# taz.de -- Sektenberatung für Muslime: Der verlorene Sohn
       
       > Sinem Caglars Sohn veränderte sich, seit er Sufi wurde. Ihre Suche nach
       > Unterstützung in staatlichen Beratungsstellen lief ins Leere. Auch Kirche
       > und muslimische Verbände konnten nicht helfen.
       
 (IMG) Bild: Afghanische Sufis in ekstatischer Trance
       
       Als ihr Sohn verschwindet, beginnt Sinem Caglars* Kampf gegen die
       Verführer. Er wolle mit ein paar Freunden nach Mallorca in den Urlaub
       fahren, hatte Devrim ihr erzählt. Als sie ihn auf dem Handy anruft, um zu
       fragen, wie es ihm geht, nimmt er nicht ab. Erst nach unzähligen Versuchen
       geht Devrim ans Telefon. Als seine Mutter ihm Vorwürfe macht und ihn
       ausfragt, gesteht er, dass er nicht in Spanien ist. Sondern bei seinen
       Brüdern. Bei seinem Scheich.
       
       An diesem Tag im Sommer 2007 erfährt Cinem Caglar, dass der Jüngere ihrer
       beiden Söhne heimlich eine türkische Sufi-Gruppe besucht. Die meisten
       Menschen hierzulande stellen sich darunter in kleiderartigen Gewändern
       herumwirbelnde Derwische vor. Die islamischen Mystiker gelten meist als
       spirituelle und unpolitische Vertreter des Islam. Doch Sinem Caglar hat ein
       ungutes Gefühl.
       
       Wie unter einem Brennglas sieht sie noch einmal, wie sehr sich ihr Sohn in
       den letzten drei Jahren verändert hat: Er lügt oft, wenn sie ihn fragt, wo
       er abends war. Ihren Lebenswandel als alleinstehende Frau nennt Devrim
       unislamisch, er schimpft auf Israel und die Juden. Lange deutet die nur
       mäßig religiöse Türkin dies als das großspurige Gehabe eines
       Pubertierenden. Als sie aber an jenem Tag den Hörer auflegt, befürchtet sie
       jedoch etwas ganz anderes: Ihr Sohn ist auf dem Weg, ein Terrorist zu
       werden.
       
       Die in Berlin arbeitende Therapeutin will wissen, wo ihr Sohn da
       hineingeraten ist. Sie sucht Rat beim Jugendamt, bei der Polizei, beim
       Berliner Senat. Irgendwer schickt sie sogar zum Verfassungsschutz. Sinem
       Caglar lernt: In Deutschland existiert zwar ein großes Beratungsangebot für
       Scientology, die Zeugen Jehovas oder Satanistenzirkel. Doch wer sich über
       eine muslimische Gruppe informieren möchte, findet solche Hilfe nur schwer.
       
       „Das ist ein unhaltbarer Zustand“, sagt der Berliner Islam-Experte Johannes
       Kandel, der für die Friedrich-Ebert-Stiftung an der Deutschen
       Islamkonferenz teilnahm, „denn die Zahl der Muslime in Deutschland wächst,
       und gerade gefährliche Gruppen werben oft besonders aggressiv um neue
       Mitglieder.“
       
       ## Muslime wollen Beratung
       
       Wissenschaftler und muslimische Verbände sind sich einig, dass die Zahl der
       Konvertiten stetig wächst. Johannes Kandel nimmt an, dass es derzeit
       mindestens 15.000 deutschstämmige Muslime gibt, die Schätzungen gingen aber
       etwa bis zu 100.000 Konvertiten.
       
       Studien wie die der Hamburger Sozialforscher Peter Wetzels und Karin
       Brettfeld zeigen, dass auch die Zahl der Einwandererkinder wächst, die sich
       wieder stärker dem Islam zuwenden. Viele geraten dabei an Gruppen, mit
       denen die Eltern nichts anfangen können. Aiman Mazyek, Generalsekretär des
       Zentralrats der Muslime sagt deshalb: „Auch die Muslime wünschen sich eine
       organisierte und professionelle Beratung.“
       
       Eine die das versucht, ist die Islamexpertin Claudia Dantschke vom Zentrum
       Demokratische Kultur in Berlin, das vor allem für seine Arbeit gegen
       Rechtsextremismus bekannt ist und seit zwei Jahren das Projekt
       EXIT-Familienhilfe anbietet. Ein evangelischer Berater schickt Sinem Caglar
       zu ihr. Dantschke kann die Mutter beruhigen. Devrims Brüder und ihr
       spiritueller Führer, der Scheich, wollen keinen islamischen Gottesstaat
       herbeibomben. Ungefährlich ist die Gruppe für den 20jährigen jedoch
       trotzdem nicht.
       
