# taz.de -- Rettung des finnischen Urwalds: Der sture Hirte
       
       > Kalevi Paadar lebte von seinen Rentieren und sie vom Urwald. Doch die
       > Holzindustrie stellte alles infrage. Sie stritten Jahrzehnte, bis zu den
       > Vereinten Nationen. Jetzt hat er gewonnen.
       
 (IMG) Bild: Rentiere fressen die Bartflechten, die von den Ästen der Bäume hängen. Im Winter oft die einzige Nahrungsquelle.
       
       NELLIM/LAPPLAND taz | Es ist jetzt so, dass Kalevi Paadar sich morgens im
       Dunklen auf seinen Snowscooter schwingen, den Motor anwerfen und losbrausen
       kann, hinein in die endlosen, verschneiten Wälder, immer den Spuren der
       Rentiere folgend. Ein kaltes und einsames Fahren durch die Finsternis. Denn
       so ist es nun mal hier oben im Norden Lapplands: dass sich um diese Zeit im
       Winter die Sonne nicht zeigt, am Morgen nicht und schon gar nicht für den
       Rest des Tages.
       
       Kalevi Paadar gleitet also durch die schwarzen Wälder, sucht seine
       Rentiere, treibt sie zusammen, der Schnee stiebt, die zitternden
       Scheinwerfer des Snowscooters weisen die Richtung. Ein Mann allein mit sich
       und seiner Aufgabe. Er fährt und fährt durch die Dunkelheit, nur das
       Brummen des Snowscooters fährt mit. Keine Planierraupe schneidet ihm den
       Weg ab, keine Holzfäller mit Kettensägen, keine kreischenden Maschinen
       reißen kahle Stellen in den Wald.
       
       Kalevi Paadar auf seinem Schlitten, die Bäume und die Rentiere haben
       endlich Ruhe. Er nennt diese Ruhe: "Friede auf Erden". Das mag pathetisch
       klingen, aber da der Rentierhirte Kalevi Paadar sparsam mit Worten umgeht,
       sollte man diesen Ausdruck vor allem als Hinweis auf die vorangegangenen
       Verletzungen sehen.
       
       Tatsache ist: Es gibt viele frohe Botschaften, die mit der neuen Ruhe
       zusammenkommen. Kalevi Paadar muss sich nicht mehr morgens in seinen Toyota
       setzen und durch den Schnee zum Gerichtsgebäude in die Provinzhauptstadt
       Ivalo schlittern. Manche Leute im Dorf gucken nicht mehr weg, wenn sie ihn
       auf der Straße sehen. Vielleicht würde er sogar im schmalen Supermarkt von
       Nellim wieder bedient. Aber er hat es nicht mehr probiert, seit es zu
       unschönen Szenen mit der Besitzerin des Ladens gekommen ist. Das war zu
       jener Zeit, als die Dinge durcheinander gerieten in der
       200-Einwohner-Gemeinde. Zu der Zeit als der große Krach eskalierte.
       
       Die wunderbare und global bedeutsame Nachricht aus Nellim im Norden
       Lapplands jedoch ist, dass der sechzig Jahre alt Rentierhirte Kalevi Paadar
       es geschafft hat, 16.000 Hektar finnischen Urwalds zu retten. Ein kleiner,
       schweigsamer Mann. Einer mit dunklen strubbeligen Haaren und scheuen
       Knopfaugen. Ein Sami, ein Angehöriger der Minderheit, die als ursprüngliche
       Bevölkerung Lapplands gilt. Ein introvertierter Kauz, der in einer
       verrümpelten, ehemaligen Gaststätte an der Dorfstraße wohnt, und seit er
       mit fünfzehn Jahren die Schule geschmissen hat, draußen mit den Rentieren
       unterwegs ist. So wie sein Vater, sein Großvater und die Generationen davor
       es waren. Ein Leben, das von den Tieren bestimmt ist. Ein Dasein, das
       keinen Platz lässt für Luxus. Wenn Paadar einen Gebrauchtwagen kauft,
       bezahlt er ihn mit zwei Plastiksäcken Rentierfleisch und einem Sack Fisch.
       
