# taz.de -- Zehn Jahre Flüchtlingsschule: Bildung für Rechtlose
> Am Münchner Hauptbahnhof gibt es eine Schule, die keine Schule ist, die
> kein Geld vom Land bekommt – und die mit Jugendlichen lernt, die kein
> Recht auf Bildung haben.
(IMG) Bild: Über 90 Prozent der Flüchtlinge haben in den letzten Jahren ihren Hauptschulabschluss geschafft, mit besseren Ergebnissen als im bayerischen Durchschnitt.
MÜNCHEN taz | Als er bei Rosenheim aus dem Transporter stieg, konnte Rawan
kein Wort Deutsch. Alles, was er von dem Land kannte, in dem landete, war
Bayern München. Heute spricht der 17-Jährige fließend Deutsch, in wenigen
Monaten wird er seinen Schulabschluss in der Tasche haben. Junge Menschen
wie Rawan sind in Deutschland fast immer "hoffnungslose Fälle" - denn mit
16 endet die Schulpflicht. Für junge Flüchtlinge existiert kein Recht auf
Schulbildung. Eigentlich.
Doch Rawan hatte Glück. Er traf auf die SchlaU-Schule. SchlaU steht für
[1]["schulanaloger Unterricht für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge"].
In der Schillerstraße am Münchner Hauptbahnhof bereiten sich 140 junge
Flüchtlinge zwischen 16 und 20 Jahren auf den Hauptschulabschluss vor.
Zwischen Rotlicht-Bars und Spielhallen ist die Schule im zweiten Stock
eines Bürogebäudes untergebracht. Aushänge im Flur informieren über
"Aufenthaltserlaubnis" oder "Duldung und Asyl".
Die Krisenherde der Welt sind in der Schillerstraße zuhause. Ein Drittel
der Schüler etwa sind Iraker. "Die innerirakischen Konflikte übertragen
sich ins Klassenzimmer", erzählt Michael Stenger, der die Schule gegründet
hat. Zuletzt hatte Stenger einen, wie er sagt, "heftigen Jahrgang" - eine
Klasse mit zwölf ehemaligen Kindersoldaten aus Sierra Leone. Das größte
Problem für die unbegleiteten Flüchtlinge sei ihr "Kopfweh", erklärt er.
"Ein Kopfweh, das wir nicht kennen. Die Frage, ob Mama und Papa noch leben
- und wenn ja: Wo?" Das ist die größte Lernblockade für seine Schützlinge.
SchlaU hat Schülern schon drei Monate fürs Arbeiten frei gegeben - damit
sie ihre Familien finanziell unterstützen können.
Das erste Fach in seiner Schule sei immer "Kopf hoch", sagt der Direktor.
"Bei dieser belastenden Klientel muss die Persönlichkeit wichtiger sein, es
gehört eben dazu, dass wir dem Afghanen beibringen, dass er nicht
,Scheiß-Iraker' sagt." Die Erfolge der Schule sind messbar: Über 90 Prozent
der Flüchtlinge haben in den letzten Jahren ihren Hauptschulabschluss
geschafft, mit besseren Ergebnissen als im bayerischen Durchschnitt. Fast
genauso viele der SchlaU-Schüler bekommen einen Ausbildungsplatz - Zahlen,
von denen viele staatliche Hauptschulen nur träumen können. Und das, obwohl
viele der Jugendlichen als Analphabeten nach Deutschland gekommen sind.
Rawan kam aus dem Irak nach Deutschland. Der schmächtige Junge ist einer
der SchlaU-Schüler, die in ihrer Heimat tatsächlich schon mal eine Schule
von innen gesehen haben. "Da war es normal, dass der Lehrer uns geschlagen
hat", erzählt er. Seine Mitschülerin Aisha aus Somalia sagt, dass SchlaU
für sie eine große Chance sei. Rawan nickt. Im Irak habe er nach dem Krieg
Probleme bekommen, weil er kein Moslem ist. Fast einen Monat war er auf der
Flucht, in einem Lastwagen aus der Türkei fuhr er durch Europa. Sechs Tage
lang durfte er ihn nicht verlassen. Bei Rosenheim entließ ihn der Fahrer in
eine ungewisse Zukunft. Rawan landete auf der SchlaU-Schule. Drei Jahre
darf er auf jeden Fall noch in Deutschland bleiben. "Ich weiß noch nicht,
was ich werden will", sagt er schüchtern, "erst muss ich noch überlegen, wo
meine Stärken liegen." Seine Klassenkameradin Aisha ist da schon weiter:
"Ich will gerne Informatikerin werden".
"Man muss die Lebensvoraussetzungen der Menschen, für die man Schule macht,
kennen", sagt Schulleiter Michael Stenger. "Obwohl wir Schüler aus allen
Kriegsgebieten und Religionen haben, leiden alle am gleichen Problem", sagt
der 50-Jährige: "Sie sind entwurzelt. Sie nennen uns oft Mama oder Papa."
