# taz.de -- Istanbul: Wo der Kulturkampf tobt
       
       > Aufstrebende Moderne, verhüllte Frauen, hartnäckiges Patriarchat.
       > Ehrgeizig ist man hier, lebensdurstig, neugierig und konservativ. Eine
       > taz-Reise an den Bosporus
       
 (IMG) Bild: Im Badehaus
       
       Oberhalb des Bosporus in dem feinen Wohngebiet Levent ragt ein Neubau hoch
       in den Himmel. Sapphire Tower ist nicht der erste Wolkenkratzer, der diese
       Tage in Istanbul gebaut wird - dennoch ist er etwas Besonderes. Die
       vierundsechzig Stockwerke hohe Residenz mit seinem erdbebensicheren
       Stahlbetonskelett und seiner transparenten, himmelblauen Verschalung ist
       ein stolzes Architekturwunder. "Der höchste Bau nicht nur unseres Landes",
       sagt der junge Verkaufsmanager am hell erleuchteten Modell auf dem
       Glastisch, um das herum sich die kleine Gruppe der taz-LeserInnen auf ihrer
       Erkundungstour durch Istanbul neugierig geschart hat: "Nach dem Moscow
       Tower ist dies der höchste Bau Europas."
       
       In der Sonne glänzen in weiter Ferne auf der anderen Seite des Goldenen
       Horns die Kuppeln. Die Kirche der heiligen Weisheit im Herzen der
       historischen Halbinsel, die Hagia Sophia, die Blaue Moschee, der über
       fünfhundert Jahre alte Topkapi-Palast. Sie sind die unvergänglichen Beweise
       der einstigen Größe des Osmanischen Reichs, mit dem sich die Türken in
       diesen Tagen wieder anfreunden. Der Islam und das sechshundertjährige Reich
       werden zum psychischen Kraftstoff für den Anschluss an die globalisierte
       Welt. Ein neuer Unternehmertyp ist entstanden, ehrgeizig und fromm. Das
       sind die Söhne der einstigen Einwanderer aus Anatolien, die zweite
       Generation der Migranten, die Istanbul jetzt sein neues Gesicht gibt.
       
       Kein anderer Bau symbolisiert Istanbuls Gegenwart und weist in seine
       Zukunft wie der Sapphire Tower. Sein Erbauer ist kein Kaiser oder Kardinal,
       sondern ein Einwanderer aus dem tiefen Ostanatolien. Er hat mit seinen zwei
       Brüdern als bakkal, als kleiner Lebensmittelhändler, in einem der vielen
       Wohnviertel, der mahalle, Istanbuls begonnen. Seine nur 25-jährige
       Erfolgsstory führt aus dem kurdischen Slum zur neuen islamisch-frommen
       Bourgeoisie der Türkei. Mit der Kiler-Supermarktkette ist die Holding
       zwischen 2002 und 2007 durchschnittlich 40 Prozent im Jahr gewachsen und
       macht inzwischen über 600 Millionen Dollar Umsatz. Inzwischen hat der
       Konzern hunderte von Supermärkten in zwei Dutzend türkischen Städten, ein
       Bein im boomenden Energiesektor und mehrere teure Bauvorhaben für die
       Oberschicht im Zentrum und an den Rändern der 12-Millionen-Metropole. Was
       Sapphire von anderen Wolkenkratzern unterscheidet, ist nicht nur seine
       Höhe, sondern das außergewöhnliche Wohnprojekt insgesamt. Das Gebäude hat
       zwei Fassaden. Zwischen der äußeren Glashülle ohne jede Öffnung nach außen
       und der eigentlichen Fassade mit Fenstern, Balkonen und Terrassen
       wiederholt sich alle drei Stockwerke ein grüner Garten. Hier wachsen Bäume,
       es gibt grünen Rasen, Blumenbeete. Das Ganze wird mit einem raffinierten
       System belüftet. "Wenn Sie an der Außenfassade ein Fenster öffnen wollten,
       dann würde sie insgesamt zerspringen", sagt der Verkaufsmanager, "aber ab
       einer bestimmten Höhe verschwindet die Stadt sowieso unter einer
       Dunstglocke". Schickes Wohnen für Betuchte. Und auf 260 Metern Höhe wird es
       eine atemberaubende Aussichtsterrasse geben - mit Eintritt,
       selbstverständlich.
       
       Die taz-Karawane zieht weiter. Unsere LeserInnen sind von weit her
       gekommen, aus Köln, Berlin, Wien und Kreta. Fünfzehn Menschen aus ganz
       unterschiedlichen Lebensbereichen, die ein offenes Auge und einen
       neugierigen Verstand haben, wollen keine bloße Sightseeing machen, sondern
       mit einem auf Bildungsreisen spezialisierten Guide die türkische
       Zivilgesellschaft kennenlernen. Orhan Esen, unser Reiseleiter, ist Linker,
       Historiker und leidenschaftlicher Vermittler zwischen den beiden Sprachen
       und Denkweisen. Wenn die Widersprüche in einem Meer von postmodernen Images
       zu verschwinden drohen, dann öffnen er dem Reisenden den Blick - mit dem
       nächsten Termin.
       
