# taz.de -- Langer Marsch der Liebe
       
       > Chinesien-Woche der Wahrheit. Eine Reise ins Reich der Rotchinesier.
       
       Vor kurzem ging ich in ein Flugzeug, postierte mich ans Bullauge und stieg
       in die Luft. Nach einigen Tagen veränderte sich die Landschaft. Überall
       waren plötzlich Palmen, Affenbrotbäume, Antilopen und Kaiser, kurz: Wir
       befanden uns über dem geheimnisvollen Reich der Mitte. Schnell bat ich den
       Piloten, mich hier aussteigen zu lassen. Aber das hätte ich besser nicht
       getan. Schon beim Flugzeugmittagessen war mir nämlich aufgefallen, dass
       mich eine seltsame Gestalt beständig anguckte, und nach meiner Bitte schien
       sie noch viel stärker von mir fasziniert.
       
       Für menschliche Verhältnisse war sie allerdings zu klein; auch hatte sie
       anstelle der Augen oval-opake, fast konkave Adduktoren, regelrechte
       Schlitze, und ihre Stimme war die eines Kolibris. Ich schlug in meinem
       Reisemini-Brockhaus nach und erfuhr, dass es eine Chinesin sein konnte.
       Bestimmt, so dachte ich, wohnt sie hier unten drunter! Da ich Abiturient
       bin und Chinesisch kann, sagte ich "Ni hau", das heißt Hallo, denn Ni
       bedeutet Hal und hau lo. Auch sie sagte "Ni hau", und ein Gespräch begann.
       
       Zuerst war alles sehr gemütlich und erotisch, aber dann piepste die
       Chinesin: "Hun sho weng?", das bedeutet: "Junger Mann, verfügen Sie über
       ein wenig Stahl und Ausdauer, vor allem in den Beinmuskeln?" Als ich
       bejahte, kam sie auf meinen Nebenplatz gekrabbelt und hakte sich bei mir
       ein. Kurz darauf landete der Pilot in Peking, und gemeinsam trippelten wir
       aus dem Flugzeug.
       
       Kaum steckten wir im Stadtgewimmel, sagte sie: "Shang Hai", das bedeutet:
       "Ich heiße Mei Li. Da hinten an der Rikscha steht mein Onkel Su. Siehst du
       ihn? Huhu, Onkel, komm mal her, wir haben einen Fahrer. Einen Europäer!"
       
       Flugs kam ein Greis herbeigeschlurft. Mit beiden Händen schob er eine
       Fahrradkutsche, und sein silbrig grauer Flusenspitzbart hing bis auf den
       Boden. Er war unendlich klug, und in seinen Adduktoren leuchtete die
       Weisheit eines Drei-Milliarden-Volkes. Schnell war das Gepäck im
       Zwischenraum verstaut. Mei Li und Onkel Su fletschten sich nach hinten, und
       ich "durfte" lostrampeln. Trampel, trampel, trampel, trampel, vorbei an
       Palmen, Antilopen und Chinesen. Nach zwei Stunden hörte unsere Reise immer
       noch nicht auf, und gerade wollte ich jedweder Kraft erlauben, meine Beine
       zu verlassen - da kreuzte eine blöde Hundsau meine Spur! So eine typisch
       scheißige Chinesentöle, wie sie, angehende Chinalogen aufgepasst, außerhalb
       der Dritten Pekinger Ringstraße gestattet sind und also nicht von Pekingern
       gefangen und gekocht und verspeist werden. Ich stolperte und stürzte in ein
       tiefes Bauloch. Aus reinem "Zufall" war es natürlich genau da gewesen, wo
       ich hinfallen wollte, grrr … Als ich schließlich unten ankam, wurde ich
       ohnmächtig.
       