       Die neue Ruhe in Nellim steht nun für das schöne Ende eines langen Streits
       zwischen zwei Männern. Ein Krach, der das Dorf tief gespalten hat. Ein
       Streit, der über Nellim hinauswuchs, bis die Sache irgendwann sogar die
       Sphäre internationaler Aufmerksamkeit erreichte. Ein Konflikt, über den die
       beiden Männer alt geworden sind.
       
       Aber nun, vor ein paar Monaten, hat sich Kalevi Paadars Gegenspieler Pertti
       Heikkuri von der staatlichen Forstbehörde Metsähallitus in einen
       Kneipenraum mit einem schiefen Grinsen neben ihn gestellt und gesagt: "Wir
       müssen uns nie mehr über Wälder unterhalten." Und das ist nach all den
       Jahren eine unglaubliche Angelegenheit.
       
       Jetzt sitzt Oberförster Pertti Heikkuri allein in der dunklen Ecke
       derselben Kneipe in Ivalo, rund fünfzig Kilometer südlich von Nellim. Aus
       dem Nebenraum jault eine Karaoke-Gesellschaft herüber, und der Lärm der
       anderen Gäste verstärkt den Eindruck von Verlassenheit, die den Mann in der
       Ecke umgibt. Tatsächlich sieht der 54 Jahre alte Heikkuri mit den
       wässerigen Augen, den strähnigen, grauen Haaren und dem Schnauzbart aus wie
       ein melancholischer Held aus einem skandinavischen Film. "Es ist nicht
       schön, einen solchen Konflikt ständig mit sich herumzutragen", sagt er, als
       er seine Version erzählt. Das Schleppen in seiner Stimme verrät, dass er
       sich über seine problematische Rolle in der Auseinandersetzung bewusst ist.
       
       Seinen Anfang nahm der Streit zwischen Oberförster Pertti Heikkuri und dem
       Rentierhirten Kalevi Paadar aus Nellim, als das staatliche finnische
       Forstamt Metsähallitus in den Siebzigerjahren begann, im großen Stil die
       Wälder Lapplands zu roden.
       
       Holz schien in Finnland schier unbeschränkt vorhanden. Die Holzfäller von
       Metsähallitus machten sich über riesige Waldgebiete her, und auch wenn
       Förster Heikkuri diese Tatsache gern unerwähnt lässt, war es doch so, dass
       seine Holzfäller wüste, öde Landschaften hinterließen, wenn sie nach der
       Arbeit nach Hause fuhren.
       
       ## Der Förster ließ immer mehr Bäume roden
       
       Große Gebiete lappländischen Urwalds waren verloren. Auch für die Rentiere.
       Sie fressen die Bartflechten, die von den Ästen der Bäume hängen. In den
       langen Wintermonaten sind die Bartflechten fast die einzige Nahrung, die
       die Rentiere finden können. Mit simpler Aufforstung ist es daher nicht
       getan. Die klimatischen Bedingungen sind hart. Die Bäume brauchen
       Jahrzehnte, bis sie eine passable Größe erreicht haben. Und die
       Bartflechten wachsen nur an Bäumen, die mehrere hundert Jahre alt sind.
       
       Der Rentierhirte Paadar aus Nellim beobachtete die vom Oberförster Heikkuri
       geschickten Holzfäller mit ihren zerstörerischen Maschinen und begriff,
       dass, wenn sie weitermachten, seine Rentiere nicht würden überleben können.
       Mit den Tieren würde seine eigene Lebensgrundlage schwinden, ebenso wie die
       der anderen Rentierhirten im Dorf. Die Sami sind keine gesprächigen Leute.
       Aber so wie die Dinge lagen, musste Paadar mit Heikkuri reden.
       
       Die Verhandlungen, die er und alle anderen Rentierhirten mit dem
       Oberförster in den folgenden Jahren führten, liefen immer nach dem selben
       Muster ab: Die Männer beugten sich über Karten, die Heikkuri mitbrachte.
       Heikkuri malte mit einem bunten Stift Kreise um verschiedene Waldgebiete.
       Er fragte die Rentierhirten, welche Bereiche sie den Holzfällern überlassen
       wollten. Im Gegenzug wurden andere Zonen vorerst verschont. Wenn der Wald
       dann gerodet war, tauchte Heikkuri wieder mit seinen Karten auf und
       verlangte neue Gebiete. Dreißig Jahre lang kam er immer wieder. Man muss
       sich den Oberförster in dieser Zeit wohl wie ein Ungeheuer vorstellen, das
       nie genug bekommt.
       
