# taz.de -- Ehrenmord in der Türkei: "Jeder soll wissen, ich bin schwul"
       
       > Ahmet Yildiz liebte Männer und musste sterben, weil er sich dazu
       > bekannte. Eine Geschichte über die Liebe – und über eine schwule
       > Subcommunity, die "Bären".
       
 (IMG) Bild: Ahmet Yildiz (in gelb) mit seinem Geliebten Ibrahim Can in einem Ausflugsrestaurant bei Istanbul im Juni 2008. Einen Monat später ist Yildiz tot
       
       ISTANBUL taz | "Ja, ich bin stolz darauf, dass ich mich von den Lügen
       befreit habe. Aber es ist schwer. Falls Sie glauben, dass Ihre Familie kein
       Verständnis aufbringen wird, sollten Sie sich davor hüten, es ihr zu
       sagen." So schließt ein Brief von Ahmet Yildiz, in dem er im Mai 2008 im
       türkischen Onlinemagazin Beargi über sein Coming-out spricht. Zwei Monate
       später ist er tot. Hingerichtet von seiner Familie, die es, laut
       Anklageschrift, nicht erträgt, dass er schwul ist. Am Dienstag beginnt vor
       dem Strafgericht Istanbul-Üsküdar der Prozess gegen Ahmets Vater Yahya
       Yildiz, einen 49-jährigen bankrotten Gemüse-Exporteur. Allerdings ohne den
       Angeklagten. Er ist untergetaucht, vermutlich im Nordirak.
       
       Ahmet Yildiz wird nur 26 Jahre alt. Er wächst im südanatolischen Mersin
       auf, seine Familie ist wohlhabend, kurdisch, religiös. Er geht nach
       Istanbul, gibt Nachhilfestunden und studiert Physik auf Lehramt. Am späten
       Abend des 15. Juli, nur Stunden vor seiner Abschlussprüfung, wird er vor
       seiner Wohnung im Viertel Bulgurlu erschossen.
       
       Als die Schüsse fallen, sitzt sein Lebensgefährte Ibrahim Can in Ahmets
       Wohnung vorm Computer. Er rennt raus und findet seinen Freund, der nur kurz
       ein Eis essen wollte, regungslos im Auto. "Baba, bitte nicht sterben!",
       ruft Can. "Für zwei Sekunden" öffnet Ahmet die Augen. Dann sind viele Leute
       da, auch Sanitäter. Und ein Zivilpolizist, der Can abführt. "Ich habe Ahmet
       nicht mehr berührt", klagt er.
       
       In Istanbul kann er nichts tun. Am nächsten Morgen kontaktiert er - Can ist
       Deutscher - das Konsulat, das ihm Polizeischutz besorgt. Er hat Angst, dass
       die Familie auch ihm etwas antun könnte. Er wird zum Flughafen eskortiert
       und fliegt nach Köln, wo der im westanatolischen Sakarya geborene
       Reiseverkehrskaufmann seit 1979 lebt. Can ist 44, ein Schwulenaktivist war
       er nie. Doch jetzt soll die Welt von Ahmets Tod erfahren. Und der türkische
       Staat soll unter Druck geraten. Can verständigt den deutschen Lesben- und
       Schwulenverband, Amnesty International, jeden, der ihm einfällt. Bald
       melden sich Reporter bei ihm, als erste Zeitung berichtet der britische
       Independent vom "ersten dokumentierten Ehrenmord an einem Schwulen in der
       Türkei".
       
       Ein knappes Jahr zuvor, im Oktober 2007, hatte Ahmet seinen Eltern
       offenbart, was diese längst ahnten. Schließlich spionierten sie ihm nach,
       ließen sein Handy und seinen Computer durchsuchen. "Trotzdem war das
       Telefonat, das Ahmet mit seinem Vater führte, für den ein Schock. Aber
       nicht, weil er schwul war, sondern weil er sich dazu bekannte", erklärt
       Can. "Manche Männer aus dieser Sippe haben Sex mit Männern, vergehen sich
       an Jungs. Jeder weiß es, aber keiner spricht darüber. Und dann kommt so ein
       couragierter Mensch und sagt: So bin ich und so will ich sein."
       
