# taz.de -- Kolumne: Das reine deutsche Gewissen
       
       > Schuldabwehr statt Schuldbewältigung: Zum Mord an Marwa al-Sherbini.
       
       Drei Wochen sind vergangen, seitdem Marwa al-Sherbini in Dresden erstochen
       wurde: am Mittwoch, dem 1. Juli, von einem Mann, der sie ein Jahr zuvor auf
       einem Spielplatz als "Terroristin" und "Islamistin" beschimpft hatte. Wenig
       später liefen deutsch-muslimische Mailinglisten über. Fassungslos
       beobachteten wir, wer auf diesen ersten offensichtlich islamfeindlichen
       Mord in Deutschland reagierte - und vor allem, wer schwieg.
       
       Es reagierte Stephan Kramer vom Zentralrat der Juden in Deutschland und
       reiste zum Ehemann der Ermordeten nach Dresden. Es schwiegen Vertreter der
       Kirchen und Innenminister Schäuble, Erfinder der Deutschen Islam Konferenz.
       Maria Böhmer, als Integrationsbeauftragte offenbar für die deutschen
       Muslime zuständig, kondolierte. Unser aller Bundeskanzlerin Merkel sprach
       mit dem ägyptischen Botschafter, aber nicht zur deutschen Öffentlichkeit.
       Das "plötzliche Ausrasten" in einem "ganz normalen Beleidigungsprozess"
       wurde breit gemeldet, doch der politische Hintergrund der Tat ließ SZ, FAZ
       und "Tagesthemen" anderthalb Wochen lang, den Spiegel zweieinhalb Wochen
       und "Kulturzeit" bis heute kalt.
       
       Es reagierten hasserfüllte Internet-Berserker, von rechten Foren auf die
       Hatz geschickt. Es wehrten sich gute Bürger, wie aus dem wohlverdienten
       Schlaf geschreckt. Was das sein solle, Islamophobie, eine psychische
       Störung? Sie jedenfalls, versicherten mir mehrere empört, hätten diese
       Krankheit nicht. - Sie taten, als handle es sich um eine Exaltiertheit, von
       Islamophobie zu sprechen. Dabei ist Islamfeindlichkeit einfach eine Gestalt
       unter vielen, die Fremdenfeindlichkeit, Ausländerhass und soziale
       Ausgrenzung annehmen können.
       
       Islamophobie ist kein Privatvergnügen scheinbar überempfindlicher Muslime,
       kein Privileg, das sie gegenüber der Mehrheitsgesellschaft ausspielen
       wollen. Genauso wenig wie die anderen "Ismen": Der Vorwurf des
       Antisemitismus ist nicht etwa eine hinterhältige Waffe der Juden, sondern
       der Hinweis darauf, dass jemand anders die Waffe auf sie gerichtet hat.
       Frauen machen nicht auf berufliche Benachteiligungen aufmerksam, um den
       Kollegen die Stimmung zu verderben, sondern weil ihnen selbst die Stimmung
       am Arbeitsplatz bereits verdorben ist. Natürlich kann man alles
       missbrauchen. Vereinzelt haben Frauen falsche Sexismus-Vorwürfe erhoben; es
       gibt Muslime in anderen Ländern, die das Problem "Islamophobie in
       Deutschland" für ihre eigenen Agitationen nutzen. Doch das sind sekundäre
       Phänomene, sowohl von ihrer Häufigkeit als auch ihrer Logik her. Zuerst
       kommen Ausgrenzung und Verbrechen, dann kommt der Vorwurf. Nicht der
       Vorwurf ist die Gemeinheit, sondern der diskriminierende Akt, der davor
       geschah!
       