       Etwas weiter unterhalb von Sapphire, in einem mehr schlecht als recht
       erbauten einfachen Haus mit vergilbtem Anstrich, rühren Frauen mit Kindern
       auf dem Schoß in einem großen Suppentopf. Das Essen muss für alle reichen.
       Die Fenster sind weit geöffnet, von draußen dringt der Lärm der
       vorbeifahrenden Autos herein, die immerwährende Geräuschkulisse der Stadt,
       Polizeisirenen, der Wassermelonenverkäufer, ein Baby schreit. Die Frauen
       des Viertels haben sich selbst zu einer Kita verholfen und den Laden in
       eine Art feministisches Zentrum umgebaut.
       
       Die Frauenkooperative Nurtepe Ilkadim ("Erster Schritt") ist gegründet
       worden, um in Eigenregie auf die Kinder der Frauen aufzupassen, die jeden
       Morgen in aller Herrgottsfrühe aus dem Armenviertel in die reicheren
       Haushalte gehen, um dort auf andere Kinder und Alte aufzupassen, zu putzen
       oder in Firmen Tee zu servieren. Mit der Zeit ist aus dem Laden ein
       Frauenzentrum geworden.
       
       Das Patriarchat hält sich in diesen Breitengraden hartnäckig. Die
       Freiheiten, die auf die Mittel- und Oberschichten begrenzt waren, haben
       eine neue politische Bedeutung erfahren. Die Verhüllung wird im neuen
       Diskurs als die einzig richtige Verhaltensweise der Muslimin behandelt. Als
       Frau wird man sich seiner offenen Haare bewusst: eine merkwürdige,
       erschreckende Vorstellung. Der Kulturkampf tobt. Taxifahrer, die nachts
       jede allein einsteigende Kundin als Prostituierte ansehen, die
       unübersehbare Männerdominanz auf den Straßen mancher Stadtteile, der
       Anstieg der Gewalt gegen Frauen - die Männergesellschaft schlägt
       buchstäblich zurück. Doch es gibt Zentren des Widerstands.
       
       Die Frauen der Kooperative haben mit dem Beistand eines feministischen
       Vereins Zugang zu EU-Geldern bekommen und in den letzten Jahren
       sechshundert Männer, Frauen und Schwiegermütter über Gewalt aufgeklärt. Der
       Staat ist hier abwesend. Tausende Menschen arbeiten mitten in Istanbul
       schwarz irgendwo auf der Baustelle oder im privaten Haushalt und
       organisieren ihre Kinderbetreuung selbst. Die Kommune nimmt für die zwei
       kleinen Stockwerke, die sie nutzen dürfen, keine Miete, gibt ihnen aber
       auch keinen Vertrag.
       
       Die Themen "Frau, Religion, Kopftuch" stehen - wie könnte es anders sein -
       im Mittelpunkt der Reise nach Istanbul, aber auch das immense Wachstum der
       Stadt, ihre sichtbare Modernisierung, die lebhafte Kunst- und Kulturszene,
       die Gentrifizierung, also die Veredelung der heruntergekommen
       innenstädtischen Bezirke, die Immobilienspekulation, ja, der Bauboom.
       Istanbul wächst und kämpft mit sich selbst. Wo sind seine Grenzen, wo sind
       die Grenzen für die Menschen im Umgang miteinander, mit der Natur? Wie kann
       die Innenstadt autofrei werden? Wer verhindert die dritte Brücke, die über
       dem Bosporus gebaut werden soll und die die letzten großen Waldgebiete im
       Norden kaputt machen wird? Was ist mit den Hunderttausenden von illegalen
       Einwanderern nicht aus, sondern in der Türkei, von denen ein Großteil in
       den Altbauten am Goldenen Horn haust? Die Afrikaner, die alljährlich dort
       ihre Fußballturniere abhalten - Ghana gegen Kongo. Und noch einmal, was ist
       nun mit dem Kopftuch?
       
       Was tun gegen die Konservativen, die das Land doch auch sichtbar
       modernisieren - die Straßen sauberer machen, den Verkehr ordnen? Das
       ehrgeizige anatolische Kapital als Motor einer kapitalistischen
       Entwicklung, die die Menschen irgendwann von selbst zu Demokraten macht?
       Der Wille, seinen Platz in der Welt einzunehmen, ist viel stärker spürbar
       als in mancher europäischer Metropole. Istanbul putzt sich heraus mit neuen
       Verkehrsnetzen, mit Zügen in die Region, Fußgängerzonen, Cafés, Restaurants
       und einem Unterseetunnel, der in einigen Jahren beide Seiten des Bosporus
       miteinander verbinden wird. Ehrgeizig ist man hier, lebensdurstig,
       neugierig. Jeder Tag scheint wie eine neue Herausforderung: ein Blick in
       die Schlagzeilen - ja, neue Entwicklungen in der Kurdenfrage, neue
       Verhaftungen gegen die extremen Nationalisten, neue Läden in der
       Einkaufsstraße, neue Wachstumsprognosen, neue Arbeitslosenziffern.
       
       Man besuchte Kirchen und Moscheen, laute Kneipen und Vororte, in die sich
       kein Tourist verirrt. Die taz-Reise ist ein intensives Erlebnis, werden die
       meisten nach sieben Tagen und Nächten feststellen. "Ich wohne seit zwanzig
       Jahren in Frankfurt aber ich habe jetzt das Gefühl, dass ich Istanbul
       besser kenne", sagt einer der Teilnehmer. Und man hat gelernt: Istanbul ist
       nicht Großkreuzberg - es ist eine Weltstadt.
       
       21 Oct 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dilek Zaptcioglu
       
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 (DIR) Reiseland Türkei
       
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