       Ahmet wollte Rebellion. Und Versöhnung. Er wollte seine Familie "zum
       Freund" haben. "Er war lange der materiell verwöhnte einzige Sohn. Und er
       hing an seiner Familie", erinnert sich Ahmet Kaya, ein Freund und Cousin
       des Ermordeten. Er ist ebenfalls schwul. Ahmet habe geglaubt, die
       Heimlichtuerei nicht fortsetzen zu können, und gehofft, dass sie ihn
       letztlich akzeptieren würden. Viele Freunde hielten dies für illusorisch.
       Auch sein Lover, der ihm abriet. "Aber Ahmet hatte seine Gefühle immer
       unterdrückt, war auf einem religiösen Internat und hatte währenddessen Sex
       mit Männern", erzählt Can. "Jetzt brach es aus ihm heraus: Jeder soll
       wissen, ich bin schwul, ich möchte Schweinefleisch essen, ich möchte ficken
       - alles, was im Islam tabu ist."
       
       Sein Coming-out ist der Höhepunkt eines ereignisreichen Jahres: Im Januar
       wird Ahmet zum "Mister Bear" gekürt, dann vertritt er die Türkei auf dem
       "International Bear Rendezvous" in San Francisco - Bären, das ist eine
       schwule Subcommunity, die man glatt für eine türkische Erfindung halten
       könnte: behaarte, bärtige, mitunter dicke Männer, die auf behaarte,
       bärtige, mitunter dicke Männer stehen. Auf Männer wie Ibrahim Can etwa, den
       Ahmet im Sommer kennen lernt. "Der sah zwar so aus wie einer dieser
       Onkeltypen, auf die Ahmet stand, aber emotional war das etwas anderes",
       meint ein Freund. Can ist angetan von Ahmets Schönheit und Lebendigkeit,
       Ahmet findet bei ihm Geborgenheit, Geist und Treue. Can ist oft in
       Istanbul, einmal besucht ihn Ahmet in Köln. Sie wollen heiraten. Später.
       Gemeinsame Fotos zeigen Ahmet, wie er sich an seinen fast zwanzig Jahre
       älteren Freund kuschelt. "Das kannte er vorher nicht", sagt Can. "Er hatte
       immer großen Erfolg bei Männern, aber für die meisten Türken ist Sex nur
       Abspritzen. Sie können nicht küssen, nicht streicheln, geschweige denn
       ficken" - zu jenen Deutschtürken, die die Türkei romantisieren, gehört Can
       nicht.
       
       Auf ihrem Glück lastet der Konflikt mit der Familie. Sie versucht, Ahmet
       emotional zu erpressen, und verlangt, dass er sich "therapieren" lässt. Er
       bekommt Anrufe, einmal stehen Verwandte vor der Tür. Es gibt Morddrohungen.
       Ahmet nimmt sie zunächst nicht ernst, vielleicht will er seine Angst nicht
       zeigen. Dann erstattet er doch Anzeige. "Hätte die Staatsanwaltschaft die
       ernst genommen, wäre Ahmet am Leben", ist Can überzeugt. Dass dieselbe
       Behörde nun Anklage erhebe, sei nur der internationalen Aufmerksamkeit
       geschuldet, die dem Fall zuteilwurde.
       
       Dass Ahmets Vater den Mord alleine verbrochen haben soll, glaubt Can nicht:
       "Ein Mann mit einer Beinprothese soll das Tatfahrzeug gefahren und daraus
       geschossen haben?" Die Ermittlungen müssten ausgeweitet werden, vor allem
       auf Ahmets Großvater, ohne dessen Zustimmung in diesem Clan nichts von
       Belang beschlossen werde. "Seine Mutter", vermutet ein Freund, "eine sehr
       religiöse und hasserfüllte Frau", müsse eine wichtige Rolle gespielt haben,
       schließlich seien Nachstellen und Drohungen von ihr ausgegangen.
       