       Nun gibt es in Deutschland Stimmen, von rechts wie leider zunehmend auch
       von links, die meinen, wenn sich jemand mit gesellschaftlicher Schuld
       auskenne, dann die Deutschen. Man habe die Schuldfrage und generell die
       ständige Gewissensprüfung satt und wolle sich nicht länger mit dem etwaigen
       deutschen Antisemitismus, Rassismus oder Ähnlichem befassen müssen. Doch
       diese Haltung spricht leider nicht für die Annahme, dass man in Deutschland
       zu einem reifen moralisch-politischen Umgang mit struktureller Ausgrenzung
       und gesellschaftlichen Diskriminierungsprozessen gefunden hat. Zu solch
       einer Reife gehört, dass man nicht patzig auf diejenigen reagiert, die eine
       solche Ausgrenzung beklagen, sondern dass man sich bestürzt fragt, ob die
       sich ausgegrenzt Fühlenden mit ihrer Wahrnehmung vielleicht Recht haben.
       
       Zu solch einer Reife würde dann auch gehören, vorhandenen Problemen ins
       Auge zu blicken und gesamtgesellschaftliche Verantwortung für ihre
       Bewältigung zu übernehmen, unabhängig von Rechenexempeln, welches einzelne
       Mitglied der Gesellschaft im exakten Sinne schuld oder, am liebsten:
       unschuldig ist. Stattdessen hat man in Deutschland etwas entwickelt, das
       weniger ein Schuldkomplex, wie es die Rechten behaupten, als vielmehr ein
       Schuldabwehrkomplex ist. Werden Diskriminierung und Ausgrenzung ethnischer
       oder religiöser Minderheiten angesprochen, verkleinert man die politische
       Angelegenheit gern auf eine persönlich gefasste Schuld, die in dieser Form
       leicht lächerlich gemacht werden und im nächsten Atemzug entschieden
       zurückgewiesen werden kann: "Bloß weil ich Negermusik gesagt habe, soll ich
       ein Rassist sein? Bin ich nicht, welch eine Frechheit!"
       
       Doch rassistisch, antisemitisch oder ausländerfeindlich wird eine Äußerung
       oder Handlung weniger durch die individuelle Absicht eines Einzelnen; sie
       erhält diese Bedeutung erst vor einem allgemeineren Muster im Hintergrund.
       Dass die Islamophobie in Deutschland zugenommen hat, bedeutet zum Beispiel,
       dass sich in unserem öffentlichen Sprechen ein Muster etabliert hat, das
       bestimmte Bilder evoziert (verschleierte Frauen, Massenszenen von beim
       Beten hochgereckten Hintern), einige Fragen vernachlässigt ("Warum ist der
       Islam in Deutschland rechtlich den Kirchen nicht gleichgestellt?") und
       andere privilegiert ("Warum haben die immer noch kein Deutsch gelernt?").
       Dieses Muster klassifiziert Angehörige einer Bevölkerungsgruppe über
       Stereotype und lässt die Einzelnen eher als ausführende Organe ihrer
       vermeintlichen "Kultur" erscheinen denn als individuelle Akteure mit
       eigenen Präferenzen und Entscheidungen.
       
       Es geht hier, wie die amerikanische Sozialphilosophin Nancy Fraser es
       einmal ausgedrückt hat, um die "Matrix, auf der sich Ego und Alter
       begegnen". An dieser Matrix stricken wir unbeabsichtigt oder beabsichtigt
       alle mit - ob in Zeitungsartikeln, Leserbriefen, der Ein- und
       Nichteinladung zu Nachbarschaftsfesten oder mit anderen alltäglichen
       Gesten. Wir sind ihr umgekehrt auch nicht hilflos ausgeliefert. Sie gibt
       uns das Spielfeld vor, doch sie determiniert unsere Züge nicht. Das Problem
       der wachsenden Islamophobie zu benennen, hieße nicht zu behaupten, dass
       alle Deutschen Islamfeinde sind. Es bedeutete jedoch, dass das Bekämpfen
       der Islamfeindlichkeit - in den Medien, in den Schulen, in den Straßen, in
       den Gerichten - eine Aufgabe aller in Deutschland lebenden Menschen ist.
       
       22 Jul 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hilal Sezgin
       
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