# taz.de -- Lokomotive Karlshof: Die soziale Kettenreaktion
       
       > Sie bauen Kartoffeln an und verschenken sie. Sie haben kein karitatives
       > Motiv. Sie wollen durch Aufbau einer nichtkapitalistischen Versorgung
       > eine soziale Kettenreaktion auslösen. Ein Abstecher
       
 (IMG) Bild: Kleines Idyll auf der Website: Lokomotive Karlshof und seine Mitstreiter.
       
       "Warum Rosen besingen, Aristokrat! Besing die demokratische Kartoffel, die
       das Volk nährt!" Heinrich Heine
       
       * * *
       
       Ein beliebter Che-Guevara-Spruch in der linken Szene war: Seid realistisch,
       fordert das Unmögliche!" Auf dem Karlshof wird das Unmögliche nicht nur
       gefordert, es wird von den Utopisten einer "nichtkommerziellen
       Landwirtschaft" (NKL), in die Praxis umgesetzt. Sie bauen Kartoffeln an und
       verschenken sie. Sie lehnen jede Bezahlung ab, ebenso Gutschriften und
       sogar den Tausch. Sie haben kein karitatives Motiv. Sie wollen mehr! Sie
       möchten durch den Aufbau einer kleinen, nichtkapitalistischen
       Nahrungsversorgung eine soziale Kettenreaktion auslösen, Leute anstiften,
       an einem nichtkommerziellen Netzwerk auf Gegenseitigkeit teilzunehmen.
       
       Die Mitglieder des Karlshofs sind keine Eigentümer. Er wurde ihnen zur
       Verfügung gestellt, von der Projektwerkstatt auf Gegenseitigkeit (PAG),
       einem Netzwerk von Gemeinschaftsprojekten und einzelnen Leuten in Berlin
       und Brandenburg, das, in Kooperation und mithilfe einer Stiftung,
       Liegenschaften kauft und leihweise an geeignete Projekte vergibt. Der
       Karlshof ist eines dieser Projekte.
       
       Den Sinn dieser außergewöhnlichen Versuchsanordnung hat ein Mitglied der
       Gruppe "Lokomotive Karlshof" treffend so formuliert: "Die Perspektive kann
       nicht sein, individuell die Schafe ins Trockene zu bringen, sondern auf
       kollektive Autonomie ausgerichtete Strukturen zu entwerfen, um sich
       gegenseitig zu unterstützen." In Zeiten sich verschärfender
       gesellschaftlicher Verhältnisse erregt das Experiment die Fantasie.
       
       Der Karlshof liegt 90 Kilometer nördlich von Berlin, dreieinhalb Kilometer
       von der Stadt Templin entfernt. Es gibt eine einsame Bushaltestelle an der
       ehemaligen LPG. Weite Ebenen, abgeerntete steinige Felder, an den Rändern
       in der Ferne Wald und Buschwerk. Es sieht sehr nach Tristesse aus. Ein
       langer Sandweg, gesäumt von Peitschenlampen, führt an desolaten, grauen
       Stallungen und Wirtschaftsgebäuden vorbei zum Hof. Vor einem schmucklosen
       zweistöckigen Wohngebäude mit Satteldach, das unverkennbar aus LPG-Zeiten
       stammt, endet der Weg in einer ausgefahrenen Schleife.
       
       Peter Just, einer der Aktivisten, erwartet Elisabeth und mich bereits und
       lädt zu einem Rundgang ein. Der 50-ha-Hof umfasst Äcker, Weideland, etwas
       Wald, Obst- und Gemüsegärten sowie die Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Auf
       den weiträumigen Feldern werden Kartoffeln und diverse Getreidesorten
       biologisch angebaut. Wir besichtigen ein abgeerntetes Feld, auf dem noch
       einige kleine Kartoffeln liegen, und ein benachbartes, schütteres
       Sonnenblumenfeld, das demnächst abgeerntet werden soll zur Ölgewinnung.
       
       Der Karlshof bekam eine Ölmühle vom Biohof Ulenkrug zur Verwertung der
       Sonnenblumen. Peter erklärt: "Man muss sie nach dem ersten Frost ernten.
       Gefroren hat es aber erst am 10. Oktober, dann war Regen. Jetzt sind sie zu
       feucht zum Ernten, dann war was mit der Hydraulik …Also an mir lag es
       nicht, dass sie immer noch … so! Deswegen hat es mich auch geärgert, dass
       ich hier ein bisschen ausgelacht wurde … Irgendwann mal haben wir Öl!"
       