       Perttie Heikkuri sitzt in seiner Kneipenecke und beschreibt sein Vorgehen
       weniger drastisch: "Ich hatte eigentlich ein gutes Verhältnis zu Kalevi, es
       lief okay zwischen uns." Dabei dauerte das Ringen um den Wald nun schon
       länger als manche Ehe, Heikkuris vier Kinder waren mittlerweile erwachsen
       geworden. Um das Jahr 2001 bemerkte der Förster allerdings beim
       Rentierhirten eine Veränderung. Irgendein Hebel in Paadars Innerem schien
       umgelegt zu sein. Er ließ nicht mehr mit sich reden, wenn Heikkuri mit den
       Karten kam. "Ich weiß nicht, was es war, dass er das Ganze plötzlich so
       weit treiben musste. Er machte die Sache größer als sie eigentlich ist",
       knurrt Heikkuri.
       
       Paadar sitzt abwartend auf dem schrabbeligen Schaukelstuhl im Wohnzimmer
       seiner Junggesellenbude in Nellim, die Lampe hängt schief von der Decke, im
       Kamin stapeln sich leere Bierdosen, zwei Hunde schnarchen in einer Ecke.
       Paadar guckt zur Seite, in Schweigen versunken. Ein Schweigen, das so lange
       dauert, dass zeitweise unklar ist, ob er an diesem Abend überhaupt noch
       einmal daraus auftauchen wird. Irgendwann sagt er mit einer Stimme, die
       knarzt und knattert wie ein kaputter Außenbordmotor: "Wir mussten etwas
       tun. Sonst wäre alles verloren gewesen."
       
       Er hatte begriffen, dass Heikkuri und seinen Holzfäller niemals Ruhe geben
       würden. Sie würden immer wiederkommen und den ganzen Wald fällen, bis zum
       letzten Nadelbaum. Paadar beschloss, zu anderen Maßnahmen zu greifen. Er
       beschloss, mit den Greenpeace-Leuten zusammenzuarbeiten.
       
       ## Die Vegetarier von Greenpeace machten Wind
       
       Die Greenpeace-Leute waren schon länger in der Gegend. Es waren junge,
       tatendurstige Menschen, die zu den samischen Rentierhirten liefen und sie
       nach den Wäldern fragten. Die Tatsache, dass in Lappland viele Sami gemäß
       der Tradition und mangels Alternativen immer noch von den Rentieren leben,
       machte sie zu den Hauptleidtragenden der Waldzerstörung. Im Frühjahr 2004
       kam sogar ein Waldexperte von Greenpeace aus Hamburg angereist. Deutschland
       ist der wichtigste Abnehmer des Papiers, das aus dem finnischen Holz
       produziert wird.
       
       Dem Rentierhierten gefielen die Greenpeace-Leute, auch wenn sie fast alle
       Vegetarier waren und sich zierten, wenn man ihnen ein paar Scheiben
       Rentierwurst anbot. Der Waldexperte aus Deutschland sagte, er wolle die
       Sache an die ganz große Glocke hängen. Er wollte internationales Aufsehen
       erregen. Der Waldexperte redete mehr, als es die Menschen in dieser Gegend
       gewohnt sind. Er sprach von einem Protestcamp, das sie nächstes Frühjahr im
       Wald aufbauen wollten. Paadar hatte die Ahnung, dass mit dem Waldexperten
       etwas in Bewegung geraten könnte. Vielleicht braucht man einen lauten
       Schwätzer, um in der Welt Gehör zu finden. Er lud die Greenpeace-Leute ein,
       das Camp in Nellim aufzubauen.
       
       Der Waldexperte fuhr zurück nach Hamburg. Kurz darauf besuchte er mit zwei
       aus Lappland angereisten Sami-Rentierhirten den Verband deutscher
       Zeitschriftenverlage in Berlin. Die Rentierhirten erzählten den Verlegern
       von der Urwaldzerstörung. Hinterher gab es hektische Telefongespräche
       zwischen deutschen Verlagsmanagern und finnischen Papierfabrikanten. Der
       Waldexperte hatte begonnen, Wirbel zu machen.
       