       So lehnen der Scheich und seine Jünger Schulmedizin und manche Operationen
       als Teufelswerk ab. Als deswegen vor einigen Jahren beinahe ein Säugling an
       einer schweren Krankheit gestorben wäre, berichtete auch die Presse. Die
       Eltern hatten das Kind statt in eine Klinik zum Scheich gebracht, der es
       mit von ihm gesegneten Heilwässerchen und Glauben kurieren wollte. Bevor es
       zu spät war, wurde das Jugendamt aktiv, schaltete die Polizei ein und zwang
       die Eltern, das Baby doch noch ins Krankenhaus zu bringen.
       
       Zudem verfolgt Devrims Orden wie viele türkische Sufi-Gruppen, auch Tarikat
       genannt, krude politische Ziele. Was auf der deutschen Webseite
       veröffentlicht wird, klingt eher nach einer islamischen Esoterik-Gruppe mit
       alternativen Heilmethoden für Geist und Körper. „Auf dem türkischsprachigen
       Internetangebot dagegen tauscht man anti-westliche und antisemitische
       Verschwörungspamphlete aus“, sagt Claudia Dantschke „und träumt von der
       Wiederauferstehung des osmanischen Reiches und preist die Monarchie als
       beste Regierungsform.“
       
       Screenshots der türkischen Webseite vom Dezember 2008 zeigen, dass die
       Gruppe unter anderem die Texte von Autoren wie Harun Yahya und Mehmet
       Sevket Eygi verlinkt hat. Eygi verdammt einen an westliche Werte
       angepassten Islam. Er glaubt, die Türkei sei von als Muslimen getarnten
       Juden unterwandert und Staatsgründer Atatürk habe zu ihnen gehört. Die von
       ihm eingeführte Trennung von Religion und Staat sei ein Werk der Juden, um
       den Islam zu zerstören.
       
       Seitdem die Seite vor kurzem umgebaut wurde, sind die Texte vorerst
       verschwunden. Sie zeigt aber immer noch das Konterfei des osmanischen
       Sultans Abdülhamids II. Den Despoten verehrt der Orden, weil er ein
       osmanisches Reich schaffen wollte, in dem ausschließlich muslimische Völker
       lebten.
       
       Umrahmt wird die Propaganda vom normalen Sufi-Programm, das man sich auf
       verschiedenen im Internet kursierenden Videos ansehen kann. Die Mitglieder
       sitzen in alten osmanischen Gewändern zusammen und üben arabische
       Kaligraphie. In Berlin trifft sich Devrim mit den anderen aus dem Orden
       einmal die Woche zum Meditationsritual, bei dem stundenlang „es gibt keinen
       Gott außer Allah“ gesungen wird, dabei schwingen die Männer ihre Körper hin
       und her.
       
       Warum die Sekte ihren türkischen Mitgliedern andere Angebote macht als den
       deutschen erklärt die Islamwissenschaftlerin Annabelle Böttcher: Aus
       Geldgründen. „Ihr Finanzvolumen hängt von der Spendenfreudigkeit der
       Anhänger ab“, schreibt Böttcher im Wissenschaftsmagazin der Freien
       Universität Berlin. Deshalb muss sie ihr Angebot „mit den Vorgaben des
       Lebensumfelds ihrer Klientel“ in Einklang bringen. Unter den Deutschen hat
       die Gruppe viele Anhänger aus dem akademischen Milieu. Offener Judenhass
       käme bei vielen nicht gut an.
       
       Genau diese Janusköpfigkeit macht kirchlichen Sektenberatern wie Thomas
       Gandow zu schaffen. Der Pfarrer macht seinen Job für die evangelische
       Kirche in Berlin seit dreißig Jahren und gilt als anerkannter Fachmann für
       Scientology oder christliche Splittergruppen. Doch als Sinem Caglar bei ihm
       auftaucht, kann auch er ihr nicht helfen. Er versteht weder türkisch noch
       arabisch und kann viele Publikationen der Tarikat nicht lesen. „Mir fehlt
       das erforderliche Fachwissen", sagt Gandow, „und wenn ich mit Kollegen
       spreche, erfahre ich, dass es auch vielen anderen so geht.“
       
       ## Experten gesucht
       
       Natürlich unterhalten auch staatliche Behörden ähnliche Beratungsstellen,
       aber die sieht Islamexperte Kandel noch weniger gerüstet: „Deren Fachleute
       verfügen über wenig Erfahrung mit dem Islam", sagt er. "In den Kirchen gibt
       es zumindest eine Reihe sehr fachkundiger Berater."
       