       Elisabeth fragt: "Warum eigentlich ,Lokomotive Karlshof', hieß die LPG mal
       so?" Peter verneint: " ,Lokomotive', da gibt's einfach viele Assoziationen,
       zum Beispiel zur Arbeitersportbewegung, was in Verbindung mit der
       Landwirtschaft ja eine ironische Brechung ergibt, oder zu einer Politband
       aus dem Kreuzberg der 70er-Jahre und eben zur dynamischen Maschine, von der
       wir fasziniert sind, die ein Sinnbild für Produktivität war, für
       Güterverteilung und Kraft."
       
       Während wir, begleitet von zwei sehr jungen und zutraulichen getigerten
       Kätzchen, über schweren, feuchten Ackerboden stapfen, erzählt Peter, dass
       sich momentan zwölf Erwachsene unterschiedlichen Alters - teils aus den
       neuen, teils aus den alten Bundesländern stammend - mit fünf Kindern auf
       dem Hof befinden. Zwei sind studierte Agrarwissenschaftler, die anderen
       kommen aus verschiedensten Richtungen, bis hin zur Ethnologie, für die
       meisten waren die Arbeiten gewöhnungsbedürftig. "Gut", sagt Peter, "wir
       können uns natürlich nicht komplett selber versorgen hier, es gibt
       finanzielle Nebenabhängigkeiten, logischerweise, und das macht manchmal
       Stress." Aber man hat den Versuch gewagt. Die Beteiligten üben das
       Kunststück, mit einem Bein im Geldkreislauf festgebunden zu sein und mit
       dem anderen im Freien Fuß zu fassen.
       
       Nicht alle leben hier ständig, nicht alle sind Mitglieder des Netzwerks.
       Aber alle kommen aus linken Zusammenhängen und beteiligen sich auf
       unterschiedliche Art und Weise. Männer und Frauen teilen sich die
       Hausarbeiten. Jeder muss im Turnus putzen, kochen, Wäsche waschen. Die
       Reparaturen, Garten- und Feldarbeiten werden je nach Schweregrad, Neigung
       oder Sachkenntnis übernommen. Mit dem Nachbarbauern hat man ein sehr gutes
       Verhältnis, man hilft sich gegenseitig, er leiht fehlende Gerätschaften
       aus.
       
       Eine Schar von Leuten leistet ab und an solidarische Hilfe bei diversen
       Arbeiten. Besonders zur Kartoffelernte im Herbst kommen für 14 Tage
       zahlreiche Netzwerkhelfer und Freunde angereist. Sogar die Kinder des
       benachbarten Waldkindergartens helfen, und auch Kinder aus der Freien
       Schule Templin, die auch Kartoffeln erhält. Man ist mit verschiedenen
       landwirtschaftlichen Kooperativen in gegenseitiger Hilfe und, wie es Peter
       formuliert, "bedürfnisorientiertem Austausch" verbunden. "Einsam und
       verlassen sind wir hier nicht", sagt Peter und lacht.
       
       Die Gebäude der ursprünglichen bäuerlichen Hofstelle bilden ein Ensemble,
       sind aus rotem Backstein und stehen ein wenig abseits vom Wohnhaus. Im lang
       gestreckten ehemaligen Stall mit durchgehendem Dachboden sind unten
       verschiedene Werkstätten eingerichtet. Oben unter dem alten Gebälk wurden
       zahlreiche Möglichkeiten zur Unterbringung der Helfer und Gäste geschaffen,
       zum Schlafen, Feiern und Spielen. "Im Sommer und Herbst waren eine Menge
       Leute da", erklärt Peter, "die müssen natürlich ordentlich versorgt
       werden." Er zeigt uns die Sommerküche mit Terrasse nebst Backofen. Auch ein
       ästhetisch sehr gelungenes solarbetriebenes Badehaus aus Ziegeln und Holz
       sowie zwei Komposttoiletten mit Rädern stehen zur Verfügung.
       