       Im März 2005 bezogen dann rund zwanzig Greenpeace-Aktivisten aus Brasilien,
       Italien, Deutschland, Schweden und Neuseeland zwei Wohncontainer im Wald
       bei Nellim. Die Aktivisten liefen mit Paadar durch den verschneiten Wald
       und hängten Schilder auf. Darauf stand: "Achtung! Wichtiger Wald für die
       Rentierwirtschaft!"
       
       Man kann sich vorstellen, dass nicht alle im Dorf begeistert waren von den
       Entwicklungen. Nicht alle in Nellim leben von den Rentieren, es gibt drei
       Metsähallitus-Holzfäller im Ort, und einer von ihnen ist Kalevi Paadars
       Bruder. Der Konflikt begann einen Keil durchs Dorf zu treiben. In einer
       stillen Region wird es nicht gern gesehen, wenn ein einfacher Hirte den
       Mund aufmacht. Die Menschen scheuen Konflikte. Sie sperren die Häuser und
       Autos nicht ab. Andererseits besitzt fast jeder eine Jagdwaffe. Es gibt
       viele, die schon mittags gegen die Dunkelheit antrinken. Oberförster
       Heikkuri erklärt: "Die Leute wollten sich nicht von irgendwelchen jungen
       Hippie-Typen aus der Stadt sagen lassen, wie sie zu leben haben."
       
       Kurzum: Die Holzfällergewerkschaft rief zum Boykott von Rentierfleisch auf.
       Unterschriften gegen Kalevi Paadar und das Camp wurden gesammelt. Alte
       Männer, die jahrelang nur schweigend in der Ecke gesessen waren, sprangen
       auf Dorfversammlungen auf und brüllten Kalevi Paadar an. Die Besitzerin des
       Dorfsupermarkts weigerte sich, die Greenpeace-Aktivisten zu bedienen.
       Wenige Meter neben dem Greenpeace-Camp bauten Holzfäller ein Zelt auf und
       nannten es "Anti-Terror-Camp".
       
       Die Dinge gerieten außer Kontrolle. Tagsüber lagen die Holzfäller im Zelt
       und betranken sich, nachts wummerten sie besoffen mit den Fäusten gegen die
       Türen der Greenpeace-Container. Sie ließen ihre Kettensägen aufheulen und
       brausten mit ihren Snowscootern durch die Nacht wie wild gewordene
       Teenager. Sie rissen die Greenpeace-Schilder ab, hängten Galgen im Wald auf
       und verbrannten Holzkreuze. Sie schmierten Hühnermist gegen die Scheiben
       der Greenpeace-Container. Ein Greenpeace-Mann erhielt per Telefon eine
       Morddrohung.
       
       Die Aktivisten blieben. Sie luden den Geschäftsführer von Stora Enso ein,
       der größten finnischen Papierfabrik. Tatsächlich kam der Geschäftsführer
       aus Helsinki, stapfte mit den Aktivisten und Paadar durch den Wald, schaute
       sich die Bartflechten an den Ästen an und dann die abgesägten Stämme am
       Straßenrand. Er dachte an die Telefonate mit den deutschen Verlagsmanagern.
       Nach seiner Rückkehr nach Helsinki schickte er eine Presseerklärung heraus,
       in der stand, dass Stora Enso bis auf Weiteres kein Holz mehr aus dem
       umstrittenen Gebiet verarbeiten werde. Da stoppte Metsähallitus das
       Baumfällen.
       
       ## Die Sägen kamen wieder, der Hirte ging aufs Ganze
       
       Die Greenpeace-Aktivisten bauten ihr Camp ab und reisten weiter. Kalevi
       Paadar blieb zurück, ging fischen, guckte nach seinen Rentieren. Lauerte.
       Er traute dem Frieden und Oberförster Heikkuri nicht.
       
       Tatsächlich fing Metsähallitus wenige Monate später wieder damit an, rund
       um Nellim Bäume zu fällen. Vielleicht hatte Paadar nichts mehr zu
       verlieren. Vielleicht hatten sich die Maschinen von Metsähallitus so weit
       in sein Leben gesägt, dass er nicht mehr zurückkonnte. Er sitzt in seinem
       Schaukelstuhl, er mag es nicht erklären, guckt auf den Boden. Damals
       jedenfalls entschied er, aufs Ganze zu gehen.
       
