# taz.de -- Publizist über Realpolitik in Südamerika: "Buenos Aires hat etwas Frenetisches"
       
       > Vor acht Jahren war Argentinien pleite. Néstor und Cristina Kirchner
       > regieren seither das Land. Ein Gespräch mit dem Publizisten Verbitsky
       > über linke Realpolitik.
       
 (IMG) Bild: "Ähnlich wie in New York": Tango-Tänzer in Buenos Aires.
       
       taz: "Das Volk muss die Kontrolle über die Politik und die Politik die
       Kontrolle über die Ökonomie zurückgewinnen." Herr Verbitsky, das sagten Sie
       uns in einem Gespräch vor acht Jahren. Das war kurz nach dem Zusammenbruch
       der argentinischen Ökonomie. Was lässt sich für heute sagen? 
       
       Horacio Verbitsky: Sicherlich ist der Prozess, der stattgefunden hat, nicht
       perfekt. Aber wir haben eine Revitalisierung des politischen Systems
       erlebt, und die Bevölkerung hat ein neues Verhältnis zur Politik bekommen.
       Mit der Wahl Néstor Kirchners zum Präsidenten 2003 hat die Politik
       teilweise wieder die Kontrolle über die Wirtschaft zurückgewonnen. Kirchner
       war für die argentinische Politik ein völlig unerwartetes Phänomen. Niemand
       hatte das Auftauchen eines solchen Charakters an der Spitze des Staates
       vorhersehen können.
       
       Sie haben die Regierung Néstor Kirchner (2003-2007) unterstützt. Was
       betrachten Sie als deren größte Leistung? 
       
       Ich habe Kirchner gewählt, ich habe ihn damals nicht in seiner Kampagne
       unterstützt. Aber in den ersten Wochen nach seinem Amtsantritt säuberte er
       die Spitze des Militärs und setzte 27 Generäle ab. Die Militärs hatten
       schon wieder begonnen, sich in die Politik einzumischen. General Brinzoni
       suchte Néstor Kirchner auf, als dieser noch Gouverneur der Provinz Santa
       Cruz war, um ihm eine gemeinsame Regierung aus Militär und Politik
       nahezubringen. Davon hat mir Kirchner erst kürzlich in einem Interview
       berichtet.
       
       Das wusste man bislang nicht? 
       
       Nein. Kirchner sagte damals zu Brinzoni, dass die Rolle des Militärs in der
       Verfassung festgelegt sei. Und damit nicht genug: Er hat Brinzoni und die
       gesamte militärische Führungsspitze in der ersten Woche seiner Amtszeit
       abgesetzt. Das hatte Wirkung. Niemals zuvor in der argentinischen
       Demokratie hatte ein ziviler Präsident tatsächlich die politische Kontrolle
       über das Militär ausgeübt. Weder Alfonsín noch Menem noch de la Rúa oder
       Duhalde. Kirchner ging auch sofort daran, die Justiz neu zu ordnen, und
       machte sie tatsächlich zu einem unabhängigen Organ. So unabhängig, dass
       sich daraus auch viele Probleme für die Regierung heute ergeben. Aber damit
       muss man leben.
       
       Und im Bereich der Ökonomie, was hat er erreicht? 
       
       Es ging darum, sofort neue Arbeitsplätze zu schaffen, das Mindesteinkommen
       anzuheben. Ebenso die Renten. Und mit dem IWF hart über die
       Auslandsschulden zu verhandeln. Er hat die Empfehlungen des IWF
       zurückgewiesen. In den Verhandlungen mit dem IWF und den Gläubigern
       erzielte Kirchner einen enormen Schuldenerlass von etwa 70 Prozent. Als er
       anfing, die Wirtschaft zu entschulden, hatte Argentinien Auslandsschulden
       in Höhe des eineinhalbfachen Bruttoinlandsprodukts. Heute sind es noch 40
       Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
       
       Konnten die Kirchners auch die Kapitalflucht stoppen? 
       