       Zwei schmale Schweine 
       
       Das ehemalige Bauernhaus - in seinen Kellerräumen lagern die
       Kartoffelvorräte des Karlshofs bei idealen acht Grad und guter Lüftung -
       wird seit Längerem saniert. Es soll als Gemeinschafts-und Seminarhaus
       dienen. Momentan wird eine Heizung eingebaut. Zwei sichtbar gut gelaunte
       Leute, ein Schlosser und eine Schlosserin - beide haben Umwelttechnik
       studiert -, schneiden vor dem Haus die Rohre und Gewinde zurecht. Sie sind
       zur solidarischen Hilfe auf den Hof gekommen und stellen dem Netzwerk ihre
       handwerkliche Leistung gratis zur Verfügung. Wie auch die anderen reisenden
       Handwerkerinnen und Handwerker, die hier im Sommer umfangreiche Steinmetz-,
       Maurer- und Zimmermannsarbeiten gemacht haben, das originelle Badehaus
       errichteten und einen künstlerisch gestalteten steinernen Brunnen. Eine
       Schmiedin war da und hat Maueranker geschmiedet und eingezogen. Der
       Karlshof muss für all das nur die verbauten Materialien bezahlen.
       
       Auch die Tiere scheinen sich wohlzufühlen. Es gibt ein paar Schafe, eine
       Schar Gänse, die aufrecht und aufgeregt dahinstrebt, und bedachtsam
       scharrende und pickende Hühner in Braun und Weiß, nebst Hahn. Zwei schmale
       Schweine mit dunklen Tupfen, Charles und Camilla, durchfurchen ihr Gehege
       und heben freundlich die Köpfe, als wir näher treten. "Sie bekommen
       gedämpfte Kartoffeln mit Gerste und Erbsen. Der Dämpfer war ein Geschenk
       aus dem Netzwerk", erklärt Peter.
       
       Im großen Garten werden Salat und Gemüse gehegt und geerntet, es wächst
       reichlich für alle Bewohner und auch für die Gäste. Und für den Winter
       werden Marmeladen, Sirupe, Gelees, Chutneys hergestellt und natürlich
       Sauerkraut. Unter dem übervollen Birnbaum liegen verschwenderisch
       hingebreitet große, gelbe Birnen im Gras. Es wirkt wie Hohn und Spott. Ohne
       diese Eigenschaft und Gunst der Natur, die ja erst die Möglichkeit des
       Mehrwerts bietet, wären nie die weltbeherrschenden Systeme entstanden.
       
       Die beiden kleinen Katzen begleiten uns immer noch unverdrossen durch ihr
       zukünftiges Jagdrevier. Peter zeigt uns einen alten Belarus-Traktor aus
       Minsk und einen DDR-Traktor namens "Fortschritt". Er erzählt: "Wie ich den
       angemeldet habe, meinte die Frau, die da im Kostüm hinter dem Tresen saß:
       ,Ach, der alte ,Fortschritt', den durfte ich früher nie fahren. Das war der
       Männertraktor, und der ,Belarus' war der Frauentraktor.' " Er lacht, zeigt
       auf Egge und Kultivator und führt uns dann in die teils desolaten
       LPG-Gebäude. Zeigt einbrechendes Dachgebälk und große Hallen, die als
       Remise dienen und als Lagerhalle für das Saatgut, für Getreide,
       Hülsenfrüchte und die Sonnenblumenkerne.
       
       Es gibt teils museale Sortiermaschinen für Hülsenfrüchte und Getreide und
       den DDR- Mähdrescher namens "Hamster". Sogar eine rustikale Holztheke mit
       Barhockern ist da, für die großen Sommerfeste. In hängenden weißen
       Gewebesilos lagert hier nun mäusesicher die Ernte. Ein defekter Traktor
       steht in der picobello geordneten Werkstatt. "Es gibt einen Maschinenbauer,
       der kommt regelmäßig vorbei, zum Glück", sagt Peter.
       
       Die Wahnwitzigkeit des Unternehmens wird angesichts der alten und
       reparaturbedürftigen Gebäude und Arbeitsgeräte, des Dieselpreises und der
       Materialkosten besonders deutlich. Spenden könnten hier gute Dienste
       leisten. Also für Anleger mit Prinzipien das ideale Objekt. Garantiert
       boni- und renditefrei!
       