       Das Aufwachen geschah in einem großen kahlen Raum mit Zahnarztstühlen. Mei
       Li und Onkel Su standen am Fenster, wandten mir den Rücken zu und
       zwitscherten. Sie waren unverletzt. Lächelnd betrachtete ich Mei Li, denn
       während meiner Ohnmacht hatte ich mich total in sie verliebt. Ein
       bernsteingelbes Abendlicht fiel auf ihr schwarzes Haar, und ihr
       Karategürtel hing ein bisschen schief, so dass ich fast alles sehen konnte.
       Leider blutete ich aus dem Kopf; mein Kiefer war beim Sturz dreimal
       gespalten worden, in Fontänen und Geysiren schoß der Eiter durch das
       Fenster auf Passanten, ich wurde immer dünner. Im letzten Augenblick kam
       dann ein Arzt getrippelt. Kompetenz und Freundlichkeit waren seinem Antlitz
       eingemeißelt, seine Füße steckten in flauschroten Buddhapuschen, und er
       sagte: "Du ganz luhig. Wil das kliegen wiedel hin. Plan ist: Wil schicken
       2.000 Volt in dich, und dann mal gucken."
       
       2.000 Volt? Hatte ich lichtig gehört? Nachdenklich senkte ich die Lider.
       Andererseits zwirbelte mein Kiefer wie ein Mückenstich. Aber wie der
       Chinesier so ist - der Doktor hatte nur Spaß gemacht! Stirnrunzelnd starrte
       er dann nämlich eine Weile auf mein Röntgenbild, schüttelte sich vor Ekel
       und schob mich schnell in das Behandlungszimmer. Etwa 40 Rotchinesier waren
       hier auf Zahnarztstühlen festgeschnallt; einige sangen Songs über den
       Gelben Fluß oder warfen sich Zitate aus der Langer-Marsch-Epoche zu. Die
       anderen konnten nicht mehr sprechen. An den unteren und oberen Zähnen
       trugen sie Stahlschienen, die durch Gummibänder felsenfest verbunden waren.
       Mundöffnen war unmöglich, die Genossen sahen scheiße aus, und so was sollte
       ich auch kriegen.
       
       Der Arzt legte sich auf mich und drückte mir die Kehle ab. Ich bekam keine
       Luft mehr. "Möchten Sie noch ilgend etwas legeln?", knurrte dieser
       Misthaufen von einer kommunistischen Arschpflaume, "Sie welden ungefähl
       dlei Wochen nicht splechen können." Ich dachte nach, aber mir fiel nichts
       ein. Plötzlich kam Mei Li herangeschwebt und fragte: "Gehts?"
       
       "Miserabel, meine Geisha. Gleich kann ich nicht mehr sprechen. Dabei wollte
       ich dir noch so viel sagen. Zum Beispiel habe ich mich im Traum …" - schon
       aber riss mich diese Rattenfott von einem marxo-asiatischen Brutalometzger
       weg, holte Bohrer, Schleifer, Spaten und grub sie tief in meine Kiefer. Als
       ich schrie, piercte er mir dreißig Stäbchen in die Ohren. "Keine Fulcht!
       Ist Akupunktul! Macht Schmelzen weg!"
       
       Es half tatsächlich. Ich spürte nicht, wie dieser angesehene
       Parteifunktionär meine Kieferknochen neu verteilte und zusammennähte.
       Außerdem hielt Mei Li die ganze Zeit meine Hand, Onkel Su ging
       zwischendurch oft eine rauchen. Nach drei Stunden war der Volksdentist
       zufrieden, wischte sich mit einer roten Fahne das Blut von den Händen und
       schaltete den Fernseher an - Peking-Oper.
       
       "Willst du bei uns wohnen?", fragte Mei Li und zärtelte an den Eisenstangen
       rum, die meinen Mund in Form hielten. "Ich werde dich pflegen. Schließlich
       bist du durch unsere Schuld in diese Grube geplumpst." Ich nickte mit dem
       Kopf; mehr ging ja nicht. Da gab Mei Li mir einen Kuss …
       
       Seit zwei Wochen wohne ich nun bei Onkel Su, seiner Frau Su Si und ihrer
       Nichte. Wir sind ein Paar geworden, und täusche ich mich nicht, ist auch
       was Kleines unterwegs. Ob ich in Chinesien bleibe? Vielleicht. Es sind ja
       alle so gut zu mir. Sie kochen Suppe, pressen Säfte aus frischem Reis und
       massieren mich - auch schon mal nach "original" Bangkok-Manier. Aber soll
       das alles gewesen sein? Pfff! Ich weiß nicht! In Wirklichkeit ist es hier
       nämlich total - kacke. Keine Kultur, kein Benimm, keine Bundesliga. Wie
       schrieb Mao: "Wenn ich die Wahl gehabt hätte - immer Offenbach."
       
       12 Oct 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Gsella
       
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