       Diese werden von den muslimischen Verbänden allerdings kritisch beäugt: "Es
       wäre hochproblematisch, wenn die Kirche ihre Sektenberatung hier offensiv
       anbieten würde“, sagt Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime. „Dann
       könnten Extremisten behaupten, die Kirchen wollten Muslime missionieren."
       Seine eigene Organisation und andere größere Verbände könnten diese Arbeit
       bisher nicht leisten, dazu fehlten die gewachsenen Strukturen wie in der
       Kirche und das Geld.“
       
       Es wäre wohl auch fatal, den Verbänden diese Rolle allein zu überlassen.
       Die größte Gruppe im Islamrat ist beispielsweise die vom Verfassungsschutz
       beobachtete Milli Görüs. Deren Gründer, der ehemalige türkische
       Ministerpräsident Necmettin Erbakan hat laut Verfassungsschutzbericht 2008
       ganz ähnliche Ideen wie Devrims Orden: Als zentrale Ziele propagiert
       Erbakan die Schaffung einer „neuen großen Türkei“ in Anlehnung an das
       Osmanische Reich“ und dazu „die Errichtung einer islamischen
       Gesellschaftsordnung.“ Auch Erbakans Bewegung wird von Sufis unterstützt.
       Wie hätte so eine Gruppe Sinem Caglar beraten sollen?
       
       Islamexperte Johannes Kandel sieht noch eine weitere Schwierigkeit: Es sei
       schwer zu definieren, was eine gefährliche Sondergruppe ausmache. „Eine
       klassische Sekte wie die Ahmadiyya, die eine Sonderlehre vertritt, mögen
       die Verbände als gefährliche Abspaltung vom Islam ansehen“, sagt Kandel.
       „Dabei sind die aggressiv missionarischen Salafiten viel gefährlicher,
       obwohl sie den Koran und die Sunna bis aufs Komma befolgen."
       
       Am liebsten wäre es ihm, dass unabhängige Organisationen wie die von
       Claudia Dantschke eine solche Beratung machen. Dantschke meint das auch,
       allerdings stellt sie hohe Anforderungen an die Berater: „Dort müssen
       Islamwissenschaftler und Experten sitzen, die auch die politische Dimension
       dieser Gruppen erkennen“, sagt sie. „Muslime sollten ebenfalls mitmachen.“
       Mit so einer Beratung wäre auch Aiman Mazyek einverstanden, allerdings nur
       wenn mit den muslimischen Verbänden zusammengearbeitet wird.
       
       Inzwischen hat Claudia Dantschke nach einem Hinweis der Mutter auch
       herausgefunden, wie Devrim Caglar überhaupt an den Sufi-Orden geraten ist.
       Seit etwa drei Jahren trainiert Devrim Taekwondo. Sein Verein unterscheidet
       sich auf den ersten Blick nicht von anderen. In der Satzung des Clubs steht
       viel von Toleranz und dass man unabhängig von Rasse und Religion für alle
       offen sei.
       
       Die Verbindung zu den Tarikats wird nicht erwähnt, Claudia Dantschke
       beschreibt sie so: „Viele der Schüler ahnen nicht einmal, dass einige ihrer
       Lehrer Rekrutierer für den Sufi-Orden sind“, sagt sie. „Es werden auch bei
       weitem nicht alle angesprochen.“
       
       Weil Devrim Caglar den Kontakt zu seiner Mutter fast vollkommen abgebrochen
       hat, musste Claudia Dantschke zwischen den beiden eine Art Waffenstillstand
       vermitteln. Sinem Caglar händigte ihrem Sohn die notwendigen Unterlagen
       aus, damit er Bafög beantragen und Betriebswirtschaft studieren kann.
       
       Das hatte sie ihm lange verweigert. Wenn er sich nicht von seinem Orden
       abwendet, könnte es gut sein, dass er einmal dessen Finanzen verwaltet.
       „Wir können niemanden gegen seinen Willen aus einer Sekte herausholen“,
       sagt Claudia Dantschke. Aber die Situation der Familie habe sich
       stabilisiert. Auf längere Sicht wird sie versuchen, Devrim Alternativen zum
       starren Weltbild dieser Tarikat zu zeigen. „Vielleicht schafft er eines
       Tages doch noch den Absprung.“
       
       * Weil sich die Lage der Caglars inzwischen etwas beruhigt hat und diese
       nicht wieder destabilisiert werden soll, stehen hier nicht die wahren Namen
       der Familienmitglieder. Damit die Familie nicht wiedererkannt wird, finden
       sich einige Details des Falles wie zum Beispiel der Name der beschriebenen
       Tarikat nicht im Text wieder.
       
       16 Aug 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Schulz
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Flüchtlinge
       
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