       Was man in Ahmets Umfeld nur vermutet, kann seine Nachbarin Ümmühan Darama
       bezeugen: "Da war nicht nur der gelbe Fiat, aus dem auf Ahmets Auto
       geschossen wurde, sondern auch ein schwarzer Mercedes, der die Straße
       blockierte." Sie saß im Garten ihres Cafés "Tuana", nur wenige Meter neben
       dem Tatort, und wurde von einem Querschläger im Fuß getroffen. Darama, eine
       freundliche, aber resolute, kettenrauchende Dame von 43 Jahren mit Kopftuch
       und rot lackierten Fingernägeln, erstattet Anzeige. "Im Polizeipräsidium
       hat man mir gesagt: ,Sei froh, dass du nicht am Kopf getroffen wurdest, und
       misch dich da nicht ein!' Aber ich kann doch nicht teilnahmslos zusehen,
       wenn ein Mensch getötet wird." Danach erhält sie anonyme Drohungen, eines
       Nachts wird ihr Café beschossen, sie gibt es schließlich auf. Jetzt ist
       diese Frau - eine von der AKP-Regierung enttäuschte AKP-Lokalpolitikerin,
       Unternehmerin und ausgebildete Religionslehrerin - Nebenklägerin und Zeugin
       der Anklage. So wie sich alle Nachbarn, wie Darama glaubt, aus Angst
       weigern, belastende Aussagen zu machen, findet sich zunächst auch kein
       Anwalt. Bis sich Firat Söyle meldet, ein 32-jähriger, aus der
       kurdisch-arabischen Region Hatay stammender Anwalt, der den suspendierten
       schwulen Fußballschiedsrichter Ibrahim Dincdag ebenso vertritt wie den
       linken, seit 1993 existierenden schwul-lesbischen Verein Lambda Istanbul.
       Und immer wieder Transsexuelle und Transvestiten - allein seit dem Mord an
       Ahmet hat Lambda landesweit 15 Morde an ihnen gezählt, darunter eine
       Lambda-Aktivistin, die 28-jährige Ebru Soykan.
       
       "Ob ein Schwuler oder eine Transsexuelle Gewalt erfährt oder eine
       heterosexuelle Frau, die sexuelle Selbstbestimmung in Anspruch nimmt, stets
       geht es um die Angst des heterosexuellen Mannes vor Kontrollverlust", meint
       Anwalt Söyle, der Ende vorigen Jahres Lambda erfolgreich verteidigte. In
       der zweiten Instanz scheiterte damals ein Verbotsantrag des Gouverneurs von
       Istanbul, der die Vereinsziele der "allgemeinen Moral" und der "türkischen
       Familienstruktur" zuwider fand. Selbst das Berufungsgericht wies sein
       Ansinnen nicht ganz zurück: Falls Lambda Homosexualität als erstrebenswert
       darstellen oder zu homosexuellen Handlungen verführen sollte, sei dies ein
       Verbotsgrund.
       
       Derlei Repressalien hält Söyle für Reaktionen auf die
       Emanzipationsbewegung: "In dem Maße, in dem Schwule und Lesben sichtbar
       werden, wächst die Akzeptanz. Zugleich entzünden sich Konflikte."
       
       Zu den Fortschritten, die Söyle attestiert, gehört vielleicht auch, dass
       sich die Pluralisierung von Lebensentwürfen, die sich in der gesamten
       Gesellschaft vollzieht, innerhalb der schwulen Minderheit widerspiegelt.
       Zum Beispiel in Gestalt der Bären. Als die sich Ende der Neunziger zunächst
       in Onlineforen und später bei Treffen in Istanbul erstmals formieren, ist
       Ahmet Kaya, der schwule Cousin des Ermordeten, dabei. Er ist Mitte zwanzig,
       lebt im kurdischen Urfa und verfügt bereits über ein Medium, das die
       schwule Selbst- und Fremdfindung revolutioniert und demokratisiert hat: das
       Internet. "Im Netz habe ich meine Homosexualität und zugleich meine
       Bären-Identität entdeckt", sagt Kaya. Vielen, oft aus urbanen Schichten
       kommenden Homoaktivisten der ersten Stunde sind die Bären indes suspekt.
       Ihr Verdacht: Diese Leute definieren sich allein über sexuelle Vorlieben
       und übernehmen das herrschende Männlichkeitsideal.
       
