# taz.de -- Der Soziologe Negt über Gewerkschaften: "Der Symbolvorrat ist aufgezehrt"
       
       > Der Soziologe Oskar Negt sagt: Schwarz-Gelb kann für die Gewerkschaften
       > auch eine Chance sein. Sie müssen in der fragmentierten Arbeitswelt ihre
       > Fixierung auf die Betriebe überwinden. Nur wie?
       
 (IMG) Bild: Oskar Negt im Sommer 2009 in seiner Bibliothek.
       
       taz: Herr Negt, hat Sie der klare Wahlsieg von Schwarz-Gelb überrascht? 
       
       Oskar Negt: Mich hat das Wahlergebnis nicht überrascht, es ist nicht
       untypisch.
       
       Die Finanzkrise hat marktradikale Ideen widerlegt, dennoch wählen Menschen
       eine FDP, die ebendiese offensiv bewirbt. Kein Widerspruch? 
       
       Nein. In Krisensituationen wachsen die Angstpotenziale in der Bevölkerung.
       Die Menschen vertrauen eher den Starken oder den vermuteten Starken. Der
       Angstrohstoff in dieser Gesellschaft hat sich von Jahr zu Jahr vergrößert.
       Eine solche Entwicklung trägt nie zur Aufklärung bei. Aber ich bin dennoch
       nicht unglücklich über dieses Resultat.
       
       Warum nicht? 
       
       Wir erleben eine Zeit der Polarisierung. Die Union wird zusammen mit der
       FDP manche Errungenschaft der Sozialen Marktwirtschaft einfach abräumen.
       Dies macht die Öffentlichkeit vielleicht aufmerksamer auf liegengebliebene
       Probleme. Etwa die Frage, wie es mit einer Arbeitsgesellschaft weitergehen
       soll, in der Rationalisierung das Grundprinzip ist. Und Rationalisierung
       bedeutet, auf lebendige Arbeitskraft zu verzichten oder sie so zu
       fragmentieren, dass Menschen neben ihrer Arbeit noch Staatshilfe brauchen.
       Solch entscheidende Probleme werden nicht angesprochen.
       
       Ist Schwarz-Gelb so gesehen auch eine Chance für die Gewerkschaften? 
       
       Die Gewerkschaften stehen seit einem Jahrzehnt mit dem Rücken zur Wand. Sie
       verteidigen Prinzipien der Tarifpolitik, die längst nicht mehr greifen.
       Ihre großen Erfolge für den Sozialstaat beruhen auf Verhandlungsmechanik,
       man verlangt zehn Prozent und bekommt fünf. Das funktioniert in einer
       fragmentierten Arbeitswelt nicht mehr.
       
       Wie müssen sich Gewerkschaften weiterentwickeln? 
       
       Sie müssen sich kulturell betätigen, anstatt sich auf Tarifverhandlungen
       und 1.-Mai-Kundgebungen zu konzentrieren. Die Gewerkschaften brauchen eine
       Doppelstrategie: Einerseits müssen sie in Betrieben stark bleiben und
       stärker werden. Andererseits aber müssen sie - als wahre
       Interessenvertretungen der Menschen - ihr Mandat erweitern. Das heißt, die
       Lebenswelt der Menschen aufnehmen, andere Gesellschaftsmodelle entwickeln,
       Utopien zulassen.
       
       Das ist leicht gesagt. In vielen Branchen ist der Organisationsgrad so
       gering, dass die Gewerkschaften die Beschäftigten nicht einmal mehr
       ansprechen können. 
       
       Das stimmt. Traditionelle Großbetriebe, in denen Gewerkschaften
       organisationsstark waren, sind selten geworden, sie haben sich
       diversifiziert. Und viele Menschen sind über Betriebe überhaupt nicht mehr
       erreichbar. Wie erreicht man Arbeitslose? Prekär beschäftigte Menschen?
       Oder Kreative, die ihre Produktionsmittel, Laptop und Blackberry, im ICE
       auspacken? Gewerkschaften müssen Menschen also über andere Ebenen
       erreichen. Beschäftigte haben Familien, Kinder und politische
       Bildungsinteressen, Themen, die Gewerkschaften oft noch als Spezialgebiete
       behandeln.
       
       Wie kann diese Ansprache gelingen? 
       
       Der Deutsche Gewerkschaftsbund unterhielt in den 1980ern noch Ortskartelle,
       Büros in Stadtteilen, in denen politische Bildung oder Rechtsberatung
       angeboten wurde. Also eine regionale und städtisch auf Probleme der
       Menschen bezogene Strategie. Heute sind Gewerkschaften mit ihren
       Kooperationsangeboten kaum mehr im öffentlichen Raum präsent. Und ihr
       Symbolvorrat ist aufgezehrt, auch selbst verschuldet.
       
       Sie meinen die immergleichen Streikfotos, IG Metaller mit Trillerpfeife? 
       
       Zum Beispiel. Junge Menschen fragen sich, wenn sie solche Symbole sehen:
       Was ist das?
       
       Gerade die IG Metall versucht sich unter ihrem Vorsitzenden Berthold Huber
       als Wertegemeinschaft zu positionieren, die gute Arbeit und ein gutes Leben
       fordert. 
       
       Das halte ich für einen richtigen Ansatz. Gewerkschaften müssen ihre
       betriebliche Fixierung überwinden, also ein zweites Standbein aufbauen.
       Allerdings ist diese strategische Ausrichtung in der IG Metall nicht
       unangefochten. Viele der Regionalfürsten und wichtigen Betriebsräte glauben
       nach wie vor an das Komanagement in den Betrieben als einzige Form der
       Verhandlungsmacht.
       
