# taz.de -- Brasilianischer Pädagoge Paulo Freire: Wider die "Bankiers-Erziehung"
       
       > Schüler sind keine Gefäße, in denen man Wissen wie Spareinlagen
       > deponiert. Pädagogik ist mehr, als sich im Kreis aufzustellen: Bildung
       > heißt Freiheit ausüben.
       
 (IMG) Bild: Demonstranten protestieren gegen die Sparpolitik der Regierung Bolsonaros im Bildungssystem
       
       "Den gegenwärtigen demokratischen Frühling in Lateinamerika gäbe es nicht
       ohne Paulo Freire", sagte Frei Betto. "Lula, Chávez, Morales erklären sich
       auch dank ihm. Er war es, der den Unterdrückten Selbstbewusstsein
       einschärfte, indem er lehrte, dass niemand kultivierter sei als andere,
       sondern dass es verschiedene Kulturen gibt." Betto war ehemaliger
       Bergwerkskumpel und Kollege von Freire.
       
       Marcelo Mateo fügt hinzu: "Man muss klarstellen, Freire ist nicht bloß eine
       Erziehungsmethode", sagt der Direktor des Zentrums für Kommunikation und
       Rechtsberatung (Cecopal), einer renommierten Nichtregierungsorganisation
       Argentiniens. "Für Freire ist Bildung Ausübung von Freiheit. Ein Modus der
       Befreiung der Unterdrückten. Er selbst definierte sich als ein Mann, der
       als Substantiv politisch sei - und als Adjektiv Erzieher."
       
       Mateo ergänzt: "Es geht nicht bloß darum, Tische im Kreis aufzustellen. Die
       Befreiungspädagogik geht weit über diesen szenischen Rahmen hinaus. Sich in
       seiner eigenen Wirklichkeit zu verordnen. Ich begreife, also lerne ich. Auf
       diese Weise kann man Realität modifizieren."
       
       Geboren wurde Paulo Freire 1921 in Recife, im Norden Brasiliens, in einem
       Arbeiterviertel, in dem Analphabetismus die Regel war und Sklaverei kurz
       zuvor noch legal. Ein Universum aus Männern und Frauen, die ihr Wissen
       nicht auf Buchstaben zu gründen wussten, auf deren Schultern Jahrhunderte
       aus Unterwerfung und Passivität im Angesicht des Unrechts lasteten. So die
       Ausgangssituation, die der junge Freire beschloss mit Bildung zu bekämpfen
       - nachdem er 1959 in Philosophie und Geschichte promoviert hatte.
       
       Paulo Freires Idee: das Schweigen aufzubrechen, einen neuen Menschen zu
       schaffen, einen fragenden und kritischen. Einige seiner Prämissen: dass
       Wissen sich nicht vermittelt, sondern sich aufbaut. Dass Schüler keine
       Behältnisse sind, in denen Lehrer ihr Wissen wie Spareinlagen deponieren:
       wie in der "Bankiers-Erziehung" - so nannte er das klassische
       Bildungssystem -, sondern dass beide, Lehrer und Schüler, sich
       wechselseitig erziehen.
       
       Freire war davon überzeugt, dass die Bankiersmethode ein
       Unterdrückungs-Instrument darstellt. Von daher dürfe sich die Politik nicht
       aus diesem Prozess fernhalten. Bewusstseinsbildung gelte es denjenigen
       zukommen zu lassen, die glaubten, nichts von ihrem Wissen zu wissen. Lernen
       solle am Anfang von der umgebenden Realität ausgehen. Man müsse die eigene
       Kultur wertschätzen, um so zur Entkolonialisierung zu gelangen.
       
       Freire war Mitglied des ersten staatlichen Bildungsrates in Pernambuco,
       leitete die nationale Alphabetisierungskampagne im brasilianischen Norden
       und erlangte erste große Bekanntheit, als er 300 Landarbeitern in
       anderthalb Monaten Lesen und Schreiben beibrachte. Dies trug ihm jedoch
       auch die Ablehnung der Oligarchie und der konservativsten Kräfte innerhalb
       der katholischen Kirche ein, die ihn als politischen Agitator brandmarkten.
       Freire war tief religiös und unterstützte die Prinzipien der
       Befreiungstheologie.
       