       "Ach was!", ruft Kaya in seinem breiten kurdischen Akzent. "Wir, jedenfalls
       der Kern der Bär-Aktivisten, sind keine Macker und gegen das Gerede von
       ,aktiven' und ,passiven' Partnern." Bärsein bedeute für ihn Freiheit und
       Natürlichkeit; die Bärenbewegung auch eine Rebellion gegen den gängigen
       schwulen Lifestyle. Mackerhaft wirkt Kaya tatsächlich nicht; ein
       herzlicher, oft lachender Mensch, der eben Schnauzer trägt, einen
       mittelgroßen Bauch hat und kein Problem damit, das Gespräch in seiner
       Wohnung in Unterhosen zu führen.
       
       Ist es schwer, als Schwuler in der anatolischen Provinz zu leben? "Na ja,
       im öffentlichen Leben sind die Männer fast nur unter sich, Kontakte
       zwischen Männern fallen darum nicht weiter auf. Und solange man einen
       gewissen sozialen Status besitzt und nicht feminin wirkt, wird man als
       oglanci, als Knabenliebhaber, stillschweigend akzeptiert." Gerade in Urfa
       gebe es eine rege Subkultur mit Hamams, Bars und "Herrenzimmern". Kaya aber
       findet dieses Leben verlogen. Er ist oft in Istanbul und zieht schließlich
       dorthin.
       
       Abends hilft er im "Bearphorus" aus, neben dem Onlinemagazin Beargi die
       zweite Institution der Bären. Die kleine Bar liegt in Talimhane, einem
       zentralen, lange heruntergekommenen Viertel, das gerade aufgewertet wird.
       An diesem Mittwochabend sind ein Dutzend Gäste da; außer einem Franzosen
       scheinen sich alle zu kennen. Man spielt Tech-House, nicht zu laut, auf dem
       Flaschenregal flimmert ein Video von der diesjährigen Istanbuler
       Gay-Pride-Demonstration mit den Bären in der Hauptrolle - ihre erste
       organisierte Beteiligung und für Bären eher ungewöhnlich. Viele von ihnen
       seien früher schon mitgelaufen, sagt Kaya, aber nach dem Mord sei das
       Bedürfnis gestiegen, sich öffentlich zu zeigen - Ahmet war einer von ihnen,
       daher die Internetkampagne "Ahmet is my Family".
       
       Auf einem Laptop am Tresen betrachten einige Gäste ein neues Video:
       Aufnahmen von der Party am Wochenende mit einigen hundert Gästen und einem
       italienischen DJ-Combo samt Bühnenshow: zwei dicke, nur Schnauzer und Slip
       tragende Männer, die auf einer Grandlit liegend mit bewundernswerter
       Ausdauer knutschen. "Das muss auf Youtube", scherzt einer. "Willst du doch
       mehr Ahmet-Yildiz-Fälle?", antwortet ein anderer. Sie lachen.
       
       Ob sich in der Bärenszene die Subkultur der Provinz fortsetze? Nein, wehrt
       Kaya ab. Selbst wenn viele von ihnen aus der Provinz stammten, hätten fast
       alle einen Universitätsabschluss und gehörten zur Mittel- oder gar
       Oberschicht. Es gebe aber persönliche, zumeist rein sexuelle Kontakte zu
       maskulinen Schwulen, die sich aber selbst nicht als solche sähen und die
       Codes der Unterschicht kultivierten.
       