       Bei einem wohlgeratenen Spaghettiessen nebst hofeigenem Salat mit
       kandierten Walnüssen und kühlem, naturtrübem Apfelsaft lernen wir auch
       einige andere Hofbewohner flüchtig kennen. Sie sind wortkarg, scheinen aber
       freundlich. Danach bereitet unser Gastgeber Kaffee zu und bittet uns ins
       ruhige Wohn- und Spielzimmer. Es bietet Ausblick auf ein weites Feld und
       hat - wie alle Räume dieses Hauses - einen soliden Berliner Kachelofen.
       
       "Ihr könnt gern auch noch Apfelsaft haben", sagt Peter , "der ist übrigens
       ein Beispiel für das, was ich bedürfnisorientierten Austausch nenne: Von
       einer Kooperative bekommen wir Apfelsaft, wenn wir welchen brauchen, und
       die wiederum kommen, wenn sie Kartoffeln brauchen. Es wird unabhängig
       voneinander produziert, aber nichts gegengerechnet. Ein sehr angenehmes
       Verhältnis.
       
       Und jetzt erzähle ich einfach mal: Ich bin damals 2006 dazugestoßen über
       Freunde. Ich dachte, es ist Zeit, was anderes zu machen, es ist Zeit, mit
       den Gewohnheiten zu brechen, auf diesen Geldfluss da und auf den
       Äquivalententausch zu verzichten und nach Alternativen zu suchen. Zu
       schauen, wie wir anderweitig unsere Bedürfnisse befriedigen können, wie wir
       zu einer bedürfnisorientierten kollektiven Organisierung kommen, zu einer
       sozialen Vernetzung gegenseitiger Unterstützung … zu praktizierter
       Solidarität. Wir hatten uns alle kritisch mit der kapitalistischen
       Warenproduktion und dem Verwertungszusammenhang im Allgemeinen
       auseinandergesetzt, insbesondere mit den Bedingungen und Absurditäten der
       Nahrungsmittelproduktion im globalisierten Kapitalismus."
       
       Kartoffel-Euphorie 
       
       Peter redet ernst, manchmal stockend, wenn er ein Wort auslässt, sagt er
       manchmal einfach nur "so", oder er lächelt. "Und dann haben wir einfach
       angefangen und haben uns in die Praxis gestürzt. Es ist zwar oft hart, aber
       das Schöne für mich hier besteht darin, es ist einfach was Handfestes, was
       Praktisches, bei dem was Sinnvolles rauskommt. Kartoffeln sind toll! Wir
       erzeugen ein Grundnahrungsmittel, wir erzeugen es ökologisch. Ich kann es
       zusammen tun mit Menschen, die ich mag. Und man hat hier genug Zeit,
       Erfahrungen zu machen. Zu lernen, wie mache ich was, wann und warum. Also
       man setzt sich einfach Ziele und guckt, wie sie erreichbar sind. Wir machen
       jetzt das vierte Jahr Kartoffeln. Und wir wurden jedes Jahr besser.
       
       2006 ist die NKL ja in Gang gekommen, als Versuch, eine alternative
       Wirtschaftsform zu praktizieren, jenseits vom Markt, mit dem Ziel, sich so
       weit wie möglich vom Geld zu lösen. Sich anders zu vergesellschaften, denn
       darum geht es. Es gab von Anfang an relativ viel Feedback von Berlin, auch
       einen größeren Interessentenkreis. Wir machten damals für diese Idee
       Propaganda. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe ,Die globalisierte
       Kartoffel', im Café Morgenrot in Berlin, wurde das Konzept vorgestellt.
       Auch im Café der Agrarwissenschaftler in der Humboldt-Uni und später bei
       der Vorbereitung des G-8-Gipfels. Im Frühjahr 2006 jedenfalls schickten wir
       unseren ,Aufruf zur Selbstorganisierung' an Hausprojekte, Landprojekte, WGs
       und politische Gruppen. An 150 bis 200 Menschen erst mal. Wir kamen auf
       einen Bedarf von etwa 4,15 Tonnen Kartoffeln, die wir auf 0,7 ha
       produzieren wollten. Bald schon gab es ein gemeinsames
       Kartoffelkäferablesen. Und dann, im September 2006, der große Augenblick,
       die Ernte! Es kamen überraschend viele Helfer. 4,5 Tonnen wurden geerntet.
       