Michael Stenger gründete die Schule im Jahr 2000 mit einigen Mitstreitern
aus der Flüchtlingsarbeit. "Anfangs war ich auch Lehrer und
Sozialpädagoge", erinnert er sich lachend, "mittlerweile bin ich nur noch
Schulleiter und Geschäftsführer." Seit 2005 führt die Schule auch zum
Hauptschulabschluss, der an einer staatlichen Schule abgenommen wird. Die
Motivation ist seitdem größer geworden. Pünktlichkeit ist eine der
Eigenschaften, auf die die SchlaU-Pädagogen besonderen Wert legen. Nur
vereinzelt schlüpft kurz nach neun Uhr noch ein Schüler ins Klassenzimmer.
Wenn einer der Flüchtlinge zu spät kommt, kann er oft nichts dafür:
Regelmäßig geraten die Jugendlichen in Ausländerkontrollen der Polizei, die
dafür verantwortlich ist, dass sie sich verspäten.
"Dass über die Flüchtlinge gesprochen wird, als wären das alles schwierige
Leute, ist eine Unverschämtheit", ereifert sich Stenger, "das sind Leute in
schwierigen Lebenssituationen, die zu Teil schwer traumatisiert sind, die
brauchen viel Zuspruch." Seine Lehrer besuchen Fortbildungen zu Asylfragen
oder zum Umgang mit Traumatisierten. Die meisten der Pädagogen haben keine
klassische Lehrer-Ausbildung, sondern haben "Deutsch als Fremdsprache"
studiert. Fast die Hälfte der SchlaU-Stunden dient denn auch dem Erlernen
der Sprache.
Die Schule stößt inzwischen an Grenzen. Chemie und Physik können in den
engen Räumlichkeiten nicht angeboten werden - was für die SchlaU-Schüler
oft zum Problem wird, wenn sie anschließend die Berufsschule besuchen. 30
ehemalige Berufsschullehrer geben daher Einzel-Nachhilfe für die
Absolventen - ehrenamtlich. Die Betreuung der Schüler endet nicht mit dem
Schulabschluss. Bei der Ausbildungsplatzsuche stehen Schulleiter Stenger
und seine Mitstreiter den jungen Leuten ebenso zur Seite wie während der
Lehre.
Die Schule kann längst nicht mehr alle Interessenten aufnehmen. 200
Jugendliche bewarben sich im letzten Jahr auf 40 Plätze. Mit einem Gespräch
und einem Test versuchen die Pädagogen herauszufinden, wer in welche Klasse
hineinpassen könnte. Der große Bedarf liegt auch daran, dass der Staat
keine derartigen Angebote schafft. "Dabei ist es doch nur zum Wohle des
Staates, wenn man die Leute nicht sprachlos im Lager lässt", wundert sich
Michael Stenger. "So sagen sich die jungen Leute doch nur, dass sie eh
keine Chance haben." Das Geld kommt von einem Stiftungskreis, von der Stadt
München und aus dem Europäischen Sozialfonds. Vom für Bildung zuständigen
Land Bayern sieht die Schule hingegen keinen Cent.
Ein Problem, das bundesweit existiert. "Die jungen Flüchtlinge haben im
Regelfall keinen oder nur sehr eingeschränkten Zugang zu Bildung", sagt
Thomas Berthold vom Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige
Flüchtlinge; wenn überhaupt, gebe es häufig nur Sprachkurse in den Heimen.
"Unabhängig von der Farbenlehre der Regierungen ist das ein Problem in
allen Bundesländern", sagt er. Einzelne Kommunen, Schulleiter oder
Initiativen seien es, die sich - wenn überhaupt - um die jungen Flüchtlinge
kümmerten. "Der Staat missachtet eine seiner Kernaufgaben", kritisiert
Berthold, "er muss sich um die Schulbildung aller Jugendlicher kümmern."
Die finanzielle Unsicherheit ist auch für SchlaU ein großes Problem. Er
könne zwar mittlerweile für drei Jahre statt für drei Monate planen,
erklärt Michael Stenger, "ich bin aber vorsichtiger geworden."
Expansionspläne der Schule liegen derzeit auf Eis. "Bevor wir hier nicht
alles finanziell überschauen, müssen wir nicht über Nürnberg und Berlin
nachdenken", sagt Stenger.
Zunächst einmal feiern die SchlaU-Aktiven den zehnten Geburtstag der
Schule. Erwartet werden hunderte Ehemalige - darunter etliche Studenten.
10 Feb 2010
## LINKS
(DIR) [1] http://www.schlau-schule.de/
## AUTOREN
(DIR) Felix Müller
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