       Dieses Milieu findet man in einigen als Hammam getarnten Treffpunkten. Oder
       in der "Pasam-Bar" in Aksaray, einem Viertel für kleine Leute. Kein Schild
       deutet auf die Existenz dieser Bar hin, und mag sie auch auf
       internationalen Gaysites aufgeführt sein (mal als "very exotic", ein
       andermal als "not cool"), ist sie unter den Politschwulen kaum bekannt.
       "Das ist doch der Laden, in dem der Trucker dem Metzger zuzwinkert", sagt
       eine gut informierte Lambda-Frau. An der Tür wird schon mal nach Referenzen
       gefragt, innen hingegen wirkt das "Pasam" wie eine beliebige, einfache Bar
       - die Küsschen zur Begrüßung und der Körperkontakt beim Gespräch sind
       überall üblich. Die 30, 40 Gäste, fast alle in gestreiften, tief geöffneten
       Hemden, trinken Bier oder Raki und knabbern Erdnüsse. Das Interieur ist
       schäbig, der Raum dunkel. Viel geredet wird nicht, auch lautes Lachen
       scheint verpönt.
       
       Als ginge es darum, die Duldung von Transvestiten im Showbusiness zu
       karikieren, singt eine ramponiert wirkende Transe Arabesken - die stets von
       Unglück handelnde Popmusik der Vororte. Ab und zu setzt sie sich an einen
       der Tische und bittet einen der Herren zum Duett. Es wirkt erzwungen. Das
       subkulturelle Leitbild ist der agir abi, wörtlich: der "schwere, große
       Bruder". Dessen Werte: Stolz, Ehre und Ernst. Hier müsste man hinzufügen:
       Heimlichkeit. Denn die meisten Gäste sind, wie ein Kellner verrät,
       verheiratet. Ahmet Yildiz fand hier einige Male einen dieser Familienväter
       zum flüchtigen Sex.
       
       Bärige Kundschaft 
       
       Männer wie Kadir Erol, der tatsächlich anders heißt und nichts mit Ahmet
       hatte. Er ist Mitte fünfzig, arbeitet auf dem Bau und stammt aus der
       Schwarzmeerregion. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Mit
       seiner Frau geschlafen habe er schon, gerade so oft, dass ihr nichts
       auffiel. Wie seine Lust nach Vorschrift unbemerkt bleiben konnte? "Was
       versteht meine Frau schon von Sexualität?", fragt Erol zurück - und merkt,
       wie grob das klingt. Jetzt will er sich erklären: "Sie ist meine Cousine.
       Als wir miteinander verheiratet wurden, war sie 17, ich 20. Mit der Zeit
       sind wir gute Freunde geworden, aber keine Liebhaber. Manchmal frage ich
       mich, ob ich das Leben eines anderen gelebt habe. Dann denke ich wieder: So
       ist es besser, sonst hätte ich jetzt keine Familie und wäre einsam."
       
       Zurück nach Beyoglu, ins "Tekyön", wo sich Ibrahim Can und Ahmet Yildiz
       kennen gelernt haben. Damals eher einer "bärigen" Kundschaft reserviert,
       ist der Club in diesem Sommer in die Clubmeile auf der Siraselviler-Straße
       umgezogen. Und ist derzeit dank seiner Lage, seines Rauchergartens und der
       dank Krise toleranten Einlasspraxis außer Konkurrenz. An diesem windigen
       Augustsamstag mögen knapp tausend Gäste hier sein. Die Tanzfläche ist voll,
       in kühner Folge wechselt sich Kirmestechno mit Türkpop ab. Obwohl keine
       Transen und nur zehn Frauen reingelassen werden, ist die Kundschaft
       heterogener als in den Heteroclubs der Umgebung: Bären und Blasierte,
       Bürgerliche und Malocher, Lambda-Aktivisten, Väter, Stricher, Touristen,
       die Jüngsten gerade so volljährig, die Ältesten jenseits der 50. Zwei
       gegenläufige Tendenzen der türkischen Gesellschaft zeigen sich hier im
       Kleinen: Einerseits differenzieren sich Milieus und Lebensentwürfe aus,
       zugleich gibt es Konfrontationen - Heteros gegen Homos, Säkularisten gegen
       Religiöse, Türken gegen Kurden - die zusammenbringen, was nicht oder nicht
       mehr zusammenpasst.
       
