# taz.de -- die wahrheit: Fragen Sie Reich-Ranicki
       
       > Was ist wirklich dran an dem Roman "Axolotl Roadkill"?
       
 (IMG) Bild: Muss zwischen achtzehn und zwanzig Stunden am Tag telefonieren: Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.
       
       Es wird gegenwärtig sehr viel über den Roman "Axolotl Roadkill" von Helene
       Hegemann diskutiert. Sollte man ihn gelesen haben? Ich frage mich das, weil
       ich an Literatur interessiert bin und auch selber schon den einen oder
       anderen "Schreibversuch" unternommen habe. Andererseits möchte ich mir
       meinen Appetit aber auch nicht mit ungenießbarer Lesekost verderben. 
       
       Günter Grass, Kalkutta 
       
       Marcel Reich-Ranicki: Dazu will ich zunächst bemerken, dass es in der
       Literatur schon immer zu unterscheiden galt zwischen guten, lesenswerten,
       anspruchsvollen Werken, die sich eines dauerhaften Zuspruchs erfreuen, und
       daneben schlechten, trivialen, langweiligen Machwerken, die sich vielleicht
       eine Zeitlang recht gut verkaufen, aber dem kritischen Urteil der Nachwelt
       nicht standhalten. Dies trifft sowohl auf Romane, Erzählungen und Novellen
       zu als auch auf Dramen und Gedichte.
       
       Ich nenne, stellvertretend für viele andere, hier nur die Namen Goethe,
       Schiller, Heine, Dickens, Dostojewski, Tolstoi, Flaubert, James Joyce,
       Samuel Beckett, Franz Kafka, Ulla Hahn und Thomas Mann auf der einen Seite
       und auf der anderen heute zu Recht vergessene Autoren wie Pirnitzer,
       Wolinsky, Trettenbach, Firnecker, Dohlemann, Burdacher, Mocksch und Hans
       Frettl. Sie können diese beiden literarischen Ahnenreihen beliebig
       erweitern und werden in jedem einzelnen Fall die Wahrheit meiner These
       bestätigt finden.
       
       Es mag uns zwar beklagenswert erscheinen, dass selbst so bedeutende
       Erzähler wie Hsüan Yildiz, Udo Wurlemmer und Wilhelm Raabe in unseren Tagen
       im Abseits stehen, aber daran ist nun einmal nichts zu ändern.
       
       Umso erfreulicher scheint mir der Umstand zu sein, dass der große Romancier
       Theodor Fontane (1819-1889) jetzt sogar in Kenia eine Renaissance erlebt
       und dort besonders von jungen, bildungshungrigen Leuten wieder gern gelesen
       wird. Sein Roman "Effi Briest", der uns das bittere Los einer Frau
       nahebringt, wird zurzeit auch gänzlich neu ins Koreanische übersetzt. Von
       eminenter Bedeutung sind und bleiben aber auch die "Wanderungen durch die
       Mark Brandenburg".
       
       Wieder etwas anders ist es um den Nachruhm jener Autoren bestellt, die sich
       in den romanischen Sprachen Verdienste erworben haben. Zu verweisen wäre
       jedoch auch auf das erstaunliche Echo, das die Lyrik Eichendorffs in der
       modernen ägyptischen Literatur hervorgerufen hat, vergleichbar nur mit der
       Begeisterung für die Gedichte Ingeborg Bachmanns in so unterschiedlichen
       Ländern wie Honduras und Baden-Württemberg.
       
       Diese und andere, aber auch ganz ähnliche Erfahrungen haben schon viele
       Schriftsteller und Schriftstellerinnen gemacht, von Shakespeare über Mörike
       und Hölderlin bis hin zu den großen amerikanischen Erzählern, von denen ich
       an dieser Stelle nur John Steinbeck, Thomas Wolfe, William Faulkner und
       Philip Roth aufzählen will.
       
       Was nun die aktuelle Debatte über die junge Frau Hegemaus betrifft, so
       gestehe ich freimütig, dass ich ihr Buch "Axolotl Roadkill" noch nicht
       gelesen habe. Wie Sie vielleicht wissen, muss ich jeden Tag achtzehn bis
       zwanzig Stunden lang telefonieren und mir die übrige Zeit höchst genau
       einteilen, zumal ich jetzt die ehrenhafte Aufgabe übernommen habe, einen
       Kanon herausragender chilenischer Hörspiele der ersten Hälfte des
       zwanzigsten Jahrhunderts zusammenzustellen, ganz zu schweigen von meiner
       ehrenamtlichen Tätigkeit als Synchronsprecher eines Lindwurms in einer
       Produktion der Augsburger Puppenkiste.
       
       Unvollständig wäre meine Antwort freilich, wenn ich hier nicht dazu
       einlüde, den Dichter Peter Huchel neu zu entdecken. Und auch in Frankreich,
       Skandinavien und selbst in Afrika gibt es vergleichbare Dichterschicksale;
       denken Sie nur an die großen Russen: Tolstoi, Dostojewski, Turgenjew,
       Gogol. Oder auch an die flämischen, rumänischen, mexikanischen und
       thailändischen Novellisten, deren namentliche Aufzählung ich mir ersparen
       möchte.
       
       Nur ein Name sei an dieser Stelle noch genannt: Uwe Johnson. Aber das ist
       ein weites Feld. Zu erinnern wäre bei anderer Gelegenheit auch an Heinrich
       von Kleist, Alfred Döblin, Gustav Freytag, Herbert Schnake, Otto
       Giesekanne, Heinrich Böll sowie alle Literaturpreisempfänger und/oder
       -juroren, die Marcel Reich-Ranicki heißen.
       
       10 Feb 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gerhard Henschel
       
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