       Er reichte gegen das Forstamt Metsähallitus und die finnische Regierung
       eine Klage beim Amtsgericht in Ivalo ein. In der Klage stand, dass die
       Abholzung die Rentierhaltung beeinträchtige und so die Kultur der Sami
       bedrohe. Paadar schickte die Klage gleichzeitig zum UN-Menschenrechtsrat
       nach Genf. Seine neuen Greenpeace-Freunde hatten ihn auf diese Idee
       gebracht. "Einfach sehr nette Leute", ist alles, was er heute dazu sagt, er
       schaukelt provozierend in seinem Schaukelstuhl.
       
       Die Klage war ein Coup. Denn sie beinhaltete einen großen Vorwurf. Einen
       Vorwurf, der den Rentierhirten Paadar aus seinem gelben Holzhaus an der
       Nellimer Dorfstraße heraushievte und in einen größeren
       gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang stellte. Er war auf einmal nicht nur
       ein einfacher Rentierhirte, sondern Anghöriger einer bedrohten Minderheit.
       
       Als Oberförster Heikkuri von der Klage erfuhr, konnte er es nicht fassen.
       Auch jetzt in der Kneipe in Ivalo ist er nicht darüber hinweg. Er rutscht
       auf seinem Stuhl herum und schwitzt. "Die Vorstellung, dass unsere
       Baumfällarbeiten die samische Kultur bedrohen, ist lächerlich!", ruft er.
       "Ich bin selber Sami! Viele meiner Holzfäller sind Sami! Kalevis eigener
       Bruder ist Holzfäller! Dieser Vorwurf ist ein Totschlagargument!" Heikkuri
       guckt wütend gegen die Wand.
       
       In der Forstbehörde klingelte das Telefon ununterbrochen. Die Kunden der
       Holzverarbeitungsbetrieben riefen an, Heikkuris Chefs aus Helsinki
       polterten am Telefon, Politiker stellten Fragen, Fernsehteams wollten in
       den Wald fahren. Es hörte nicht auf.
       
       Nellim war zerrissen. Den Rentierhirten flog neue Hoffnung zu. Unterdessen
       schrieben die Anhänger der Anti-Kalevi-Paadar-Bewegung einen Brief an den
       UN-Menschenrechtsrat. Sie schrieben, der Mann sei ein "von Greenpeace
       manipuliertes Meerschweinchen".
       
       Kurz darauf schickte der UN-Menschenrechtsrat eine E-Mail an den finnischen
       Außenminister. Der Rat empfahl der finnischen Regierung, den Holzeinschlag
       zu unterbrechen, bis der Fall geklärt sei. Eine Niederlage für Oberförster
       Heikkuri. Die Forstbehörde kündigte an, die Arbeit in der Gegend um Nellim
       ruhen zu lassen.
       
       Wenig später protestierten Greenpeace-Aktivisten mit Schlauchbooten im
       Hafen von Lübeck gegen die Urwaldzerstörung in Finnland. Die Aktivisten
       blockierten einen Frachter, der Papier aus Finnland nach Deutschland
       liefert.
       
       Paadar bekam inzwischen E-Mails und Anrufe aus der ganzen Welt. Er war
       jetzt so etwas wie ein Held, ein Symbol für den Widerstand gegen die
       Globalisierung. Die Sami-Vereinigung in Finnland kürte ihn zum "Sami des
       Jahres 2006". In Nellim wechselten indes viele die Straßenseite, wenn sie
       ihn sahen. Paadar brummt: "Die Leute von anderswo waren freundlicher als
       die Leute im Dorf."
       
       Dann begann der Prozess am Amtsgericht Ivalo. Die Verhandlung dauerte.
       Heikkuris Gutachter behaupteten, die Rentiere fräßen überhaupt keine
       Bartflechten. Sie höhnten, die Rentiere könnten ja nicht auf Bäume
       klettern, um die Flechten zu erreichen. Richter und Anwälte fuhren in den
       Wald, um den Zustand der Bäume zu inspizieren. Die Aktenordner auf
       Heikkuris Schreibtisch stapelten sich, die Kollegen in der Forstbehörde
       spotteten, ob er angesichts der Gerichtstermine je wieder zur Arbeit
       erscheinen werde. Und mit jedem Verhandlungstag sah der Rentierhirte Kalevi
       Paadar die Anwaltskosten weiter wachsen. Wenn er den Prozess verlieren
       würde, das wusste er, würde es ihn Kopf und Kragen kosten. Er war nervös.
       