       2007 vergrößerten wir die Anbaufläche. 8,5 Tonnen war die Ernte. 2008 waren
       es schon 15 Tonnen auf 1,5 ha. Und zum ersten Mal hatten wir auch alle
       Saatkartoffeln aus eigener Produktion, die mussten wir ja anfangs kaufen.
       Also wir haben zwei Tonnen Saatkartoffeln rein getan und 15 Tonnen
       geerntet. Und 2009 haben wir auf 2 ha 18 Tonnen geerntet. Das ist doch eine
       recht gutes Ergebnis, dafür, dass wir keinen Dünger in den Boden geben?!
       
       Aber es ist natürlich nicht das Ziel, immer mehr zu ernten. Wir erheben den
       Bedarf, und danach produzieren wir. Wir fragen im Netzwerk herum: Wer
       braucht wie viele und welche Kartoffeln? Der Bedarf pro Nase im Jahr liegt
       ja so bei 50 bis 55 kg." [Um 1900 war es fünfmal so viel; Anm. G.G.] "Wir
       haben inzwischen verschiedene Kartoffelsorten, festkochende, mittelfeste
       und mehlige. Sogar rote. Und die werden dann mit dem Hänger nach
       Eberswalde, Potsdam und Berlin gebracht und eingelagert in
       Kartoffelkellern; das sind Orte, wo du hingehen und deine Kartoffeln
       abholen kannst. In Berlin ist es jetzt nicht mehr im Bethanien. Wir machen
       neuerdings das Kartoffelcafé in Kreuzberg, in der Admiralstraße 17, im
       Laden der KPD/RZ". [Hierbei handelt es sich um die Spaßpartei "Kreuzberger
       patriotische Demokraten/realistisches Zentrum"; Anm. G.G.) 
       
       "Es gibt jetzt neben Kartoffeln auch noch Weizen, Buchweizen, Dinkel und
       Erbsen vom Karlshof. Und neuerdings sogar Brot. Das Café ist jeden zweiten
       Sonntag für NKL-Mitglieder geöffnet. Interessierte Menschen sind natürlich
       herzlich eingeladen und können sich ganz unverbindlich alles erst mal aus
       der Nähe angucken."
       
       Wir möchten wissen, was denn eigentlich genau von den Nutznießern der
       Kartoffeln erwartet wird. "Also der Beitrag, den wir erwarten, der wird
       nicht definiert, wir hoffen auf gute Einfälle. Das kann zum Beispiel
       Mithilfe sein im Kartoffelcafé. Es gibt eine Menge Möglichkeiten der
       Mitarbeit und Hilfe. Je nach Zeit und Fähigkeit kann die sporadisch sein
       oder auch regelmäßiger. Es gibt Leute, die sagen, okay, wir sind Mitglied
       im Netzwerk. Und es gibt Leute, die machen halt einfach nur so mit. Wir
       informieren im Internet über den Verteiler, was wir konkret brauchen. Also
       das kann praktische Hilfe sein, Marmelade kochen, was mauern, oder wenns
       ein Ingenieur ist zum Beispiel, der kann mit statischem Wissen helfen, mit
       einer einfachen Konstruktionsskizze für den Bau von einem Silo.
       
       Sprit für den Traktor 
       
       Wir brauchen vielfältige Sachen, auch gute Tipps oder Beratung von einem
       Netztechniker. Aber natürlich kann sich auch jemand an den Kosten
       beteiligen, wir brauchen ja Sprit für den Traktor, Material und
       Ersatzteile, müssten einige arbeitserleichternde Geräte anschaffen, das
       wird manchmal recht stressig. Vor anderthalb Jahren haben wir eine
       Spendenkampagne gemacht und Geld gesammelt für den Traktor. Davon haben wir
       den "Fortschritt" gekauft, den ihr vorhin gesehen habt. Aber wir möchten da
       eigentlich gar keinen Druck ausüben.
       
       Und die Kartoffeln, die wir verschenken, sollen auch keine Verpflichtung
       sein, keine Vergütung für vergangene oder künftige Dienstleistungen. Wir
       wollen eben keinerlei Äquivalententausch, wir wollen nicht den Wert von
       Kartoffeln oder Leistungen taxieren und verrechnen müssen. Wozu? So müssen
       wir auch nicht immerzu gucken: Ist das jetzt gerecht oder ungerecht? Wurden
       wir übervorteilt? Das ist wahnsinnig erleichternd, wenn man das alles mal
       hinter sich hat!
       
       Es gibt auch Leute, die sich Kartoffeln abholen, ohne direkt etwas für uns
       oder das Netzwerk zu tun. Es ist einfach so, es gehört mit zum Prinzip der
       Selbstorganisation, dass man umdenkt und sich überlegt: Was kann ich tun?
       Das und das wird vielleicht gebraucht, das und das wäre jetzt wichtig, die
       und die Bedürfnisse hat der andere. Anfangs hatten die Kartoffeln ja so
       eine Agitpropfunktion, inzwischen sind sie auch Symbol und Beweis dafür,
       dass es geht, und eine Aufforderung dazu, dass sich andere
       Produktionsbereiche gründen und selbstständig im Netzwerk engagieren. Das
       passiert auch. Jetzt hat sich gerade eine nichtkommerzielle Brotbackgruppe
       gegründet, die aus unserem Getreide Sauerteigbrote gebacken hat, sodass zum
       ersten Mal auch Brot verteilt werden konnte im Kartoffelcafé."
       
       Auf die Frage, ob er uns den theoretischen Ansatz noch mal genauer
       erläutern kann, sagt er abwehrend und entschieden: "Also ich bin jetzt
       keiner, der so beschlagen ist in Theorie, der diese Mehrwertsache vorträgt,
       da bin ich der Falsche. Aber eins weiß ich genau, ich halte eine Produktion
       um der Produktion willen, die nur produziert, um Geld zu machen, für
       unsinnig. Und ich halte das derzeitige Wirtschaftssystem für falsch, für
       ökologisch und sozial schädlich. Punkt! Das treibt mich schon um, dass
       jeder sechste Mensch hungert und jede Minute so und so viele Kinder sterben
       an Hunger. Es muss doch jedem klar sein, dass diese Art des Wirtschaftens
       mörderisch ist. Und da finde ich, dass unser wertkritischer Ansatz gut ist,
       dass wir in kleinem Maßstab aktiv werden, um einfach was zu versuchen, um
       die Dinge zu ändern.
       
       Eine Halle stürzt ein 
       
       Ich persönlich jedenfalls bin mit der Theorie nicht weitergekommen. Ich
       löse das für mich lieber praktisch, auf so einer solidarisch-menschlichen
       Ebene, und ich finde diese Versuche - auch von euch jetzt -, dem eine
       theoretische Grundlage abzuverlangen, echt nicht gut! Wir haben es ja
       immerhin innerhalb von vier Jahren geschafft, ein ziemlich autarkes kleines
       Wirtschaftssystem mit einem sich entwickelnden Netzwerk kollektiver
       Subsistenz aufzubauen. Und das ist nicht mehr theoretisch abgehoben,
       sondern eine ganz handfeste Geschichte.
       
       Wir kommen zurecht. Sicher, wir haben auch die klassischen kollektiven
       Organisations- und Kommunikationsprobleme, wie andere auch. Wir haben
       einmal in der Woche eine Art Plenum, wo alles Wichtige besprochen wird. Es
       gibt natürlich auch Themen, wo keiner so richtig … unbeliebte Themen zum
       Beispiel Verantwortung für die Gebäude. Entweder wir übernehmen die … oder
       wir müssen eben sagen, gut, lasst diese Halle einstürzen. Bums! Aus! Dann
       haben wir es eben gemeinsam nicht geschafft. Und es gibt manchmal so
       Sachen, da fragst du dich: Warum mache ich mich hier zum Hampel? Aber wir
       kriegen es immer irgendwie halbwegs hin, würde ich mal sagen. Und ich will
       ja auch was anderes als nur Harmonie. Ich will auch was umsetzen.
       
       Gut, während ich hier auf dem Acker herumfahre, haben andere an der Uni
       promoviert. Es ist schon ein sozialer Abstieg, wenig Geld, wenig
       Sicherheit, kein sozialer Status. Das ist vielleicht der Preis, den man in
       dem Sinne bezahlen muss. Aber das ist eine Sache der Perspektive. Denn wenn
       ich mir anschaue, wie es mir geht, dann würde ich sagen, ich fühle mich
       wesentlich besser hier. Es gefällt mir, draußen zu arbeiten, es gefällt
       mir, wofür ich arbeite. Und diese Freiheit, einfach etwas machen zu können,
       die habe ich in diesem Kontext mehr als anderswo. Zum ersten Mal bin ich
       nicht mehr so frustriert, nicht mehr so machtlos."
       
       24 Jan 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Goettle
       
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