       Für viele Betriebsräte sind Gesellschaftsutopien eben nicht handfest genug. 
       
       Die Gewerkschaften haben ein ähnliches psychologisches Problem wie die
       Gesellschaft. Die interne Diskussion wird sehr aggressiv geführt, die
       Funktionäre sind zerrissen. Viele kleben an den Erfolgen der
       Nachkriegszeit, plädieren für ein "Weiter so" und werden in großer Not
       konservativ. Bei Diskussionen schildern mir Funktionäre einen Alltag, in
       dem sie gerade so bestehen können - abends haben sie einfach keine Energie
       mehr für politische Diskussionen. Dies ist ein sozialpsychologisches
       Phänomen. Wenn man sich in einer als unerträglich erachteten Situation
       befindet, verzehrt allein das Aushalten darin die Hälfte der Tagesenergie.
       
       Sind psychologische Deutungen Gewerkschaftern nicht noch fremder als
       Utopien? 
       
       In der Tat ist innerhalb der Organisationen der antipsychologische Affekt
       stark. Wer von Psychologie redet, greift in weiche Materie. Arbeitsplätze
       und Kapital hingegen sind harte Materie, sie liegt vielen Funktionären
       näher. Doch das Beharren darauf wäre eine gefährliche Täuschung - die
       weichen Themen sind heute wichtiger als die vermeintlich harten.
       
       Unter Schwarz-Gelb dürften die Verteidigungskämpfe für Gewerkschaften
       härter werden. Schlechte Zeiten für eine Neubesinnung? 
       
       Nicht unbedingt. Neue, werteorientierte Diskurse können in den
       Gewerkschaften erstarrte Energien lösen, identitätsstabilisierend wirken
       und ein neues Selbstwertgefühl etablieren. Utopien können also ein
       Befreiungsakt sein. Auf der Ebene tarifpolitischer Kämpfe ist die
       Wirksamkeit von Gewerkschaftspolitik begrenzt. Dieser Kampf auf kleinem
       Gelände, der zudem auch noch ständig verloren wird, führt zu depressiven
       Strukturen. Und Depressionen sind gefährlich, ja existenzgefährdend für
       Organisationen. Ohne utopischen Schub werden sie reduziert auf einfache,
       auf mit Unternehmenverbänden konkurrierende Interessenvertretungen. Und das
       wäre tödlich für die Gewerkschaften. Utopie ist ein Antidepressivum.
       
       Arbeit wird sich weiter verknappen. Wo wir gerade bei Utopie sind: Müsste
       Ver.di jetzt nicht die 20-Stunden-Woche fordern? 
       
       Die 35-Stunden-Woche, die Gewerkschaften Anfang der 80er erkämpft haben,
       sollte ein Schritt in genau diese Richtung sein. Als ich das damals mit dem
       Sozialphilosophen Nell-Breuning diskutierte, sagte er: Junger Freund, sie
       kämpfen für 35 Stunden. Dabei wären 10 Stunden völlig ausreichend, wenn die
       Menschen vernünftig mit ihren Ressourcen umgingen. Arbeitszeitverkürzung
       ist ein zentraler Punkt der Umverteilung von Arbeitsplätzen, deshalb wird
       diese Debatte wieder kommen. Außerdem muss sich das öffentliche Bewusstsein
       stärker auf Gemeinwesenarbeit richten, Aufgaben also, die nicht über den
       Markt zu finanzieren sind - in der Ökologie, in der Bildung oder in der
       Erziehung.
       
       Sie beschreiben in Ihren Schriften eine Dreiteilung der Gesellschaft - in
       integrierte Gewinner mit festem Arbeitsplatz, in prekär lebende Menschen
       und in die Abgehängten, die für die Warenproduktion überflüssig sind. Wie
       wird sich das in den nächsten Jahren verschieben? 
       
       Die Zahl der prekär Beschäftigten, die für niedrige Löhne oder zeitlich
       befristet arbeiten, wird zunehmen, davon bin ich überzeugt. Es müssen sich
       grundsätzlich Blickrichtungen verändern, etwa der Blick auf Wachstum.
       
       Der wird parteiübergreifend als Voraussetzung für neue Jobs begriffen.
       Falsch? 
       
       Natürlich kann man nicht gegen Wachstum sein, aber gleichzeitig muss man
       doch feststellen: Wachstum ist nicht geeignet, Arbeitsplätze zu schaffen.
       Helmut Schmidts Formel, die Gewinne von heute sind die Investitionen von
       morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen, hat sich umgekehrt. Heute
       gilt: Die Gewinne von heute sind die Arbeitslosen von morgen.
       
       Vorstände berufen sich auf die Bedürfnisse des Markts, wenn sie diese Logik
       vertreten. 
       
       Der Markt ist nicht imstande, eine würdige und sinnvolle Gesellschaft zu
       organisieren. Marktmechanismen sind auf Ausgrenzung, auf Vernichtung des
       anderen ausgerichtet, und nicht auf Kooperation. Der ursprüngliche
       Gewerkschaftsgedanke war der einer solidarischen Kooperation, im Sinne
       einer Hilfe für diejenigen, die sich nicht helfen können. Dieser Gedanke
       ist verloren gegangen.
       
       12 Oct 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Schulte
 (DIR) Eva Völpel
       
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 (DIR) Arbeit
       
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