# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Wir sind Roland Koch
       
       > Uns steht eine Währungsreform der Illusionen ins Haus. Sind wir dazu
       > bereit?
       
       Viel zu viele haben sich an das "angenehme Leben von Hartz IV gewöhnt", das
       ihnen die "leistungsorientierte Mittelschicht" spendiert. Deshalb muss man
       die viel zu vielen nun zu "gemeinnütziger", und das heißt für Roland Koch
       eben: "niederwertiger" Arbeit zwangsverpflichten. Freudig nahmen
       marktfromme Meinungsträger seine Formel von der "Perversion des
       Sozialstaatsgedankens" auf und rechneten den Postboten, Kellnern und
       Friseuren vor, dass es denen, die gar nicht arbeiten, auch nicht schlechter
       geht als ihnen. Die Frankfurter Sonntagszeitung klärte auf ihrer ersten
       Seite die Leistungsgemeinschaft darüber auf, dass sie eine "nie
       erwerbstätige alleinerziehende Mutter" bis zu ihrem 50. Lebensjahr mit
       455.000 Euro an Transferleistungen "umsorgt", womit Deutschland immer mehr
       den "totalitären Regimes" gleiche, die auch immer als Erstes die Familien
       zerschlagen.
       
       So hetzt man die Armen auf die noch Ärmeren. Aber mit dem Abscheu vor dem
       semantischen Schaum der populistischen Profis ist uns ebenso wenig geholfen
       wie mit dem Hinweis, dass nicht der Sozialstaatsgedanke, sondern das
       Lohngefüge pervers ist. Es war erwartbar, dass im Vorfeld von
       Steuerschätzung und NRW-Wahl kräftig genebelt wird. Außerdem steht eine
       Entscheidung des Verfassungsgerichts an, bei der es nicht nur um die
       Regelsätze für Hartz-IV-Kinder gehen wird, sondern etwas grundsätzlicher
       und grundgesetzlicher auch um Menschenwürde und Gleichheit.
       
       "Formaljuristisches" Denken, so kam schon die präventive Urteilsschelte des
       Leiharbeitsspezialisten Clement - am selben Tag, an dem sein
       Gesinnungsfreund Koch die Nebelmaschine anwarf. In der Woche darauf stieg
       dann noch einmal das alte Glaubensbekenntnis aus dem Bundestag auf:
       Wachstum für den Wohlstand, Wachstum für die Armen, die Kinder, die Kitas,
       die Umwelt und den Schuldendienst. Lieder von gestern, an die auch hinter
       diesen Tribünen niemand mehr so recht glaubt.
       
       Die Zeit wäre reif für eine Währungsreform der Illusionen, denn mit dem
       Arbeitsmarkt ist es wie beim Klima: je später man der Wahrheit ins Gesicht
       sieht, desto größer werden die Hypotheken, desto teurer die Notbremsungen.
       In beiden Fällen sind seit Jahrzehnten die Probleme sichtbar. Seit den
       Siebzigerjahren ist es mit den Wachstumsraten, auf die das deutsche
       Sozialmodell baute, vorbei.
       
       Dreißig Jahre lang haben alle Regierungsparteien den Anstieg der
       Arbeitslosigkeit mit der ungedeckten Hoffnung auf die Wiedergeburt des
       Wachstums verdrängt und nicht in Infrastrukturen, Bildung und Demokratie
       investiert. Dreißig Jahre lang haben Gewerkschaften vor den unmittelbaren
       Wünschen ihrer Klientel kapituliert und die Politik der
       Arbeitszeitverkürzung aufgegeben, die hundert Jahre der Weg zur
       Vollbeschäftigung und Lohnsicherung war. In der Folge dieser Versäumnisse
       ist das Wort "Vollbeschäftigung" - immerhin durch Stabilitätsgesetz und
       Artikel 108 (4) Bestandteil unserer Rechtsordnung - aus dem politischen
       Vokabular so gut wie verschwunden. Und die Arbeitslosigkeit vererbt sich in
       den Gettos.
       
       Der marktradikale Flügel der Sozialdemokratie hat mit seiner Steuerpolitik,
       mit den Privatisierungen der öffentlichen Güter, der Verwahrlosung der
       Bildungsinstitutionen, der Entfesselung der Arbeitsmärkte den Übergang von
       der nivellierten Mittelstandsgesellschaft zum Dreiklassensystem mit Hartz
       IV notariell besiegelt. Die Grünen haben es, vernehmlich, aber leise
       knirschend mitgemacht und mitgedacht. Das Resultat all dessen war die
       Entstehung einer weiteren sozialdemokratischen Partei, das parlamentarische
       Dahinsiechen der Linken insgesamt und schließlich der politische
       Meuchelmord der SPD-Spitze am hessischen Befreiungsschlag. Deshalb Roland
       Koch!
       
       Nun also - die Krise hat geholfen - fiskalische Blockade, scheibchenweise
       Amputationen. Es gibt Vorstellungen, was Not täte, aber weit und breit kein
       Geld, kein Gestaltungswille - und keine Debatte über die Gestalt des
       Sozialstaats in einer Zukunft ohne umverteilungsträchtige Wachstumsraten.
       
       Keine Debatte - das ist falsch. Sie findet statt, nur nicht in den
       Leitmedien, zur Prime Time und im Parlament. Die "objektiven" und die
       "subjektiven" Voraussetzungen für eine solchen Debatte, für Glasnost und
       Perestrojka also, wachsen mit jedem Monat. Zwei Drittel bis drei Viertel
       der Bürger finden den Status quo ungerecht, sind für Mindestlohn und
       Rücknahme der Privatisierungen, für massive Investitionen in Bildung,
       Ökologie, Klimaschutz, angetan von der Idee der Umverteilung von Arbeit.
       Aber sie glauben nicht mehr an eine Sozialdemokratie, die all dies nur zehn
       Wochen vor der Wahl in durchschaubarer Absicht zu einem "Plan" bündelt und
       jetzt schon wieder zu den Akten gelegt hat.
       
       In der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft wird dem Bruttosozialprodukt als
       Wohlstandsindex von Nobelpreisträgern und Staatspräsidenten der Abschied
       gegeben - das bleibt bislang im Feuilleton stecken. Wertkonservative wie
       Meinhard Miegel fordern, symposiumsvereint mit libertären Sozialisten wie
       Jacob von Uexküll, Investitionslenkung, mehr Gleichheit von Vermögen und
       Einkommen, Arbeitsumverteilung und die Ablösung der politischen Eliten.
       
       Gegenentwürfe sind zuhauf da; sie werden in Kommunen und Subkulturen, von
       Stromrebellen, Selbsthilfegruppen, Solarpionieren, Privatschulgründern und
       tausenden sozialer Netzwerke ausprobiert; es gibt sogar
       CDU-Bildungsminister, die davon träumen, die Lehrer zu entbeamten. Was
       fehlt, sind organisations- und provokationsstarke Kerne engagierter Bürger,
       die nicht nur im Kleinen vorangehen, sondern den Parlamenten die Debatte
       über neue gesamtgesellschaftliche Strukturen, über Gemeingüter, Bildung,
       Energie aufzwingen. Der Kassensturz, der uns Mitte dieses Jahres
       bevorsteht, könnte sie hervorbringen. Und auch ein Modell dafür haben wir
       schon erlebt: runde Tische.
       
       Die Kochs aller Fraktionen haben nur ein Ass in der Hand, und das sticht
       schwer: bei dem Aufbruch, den wir uns so mühelos denken können, werden wir,
       die gebildete, halbwegs gut verdienende Mittelschicht mehr opfern müssen
       als Zeit und den Verzicht auf dreimal Easy-Jet. Mit Reichensteuer allein
       ist es nicht getan.
       
       26 Jan 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mathias Greffrath
       
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