# taz.de -- Pro & Contra: Ist Deutschland jetzt protestantischer?
       
       > 20 Jahre nach dem Mauerfall haben die Deutschen eine märkische
       > Protestantin zum zweiten Mal zur Kanzlerin gewählt. Ist das Barocke des
       > Südens ein Auslaufmodell?
       
 (IMG) Bild: Später Troumph des Reformators? Mehrfach spiegelndes Lutherbildnis in der Ausstellung "Fundsache Luther" in Halle (Saale) 2008/2009.
       
       ## Ja!
       
       sagt Isolde Charim, Philosophin und Publizistin aus Wien 
       
       Die politische Repräsentation in Deutschland ist heute unzweifelhaft
       protestantisch geprägt. Das ist wirklich beachtlich. Nicht nur weil
       Protestantismus und Repräsentation so gar nicht zueinander passen - ist
       Repräsentationsverweigerung nicht das Markenzeichen von Angela Merkel? Ihr
       Auftreten hebt sie von allen anderen ab. Von Radaubrüdern wie Sarkozy,
       Berlusconi oder Putin (alles Männer!), aber auch von ihrem Vorgänger im
       Kanzleramt.
       
       Schröder schien die Figur der hedonistisch befreiten Gesellschaft zu sein -
       der Lebemann, in dem sich eine vehement genießende Gesellschaft
       wiedererkennen konnte. Solch eine Figur würde heute aber gar nicht mehr
       passen. Nicht weil die Gesellschaft zu den protestantischen Tugenden von
       Askese, Enthaltsamkeit und Disziplin zurückgefunden hätte. Aber mit der
       Finanzkrise hat sich die Situation radikal verändert. Und wenn diese
       Veränderung auch noch keine tief greifende mentale Wandlung ausgelöst hat,
       so gibt es doch - ob subkutan oder explizit - ein weitverbreitetes
       Verständnis dafür, dass es einer geistigen Erneuerung bedarf.
       
       Wir haben also die ungewöhnliche Situation, dass es eine Nichtentsprechung
       von Bevölkerung und ihrer Repräsentation gibt und dass diese Schere keinen
       Unmut auslöst. Im Gegenteil: Merkel verkörpert so eine Art
       "Avantgardefunktion" in Sachen Protestantismus, die die Leute beruhigt. Das
       zeigt die Zustimmung, die Merkel weit über ihre tatsächliche Wählerschaft
       hinaus genießt.
       
       Steinmeier war ja auch nicht gerade eine Glamourfigur. Es war ein bisschen
       die Wahl: Wer ist protestantischer? Wer verkörpert besser Pragmatismus,
       Nüchternheit, Bescheidenheit? Da war die Frau aus dem Osten ihrem
       Herausforderer tatsächlich überlegen. Der Protestantismus kehrt also als
       Erbschaft des Kommunismus wieder und stutzt auch so antiprotestantische
       Figuren wie Westerwelle zurecht.
       
       Merkel erfüllt die Sehnsucht nach Strenge und Askese optimal. Denn sie ist
       der Garant eines stellvertretenden Protestantismus - einer Gesellschaft,
       die dort noch nicht angekommen sein mag, die aber weiß, dass es genau
       dessen jetzt bedarf.
       
       ## Nein!
       
       sagt Ralph Bollmann, Leiter des taz-Parlamentsbüros 
       
       Würde man Historiker nach dem Deutschesten aller Deutschen fragen, fiele
       die Wahl vermutlich auf Martin Luther. Kein Ereignis hat das Land so sehr
       geprägt wie die Reformation. Ohne sie keine Glaubensspaltung und blutigen
       Religionskriege, keine preußische Allianz von Thron und Altar. Mit seiner
       Abneigung gegen das "welsche" Papsttum, gegen die Globalisierung der
       römischen Kirche und den frühkapitalistischen Ablasshandel steht Luther für
       vieles von dem, was später als deutscher Sonderweg oder "Abkehr vom Westen"
       kritisiert wurde. Allerdings auch für manches, was Modernisierung und
       Rationalisierung mit sich brachte.
       
       Dass die alte Bundesrepublik bis 1990 von katholischen Rheinländern,
       Pfälzern oder Bayern dominiert wurde, galt vielen als zivilisatorischer
       Fortschritt. Der konfessionelle Gleichklang erleichterte Konrad Adenauers
       Politik der Westbindung, während manchem Protestanten die Gründung der
       Europäischen Gemeinschaft mit Franzosen, Italienern oder Belgiern als
       ultramontanes Komplott erschien.
       
       Nach der Wiedervereinigung löste die These, Deutschland werde nun wieder
       protestantischer, deshalb auch Ängste aus. Nicht nur bei der CDU um ihre
       strukturelle Mehrheitsfähigkeit, sondern auch bei Linken und Liberalen. Die
       vorbehaltlose Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens, wie sie
       Jürgen Habermas genannt hatte, schien in Gefahr. Die karge brandenburgische
       Steppe oder die reformatorischen Kernlande in Sachsen und Thüringen wirkten
       auf geradezu unheimliche Weise deutsch.
       
       Zwanzig Jahre später erweisen sich diese Befürchtungen als kulturalistische
       Klischees. Angela Merkel regiert so kühl wie ihr katholischer Vorgänger
       Konrad Adenauer, barock agierten eher die Protestanten Ludwig Erhard und
       Gerhard Schröder. Auf die konkrete Politik hatte all das wenig Einfluss -
       nicht einmal auf Wahlergebnisse.
       
       Im katholischen Süden verliert die Union rasanter an Zuspruch als im
       Norden. Und vom antiwestlichen Furor Luthers waren Deutschlands
       protestantische Kanzler alle so weit entfernt wie ihre katholischen
       Kollegen.
       
       31 Oct 2009
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Israel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kolumne Knapp überm Boulevard: Die diasporische Lektion
       
       Die Erfahrung Israels lehrt: Demokratien brauchen einen pluralistischen
       Univeralismus. Es gilt, die verschiedenen Identitäten zu verbinden.