       Im August 2008 gab der Richter in Ivalo der Forstbehörde Metsähallitus
       Recht. Viele fühlten sich in ihrem Verdacht bestätigt, dass die Sami keine
       Chance haben vor einem finnischen Gericht. Paadar ging trotzdem in
       Berufung.
       
       Ob er bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen würde,
       fragte ihn damals ein Journalist. Er antwortete in der gewohnt knappen Art:
       "Ja."
       
       Der Streit zwischen den beiden Männern dauerte nun schon fast vierzig
       Jahre. Oberförster Heikkuri merkte, dass der innere Hebel bei Kalevi Paadar
       eingerastet war, er würde diesen Hebel nicht mehr umlegen können. Die
       Papierfabrik Stora Enso hatte endgültig entschieden, kein Holz mehr aus der
       Region zu kaufen, auch sonst war der Imageschaden beträchtlich. Den
       Holzeinschlag gegen all diese Widerstände durchzusetzen, versprach keinen
       finanziellen Gewinn mehr. Heikkuri spürte neuerdings ein böses Stechen in
       der Herzgegend, er merkte, dass die Sache zu viele Nerven kostete, er
       merkte, dass dabei alle immer verloren. Er telefonierte mit seinen Chefs in
       Helsinki. Im Februar 2009 lud er Paadar in die Kneipe nach Ivalo ein.
       
       Es folgten mehrere solcher Kneipentreffen. Heikkuri packte seine Karten
       aus, dieses Mal zeichnete Paadar Kreise um verschiedene Waldgebiete,
       Heikkuri schüttelte den Kopf, packte die Karten wieder ein, fuhr ins Büro,
       telefonierte mit Helsinki, lud Paadar wieder ein, der malte neue Kreise auf
       Karten und so fort. Das Kratzen von Filzstiften auf Papier, das Klingeln
       von Telefonen. Das waren die Geräusche, die verrieten, dass etwas in
       Bewegung kam.
       
       ## Ein Fest am Inari-See, eins im Schaukelstuhl
       
       Im August endeten die Kneipentreffen. Mit zwei Seiten Papier, die den
       Konflikt beilegen. Auf den zwei Seiten stand, dass Metsähallitus in den
       nächsten zwanzig Jahren auf den Holzeinschlag in dem umstrittenen 16.000
       Hektar großen Urwaldgebiet verzichten wird. Davon, dass der Holzeinschlag
       nach dieser Zeit wiederaufgenommen wird, geht keine der Parteien aus.
       
       Wie die beiden Männer den neuen Frieden gefeiert haben?
       
       Oberförster Heikkuri ist in seine Holzhütte am Inari-See gefahren und hat
       versucht, vom Stress runterzukommen. Jetzt sitzt er in der Kneipe in Ivalo,
       lehnt sich zurück, lächelt unstet, und das zeigt schon, dass die ganze
       Sache bei ihm nachwirkt.
       
       Kalevi Paadar in seinem Wohnzimmer guckt auf die dicken Wollsocken an
       seinen Füßen. Als alles vorbei war? "Ein wenig Cognac getrunken", murrt er
       aus seinem Schaukelstuhl heraus. Mehr nicht. Die Begeisterung scheint in
       den Wäldern hinter der Nellimer Dorfstraße stecken geblieben. Vor kurzem
       hat Paadar seinen Geburtstag gefeiert. Sogar sein Bruder, der Holzfäller,
       ist diesmal gekommen. Man kann also davon ausgehen, dass die Dinge für
       Paadar auch in privater Hinsicht wieder leichter werden.
       
       Von ihm selbst ist darüber im Moment wenig zu erfahren. Er sitzt in seinem
       Stuhl, die Hunde schnarchen. Es wird nichts mehr passieren. Paadar ist
       allein und starrt in die Dunkelheit vor dem Fenster. "Friede auf Erden",
       hat er vorhin gesagt.
       
       Kirsten Küppers, 37, ist sonntaz-Autorin. In Finnlands Urwäldern soll es
       auch Bären und Wölfe geben. Die hat sie aber nicht gesehen.
       
       24 Dec 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kirsten Küppers
       
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