       Der Militärputsch 1964, der sich über 21 Jahre hinziehen sollte, brachte
       ihn ins Gefängnis, angeklagt als "Revolutionär". Nach seiner Befreiung, 70
       Tage später, flüchtete er nach Bolivien, kurz darauf nach Chile. Dort
       arbeitete er unter der christdemokratischen Regierung von Eduardo Frei an
       Bildungsprojekten. 1967 erschien "Erziehung als Praxis der Freiheit", 1968
       der Klassiker "Pädagogik der Unterdrückten". Die Harvard-Universität machte
       ihn zum Gastprofessor und der Weltkirchenrat in Genf zum Sonderberater in
       Bildungsfragen.
       
       1980 kehrte Freire nach Brasilien zurück. Die Unesco ehrte ihn mit dem
       Preis für Friedenserziehung. Im Lauf seiner Karriere unterstützte Freire
       reformpädagogische Projekte in ehemaligen portugiesischen Kolonien Afrikas.
       Er starb 1997 in São Paulo.
       
       "Seine Spuren haben ihren Abdruck in ganz Lateinamerika hinterlassen und
       sind weiterhin lebendig. Auch wenn in den Neunzigerjahren sein Einfluss vom
       Zusammenbruch der Nicaraguanischen Revolution beeinträchtigt wird", meint
       Marcelo Mateo von Cecopal. "Es ist so, dass der Triumph der Sandinisten
       1979 stark mit der Methode Freires und der Befreiungstheologie verknüpft
       war. Die Enttäuschung produziert eine Art von Abwertung der
       Befreiungspädagogik. Heute, mit dem Zusammenbruch des Neoliberalismus, lebt
       sie hingegen wieder auf."
       
       Dies liege vor allem an der erneuten Lektüre des Freireschen Werkes und
       Adaptierung seiner Ideen an den sozio-ökonomischen und politischen Kontext
       des 21. Jahrhunderts. "Freire spricht von Erziehung in der jeweiligen
       Situation, die hier und jetzt gelebt wird."
       
       Von dieser Renaissance und Aktualität zeugen die indigenen Gemeinden der
       Zapatisten im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, die Freires Methoden in
       den Schulen und autonomen Bezirken der sogenannten "Caracoles", der
       Schneckenhäuser, anwenden. Die Bewegung der Campesinos in Bolivien, der
       Aymaras, Quechuas und Guaranis, die Evo Morales an die Macht verhalfen,
       auch wenn sie, so Mateo, "vielleicht Freires Lehre bereits praktizierten,
       lange bevor es Freire gab". Oder die sogenannte "Wander-Universität" in
       Argentinien, deren Lehrer mit einem Omnibus-Klassenzimmer in die
       entlegensten Winkel reisen. "Doch am emblematischsten ist der MST in
       Brasilien, der Freire in Theorie und Praxis kontinuierlich anwendet." Ein
       unerlässliches Forum, so der Experte, ist die Multiversidad Franciscana in
       Montevideo, Uruguay. Hier kann man es gar zu einem Diplom in Volksbildung
       bringen, hier finden die fruchtbarsten Debatten über Freire statt.
       
       Ob denn manche der neuen linken Regierungen das Ruder der
       Befreiungspädagogik übernehmen dürfen? "Da gibt es verschiedene Positionen,
       aber grundsätzlich ist es kein Widerspruch, wenn man vom Staat aus
       versucht, kritische Menschen heranzubilden, die mit ihren Erziehern
       diskutieren. Denn Freire ist nun mal das Gegenteil einer Indoktrinierung."
       
       Dies sind nur wenige Beispiele für den Einfluss eines Mannes, der an die
       transformative Macht der Pädagogik glaubte. Der überzeugt war, dass
       "Bildungsprozesse sich nicht einzig in einem Unterrichtsraum abspielen" und
       "Alphabetisierung etwas mehr ist als Lesen und Schreiben lernen".
       
       Übersetzung aus dem Spanischen: Roland Brus
       
       28 Jul 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marta Platía
       
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 (DIR) Bildungschancen
       
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