       Und weil es nicht passt, wird auch getrennt gefeiert. Gruppen von eher
       jüngeren Schwulen aus der Ober- und Mittelklasse amüsieren sich beim Tanzen
       oder Plauschen, ebenso Bären, die mit nackten, behaarten Oberkörpern ihre
       eigene Party feiern. Das tendenziell ältere Publikum aus den Vorstädten
       hingegen steht eher am Rand, viele von ihnen sind allein, scannen unentwegt
       das Publikum.
       
       Einige Trucker-Typen versuchen sich mit ungelenken Bewegungen auf der
       Tanzfläche. Der Unterschied zwischen Feiernden und Scannenden dürfte etwa
       identisch sein mit dem zwischen erklärten und heimlichen Schwulen. Im Lauf
       der Nacht werden diese Dinge unwichtiger. Einige gehen einsam weg, dafür
       blockieren immer mehr knutschende Pärchen den Weg. Das Coming-out ist eine
       Klassenfrage. Der Sex nicht, jedenfalls nicht hier. Die Liebe schon eher.
       
       Einen neuen Liebhaber will Ibrahim Can nicht, solange Ahmet keine
       Gerechtigkeit widerfahren ist. Nächste Woche wird er zum Prozessauftakt
       reisen. "Ich will dem Gericht zeigen: Hier bin ich, wo sind die Mörder?"
       Und wenn er Ahmets Vater eines Tages tatsächlich begegnet? "Ich würde ihn
       fragen: Woher hat er sich das Recht genommen, Ahmet zu töten und mir so weh
       zu tun? Und dann möchte ich aus seinem Mund hören: Ich habe ihn getötet,
       weil er schwul war."
       
       Deniz Yücel, Jahrgang 1973, ist taz-Redakteur und meist unrasiert. Für
       diese Reportage drehte er in Istanbul Steine um, von denen er gar nicht
       wusste, dass es sie gibt.
       
       7 Sep 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Deniz Yücel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Deniz Yücel
 (DIR) Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
 (DIR) Schwul
 (DIR) Ehrenmord
 (DIR) Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
 (DIR) Transgender
 (DIR) Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
 (DIR) Vietnam
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Schwulen- und Lesbendemo in Istanbul: Behörden rechtfertigen Polizeieinsatz
       
       Wasserwerfer, Tränengas, Gummigeschosse: Nach der Gewalt gegen Teilnehmer
       der Gay Pride in Istanbul hält die Polizei das Vorgehen für angemessen.
       
 (DIR) Homosexualität in der Türkei: Von der Gesellschaft ausgeschlossen
       
       Die Regierung will Homo- und Transsexuelle in Sondergefängnissen
       unterbringen. Damit würden sie noch stärker stigmatisiert als ohnehin
       schon.
       
 (DIR) Kommunalwahl in der Türkei: Homos gegen Erdogan
       
       Erstmals kandidieren homo- und transsexuelle Aktivisten in der Türkei. Ein
       Erfolg der Gezi-Proteste. Doch die CHP versteckt ihre schwul-lesbischen
       Kandidaten.
       
 (DIR) Gay Pride in Vietnam: Homos auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad
       
       In Hanoi demonstrieren Lesben und Schwule für mehr Rechte. Die offzielle
       Politik reagiert positiv auf die zweite vietnamesische Gay Pride.
       
 (DIR) Hasskriminalität: Tot, weil er schwul war
       
       Am Dienstag beginnt in Istanbul der Prozess zum ersten dokumentierten
       Ehrenmord an einem Schwulen in der Türkei. Der Partner des Toten wird aus
       Köln anreisen.