       Mehr oder weniger. Aber in den zwei letzten Jahren setzte sie wieder ein -
       ein Grund für das schlechte Verhältnis der jetzigen Regierung von Cristina
       Kirchner zum Präsidenten der Zentralbank. In den Zeiten der Krise konnte
       man legal bis zu 100.000 US-Dollar im Monat ins Ausland transferieren. Die
       Zentralbank erhöhte den Betrag auf heute bis zu 2 Millionen US-Dollar pro
       Monat. Der Spielraum für illegale Transaktionen ist sehr groß. So tauchen
       zum Beispiel Rentner oder Arbeitslose auf, die plötzlich 2 Millionen
       US-Dollar ins Ausland überweisen. Gegen ein paar Peso stellen sie sich als
       Strohmänner zur Verfügung. Der Präsident der Zentralbank hat nichts dagegen
       unternommen.
       
       Hier zeigen sich also für beide Kirchner-Regierungen die Grenzen der Macht? 
       
       Die fundamentale Schwäche der Regierung von Néstor und seit 2007 der von
       Cristina Kirchner ist das Fehlen einer starken politischen Basis, um den
       Angriffen der Mächtigen zu trotzen. Kirchner hat es mit den Militärs
       aufgenommen und eine erfolgreiche Wiederaufnahme der Verfahren gegen
       Diktaturverbrechen ermöglicht. Er legte sich mit der katholischen Kirche
       an: Nachdem Kirchners Gesundheitsminister Kondome verteilen ließ, wünschte
       der Erzbischof, dass man dem Minister einen Mühlstein um den Hals hänge und
       ihn im Meer versenke. Er stellte sich dem Finanzsystem entgegen. Und
       Cristina Kirchner ist nun dabei, das Vorsorgesystem wiederherzustellen.
       Menem hatte in den 1990ern die solidarische und soziale Altersvorsorge
       privatisiert und individualisiert. Die privaten Unternehmen haben sich
       daran enorm bereichert, während der Staat auf den Pflichten der Absicherung
       sitzen blieb, einer der Gründe der Staatsverschuldung und des
       Staatsbankrott 2001/2002. Doch bis heute ist die Kontrolle des gesamten
       Bankensektors marginal. Beide Kirchner-Regierungen blieben mit ihren
       Reformen des Finanzsektors auf halber Strecke liegen.
       
       Dann kam noch der Streit mit dem Agrarsektor hinzu … 
       
       Cristina Kirchner hat es auch mit der alteingesessenen Oligarchie der Pampa
       aufgenommen, als diese sich weigerte, die Steuern für die Ausfuhr von
       Getreide und vor allem von Soja zu bezahlen. Dieser Konflikt hält bis heute
       an und hat die Regierung 2008 und 2009 schwer beschäftigt. Die
       peronistische Partei ist sehr, sehr opportunistisch, und die Kirchners
       haben es nicht geschafft, eine andere Linke hinter sich zu bekommen, eine
       Alternative zu formieren.
       
       Wer unterstützt dann eigentlich die von den Kirchners geführten
       Reformregierungen? 
       
       Die Medien sicher nicht. Sie sind in der Regel auf plumpe Art gegen die
       Kirchners. Die Regierung wird vor allem durch die Ärmsten der
       argentinischen Gesellschaft gestützt. Ein Drittel der Bevölkerung steht
       fest zur Regierung, aber das reicht natürlich nicht aus. Doch hier kommt
       auch eine Stärke der Kirchners zum Tragen: Sie unterdrücken die sozialen
       Konflikte nicht. Es gibt eine Vielzahl täglicher Proteste,
       Straßensperrungen, "Piquetes" genannt. Diese erzeugen jedoch beim
       Mittelstand eine unglaublich schlechte Laune.
       
       Es gibt also eine große Sichtbarkeit sozialer Unzufriedenheit? 
       
