Westliche Dekadenz. Dabei stammt gerade das Verbot
       homosexueller Handlungen aus der Kolonialzeit. Es ist ein viktorianisches
       Gesetz, das Verbot einer Gesellschaft, die besessen davon war, alle Art von
       nicht reproduktiver Sexualität aufzuspüren.
       
       "Dabei sind multiple geschlechtliche Identitäten Teile der indischen Kultur
       von jeher", erklärt Rao. Die Hijra zum Beispiel oder die Koti. "Es gibt
       Darstellungen auf Tempeln, bei denen männliche Götter Sex haben, das
       Kamasutra spricht davon, es gehört einfach zu uns", sagt Rao. Mit
       lesbischem Sex scheint das allerdings anders. Darüber weiß Rao deutlich
       weniger zu sagen.
       
       Als der Paragraf 377 gekippt wurde, brach weltweit Euphorie aus. Doch in
       Indien meldeten sich auch kritische Stimmen. Unter anderem stellte der
       Astrologe Sushil Kumar Kaushal einen Antrag auf Neuverhandlung. "Noch nicht
       mal Tiere geben sich derartigen Handlungen hin", wird er zitiert. Am Montag
       wird der Supreme Court entscheiden, ob das Verbot tatsächlich aufgehoben
       bleibt. "Ich bin zynisch", sagt Rao, "zu zynisch, um zu glauben, dass es
       wirklich passieren wird." Was aber nicht heißen solle, dass er es nicht
       herbeisehnen würde. "Wenn das Gesetz gekippt ist, werden mehr Männer ein
       Coming-out wagen. Das Gesetz hat lange genug unsere Psyche beschädigt."
       
       Rao veröffentlicht gerade sein zweites Buch, wieder eines mit einem von
       Heterosexismus verdrängten Thema: die Geschichte eines Mannes, der sich zu
       einer Frau umoperieren lassen soll, um den Mann, den er liebt, halten zu
       können. Gerade arbeitet Rao zudem bereits an seinem neuesten Roman. Diesmal
       will er sein Feld ausweiten. "Es soll da auch um heterosexuelle Beziehungen
       gehen", erklärt er und lacht ein bisschen. Berührungsängste scheint er
       keine zu haben. Wie hatte er zu Anfang des Gesprächs gesagt? "Die Liebe
       nimmt eben viele Formen an."
       
       19 Jul 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Judith Luig
       
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