# taz.de -- Neuer PINOCCHIO-COMIC: Fatale Wirkung von Nasensex
       
       > Der französische Comicautor Winshluss hat den alten Kinderbuchklassiker
       > virtuos und fies neu interpretiert.
       
 (IMG) Bild: Winshluss Pinocchio: hin und wieder auch eine weichgezeichnete Disney-Parodie
       
       Gute Bücher ziehen nur in den seltensten Fällen gute Adaptionen nach sich.
       So in den letzten Jahren zu beobachten bei der Dramatisierung von
       Bestsellern wie "Die Vermessung der Welt". Ja, selbst bei Schlöndorffs
       "Blechtrommel" wird es wohl kaum jemanden geben, der den künstlerischen
       Rang der Verfilmung über jenen der Vorlage stellt. Das mag vor allem daran
       liegen, dass es nie allein damit getan ist, eine originelle Geschichte mit
       unverwechselbaren Charakteren zu erzählen; wirklich herausragende Werke
       sind an die speziellen Möglichkeiten ihres Mediums gebunden, weil sie diese
       auszuschöpfen und im besten Fall zu erweitern suchen. Eine adäquate
       filmische Umsetzung etwa von Nabokovs "Fahlem Feuer" ist deshalb fast
       undenkbar.
       
       Anders verhält es sich bei Märchen und Mythen. Mit zeitlosen Typen zielen
       sie aufs Allgemeine und besitzen somit einen erzählerischen Kern, der sie
       unabhängig vom geschriebenen oder gesprochenen Wort macht. Als "Arbeit am
       Mythos" bezeichnete der Philosoph Hans Blumenberg die ständige
       Aktualisierung eines Stoffs. Bei Märchen und Mythen wird er zum Beweis
       ihrer Relevanz und Qualität.
       
       In die Gesellschaft von Homers "Odysseus", der von Joyce in den modernen
       Roman überführt wurde, oder der "Scheherazade", die sogar als Musikstück
       eine gute Figur macht, mag sich Carlo Collodis "Pinocchio" von 1883 auf den
       ersten Blick nicht so recht fügen. Allzu niedlich scheint das moderne
       Märchen um den "hölzernen Bengel", der unbedingt ein Mensch sein will. An
       diesem Ruf des Harmlosen sind allerdings vor allem jene Versionen schuld,
       die heute bekannter sind als das Original: Disneys früher Zeichentrickfilm
       oder die japanische Animationsserie aus den 1970ern.
       
       Nachdem der US-Autor Robert Coover in den 1990ern mit "Pinocchio in
       Venedig" sowie der Meister der Literaturverfilmung, Stanley Kubrick, mit
       seinem Drehbuch zu "A.I." bereits die Tiefen und Abgründe des schmalen
       Buchs ausloteten, zeigt jetzt eine Adaption im Medium des Comics erneut,
       wie zeitlos brillant "Pinocchio" ist: Nach über fünf Jahren Arbeit legt der
       französische Zeichner Winshluss alias Vincent Paronnaud, der auch als
       Koregisseur bei der Filmfassung von Satrapis "Persepolis" mitwirkte, eine
       fast 200 Seiten starke, prachtvoll gestaltete Graphic Novel vor. Prompt
       wurde er dafür letztes Frühjahr mit dem international wichtigsten
       Comicpreis ausgezeichnet, dem Preis für das "Beste Album" beim Festival in
       Angoulême. Eine Entscheidung, die für Aufsehen sorgte - gewann doch damit
       nicht nur ein Außenseiter, sondern auch ein selten subversives, um nicht zu
       sagen fieses Buch.
       
       Winshluss Version spielt in einer zeitlich unbestimmten Welt, in der die
       Moderne sich von ihrer hässlichsten Seite zeigt, eine Welt voller
       schmutziger Fabriken und brutaler Psychopathen. Pinocchio wird hier vom
       geldgierigen Erfinder Geppetto als Kampfroboter fürs Militär ersonnen.
       Dessen lange Nase hat es aber auch Geppettos Frau, ein älteres Pin-up-Girl,
       angetan; als sie die fatale Wirkung von Nasensex unterschätzt, nimmt das
       Unheil seinen Lauf. Winshluss hält sich an die Dramaturgie der Vorlage, den
       latenten Sadismus der Figuren Collodis steigert er jedoch ins Perverse: Auf
       seiner Odyssee trifft der stets passive Pinocchio auf den Theaterdirektor
       Feuerfresser, der zum skrupellosen Inhaber einer Spielzeugfabrik geworden
       ist und unachtsame Kindersklaven ruckzuck krematieren lässt; nach einem
       Abstecher zu den sadomasochistisch veranlagten sieben Zwergen, die Übles
       mit Schneewittchen im Sinn haben, begegnet Pinocchio auf einem Luftschiff
       einem armen Straßenjungen, der mit ihm ins Spielland zur Zauberinsel reist.
       
       Die Wanze Jiminy 
       
       Dort werden die Kinder nicht wie bei Collodi in Esel, sondern in
       blutrünstige Wölfe verwandelt und von einem Clown für dessen
       imperialistische Bestrebungen eingesetzt. Währenddessen ist Geppetto auf
       der Suche nach seiner verschwundenen Goldgrube im Magen eines radioaktiv
       mutierten Fischs gelandet und hat sich in Pinocchios Metallschädel die
       Wanze Jiminy eingenistet, ihres Zeichens Autor des Werks "Die Mechanik der
       Leere" und stark depressiv?
       
       Bewundernswert ist der Stilmix, mit dem Winshluss die unterschiedlichen
       Parallelhandlungen erzählt. Die Zeichnungen der Geschichte um Pinocchio,
       die gänzlich ohne Worte auskommt, erinnern mit ihrem karikaturhaften Stil
       und der grandios dezenten Kolorierung durch Cizo an frühe Zeitungscomics
       wie "Yellow Kid"; hin und wieder gefriert das Bild als ganzseitiges
       Splash-Panel zur weichgezeichneten Disney-Parodie. Die eingestreuten
       skizzenhaften Schwarzweißkurzcomics um Jiminy, eine Art neurotisch
       geschwätziger Woody Allen in Wanzenform, stehen dazu in deutlichem
       Kontrast.
       
       Winshluss Reduktion des "Pinocchio"-Märchens auf seine
       zynisch-misanthropischen Aspekte mag etwas zu einseitig geraten sein. Was
       das Buch jedoch zu einem ästhetischen Erlebnis sondergleichen macht, ist
       die ungeheure Brillanz, mit der sein Autor die Zeichen- und Erzählstile
       miteinander kombiniert und zum Schluss in einem bitterbösen Finale
       zusammenführt.
       
       Aber vielleicht ist ja die bestechende Schönheit der Bilder und das
       aufwendige Glitzercover nur Teil der perfiden Strategie Winshluss, uns die
       selbstzerstörerische Sehnsucht des modernen Menschen nach Fetischen vor
       Augen zu führen.
       
       16 Jan 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas von Steinaecker
       
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