       Genau. Im Gegensatz dazu verfolgt die Regierung der Stadt Buenos Aires
       unter dem Bürgermeister und Unternehmer Mauricio Macri eine Politik der
       Repression. Sie formierte Spezialeinheiten zur Kontrolle des öffentlichen
       Raums, die nachts in schwarzen Uniformen patrouillierten und Obdachlose
       einsammelten, um sie aus der Stadt zu schaffen. Die Kirchners sind gegen
       Kürzungen im Sozialbereich und für staatlich kontrollierte
       Wirtschaftsförderprogramme. Aber Cristina Kirchner hat es nicht geschafft,
       ihre Wirtschaftspolitik mit Klarheit und Anschaulichkeit zu kommunizieren,
       wie das zum Beispiel Evo Morales in Bolivien gelang. Die Opposition, der
       Evo Morales gegenüberstand, ist vergleichbar mit derjenigen, mit der es
       Néstor und Cristina Kirchner in Argentinien zu tun haben. Aber Evo hat die
       Wahl mit 60 Prozent der Stimmen gewonnen. Cristina Kirchner liegt im
       Augenblick bei 30 Prozent. Da ist irgend etwas schiefgelaufen.
       
       Was ist dran an den Korruptionsvorwürfen gegenüber den Kirchners? 
       
       Direkte Korruption: nein. Aber es gab Fälle von Korruption im Umfeld,
       weniger als zu Zeiten Menems, mehr aber als unter Alfonsíns und etwa gleich
       viel bei de la Rúa.
       
       Wie hat Argentinien die aktuelle Weltwirtschaftskrise überstanden? 
       
       Sehr gut. Strukturell ist die Wirtschaft stark und gesund. Auch wenn die
       argentinischen Medien diese Tatsache verschleiern.
       
       An zeitgenössischen argentinischen Filmen oder Romanen fällt auf, dass sie
       neben dem ökonomisch krisenhaften Leben auch immer wieder die
       Globalisierung und südamerikanische Migration zum Thema haben. Inwiefern
       hat sich in Ihrer Wahrnehmung eine Stadt wie Buenos Aires in den letzten
       Jahren verändert? 
       
       Natürlich hat sich Buenos Aires sehr verändert. Die Migration aus den
       angrenzenden Ländern wie Peru oder Bolivien ist sichtbar. Néstor Kirchner
       hat eine Politik der offenen Türen verfolgt. Er strich das Gesetz der
       Migration aus Zeiten der Diktatur, das die automatische Rückführung
       illegaler Einwanderer vorsah. Heute bedarf es dazu eines Prozesses, und
       illegal Eingewanderte erhalten eine provisorische Aufenthaltsbewilligung.
       
       Hat die Migration hauptsächlich Buenos Aires zum Ziel? 
       
       Nein, das ganze Land. Aber sie ist in Buenos Aires deutlich sichtbar. Das
       Baugewerbe zum Beispiel ist praktisch paraguayanisch. Man läuft an einer
       Baustelle vorbei und hört Guaraní.
       
       Welche Veränderungen gibt es noch in der Stadt? 
       
       Buenos Aires hat etwas Frenetisches, wozu die verschiedenen Einflüsse der
       Migration beitragen. Ähnlich wie in New York.
       
       Ein "Melting Pot"? 
       
       Nein, New York ist kein "Melting Pot". In New York vermischen sich Menschen
       unterschiedlicher Herkunft selten. In Buenos Aires vermischt man sich. Die
       argentinische Gesellschaft ist offen, und das ist eines ihrer
       sympathischsten Charakterzüge. Das heißt nicht, dass es keine
       Fremdenfeindlichkeit oder keinen Regionalismus gibt, aber solche Tendenzen
       sind nicht hegemonial. Ein Regierender wie Berlusconi ist für Argentinien
       undenkbar.
       
       8 Feb 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) E.-C. Meier
 (DIR) A. Fanizadeh
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA