# taz.de -- Canisius-Kolleg: Kadavergehorsam als oberste Tugend
       
       > In den 60er-Jahren herrschten am Jesuitengymnasium Autoritätsfixierung,
       > Prügelstrafe und Sexualfeindlichkeit, erinnert sich ein Zögling von
       > damals.
       
 (IMG) Bild: Blick durch ein Fenster in den Innenhof des Canisius-Kolleg
       
       Ich war Schüler des Canisius-Kolleg von 1963 bis 1972. Das CK galt als
       etwas Besonderes, neben Latein konnte man an diesem humanistischen
       Gymnasium auch Griechisch lernen. Mein Vater, ein gläubiger, konservativer
       und kluger Mann, war von meinem Wunsch, das CK zu besuchen, wenig angetan:
       "Die Schulen der Jesuiten, das ist zu viel des Guten, da kommt am Ende das
       Gegenteil dabei heraus." Doch er ließ mir meinen Willen. So wurde ich
       Zeuge, wie ein traditionsreiches Elitegymnasium in einer Zeit
       antiautoritärer Aufbrüche bis in seine Grundfesten erschüttert wurde.
       
       "Die Unterweisung der Jugend soll eine Auslese der Besten heranbilden":
       Diese elitäre Erziehungsauffassung, die ein Pater kurz nach dem 2.
       Weltkrieg als Motto für das CK formuliert hatte, war auch noch in den
       60er-Jahren Leitmotiv. In einem Brief an unsere Eltern hieß es: "Die
       Schüler lernen am Canisius-Kolleg alles, um später eine führende,
       verantwortliche Stellung in Kirche und Staat einzunehmen." Unsere Lehrer,
       die Jesuitenpatres, frönten einem Geist, wie ihn ihr Ordensgründer Ignatius
       von Loyola in der Gründungserklärung der Jesuiten festgehalten hatte: "Wir
       sollen uns dessen bewusst sein, dass ein jeder von denen, die im Gehorsam
       leben, sich von der göttlichen Vorsehung mittels des Oberen führen und
       leiten lassen muss, als sei er ein toter Körper (ac si cadaver essent,
       daher Kadavergehorsam), der sich wohin auch immer bringen und auf welche
       Weise auch immer behandeln lässt, oder wie ein Stab eines alten Mannes, der
       dient, wo und wozu auch immer ihn der benutzen will."
       
       Doch was geschieht, wenn die vermeintlichen Eliteschüler mehr an pubertärem
       Quatsch als an Ignatius Kadavergehorsam interessiert sind? Schnell bekamen
       wir hautnah zu spüren, was bei der kleinsten Disziplinlosigkeit geschah:
       Der Religionslehrer Pater R. zitierte regelmäßig schwatzende Schüler nach
       vorne: "Macht der Schüler quatsche, quatsche, macht der Pater patsche,
       patsche. Und so sieht von hinterwärts Gottesfurcht ins Kinderherz." Dann
       fragte er: "Antlitz oder Postlitz?" Eine Backpfeife oder ein Schlag auf den
       Hintern war je nach Antwort die Folge. Pater B. zog die Schüler kräftig an
       den Haaren. Herr F. war Spezialist für Katzenköpfe, und es gab viele
       weitere Methoden, Kadavergehorsam einzuprügeln.
       
       Den Lehrern fehlte zu der Zeit jegliches Unrechtsbewusstsein. Pater M.:
       "Ich finde es unverschämt, wenn ein Schüler einen Lehrer so weit reizt, bis
       dieser ihn schlägt" - typisch jesuitische Rabulistik, ganz in der Tradition
       des Ordens. Im 19. Jahrhundert gab es an Jesuitenkollegien den "blauen
       Mann", meist der Schuldiener, der sich eine blaue Maske überzog als Zeichen
       dafür, dass er nicht als Privatmann, sondern als Organ der Schuljustiz die
       Prügelstrafe mit dem Rohrstock vollzog. Wenn wir uns im 20. Jahrhundert
       über die Prügelstrafe beschwerten, bekamen wir vom Direktor Pater Z. zur
       Antwort: "An unserer Schule gelten die bestehenden Gesetze nicht." Als
       Schüler in den Lehrer-Schüler-Ausschuss eine Resolution gegen die
       Prügelstrafe einbringen wollten, beendete der Vorsitzende dieses Gremiums,
       Pater S., abrupt die Sitzung: "Es ist 16 Uhr, und ich habe jetzt keine Zeit
       mehr." Jener Pater S., der damalige Vizedirektor, brachte schließlich das
       Fass zum Überlaufen. Wegen eines Schneeballwurfs auf dem Schulhof ohrfeigte
       er einen Schüler. Da er seinen Schlüssel in der Hand behielt, verletzte er
       ihm das Trommelfell.
       
       Wir begannen uns organisiert zur Wehr zu setzen. Da man wegen ganz
       unterschiedlicher Vergehen vom CK fliegen konnte - ein Schüler hatte im Bus
       die Monatskarte eines Mitschülers gezeigt, zwei Schüler hatten Flugblätter
       gegen den Vietnamkrieg verteilt, zwei Schüler hatten vor einem
       Jugendzentrum die gerade von Papst Paul VI. verdammte Antibabypille
       verteilt -, entschlossen wir uns zum klandestinen Widerstand. Auf
       verschiedenen Demos und Treffen im republikanischen Club hatten wir Kontakt
       zu studentischen Aktivisten des SDS bekommen. Diese verteilten vor dem CK
       ein Flugblatt folgenden Inhalts: "Alle Studenten stinken. Diesen
       bemerkenswerten Ausspruch hörte ich doch tatsächlich aus dem Munde einer
       Lehrerin, als ich vor Kurzem vor einem Klassenzimmer lauschte. Ach,
       übrigens, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist
       Arthur. Ich streife manchmal so durchs Schulgebäude und bekomme dabei ganz
       erstaunliche Dinge zu hören." Arthur, das waren zeitweilig bis zu 40
       Schüler von den 600 Canisianern. Weit mehr noch sympathisierten mit ihm.
       
       Bei den Schulsprecherwahlen folgten 24 Prozent der Schüler dem Aufruf,
       Arthur auf den Stimmzettel zu schreiben. Der prangerte nicht nur die
       zahlreichen Prügelvorfälle an. In der Untergrundzeitung "Der rote Arthur"
       wurden auch die politischen Einstellungen der Jesuitenlehrer angegriffen.
       Für uns waren Jesuitenpatres wie Alfred Delp, der den Nazis bis zu seiner
       Hinrichtung mutig widerstanden hatte, beeindruckende Vorbilder. Einige
       jüngere Patres machten uns mit den Ideen der Theologie der Befreiung aus
       Lateinamerika bekannt. Über sie erfuhr Arthur auch brisante Einzelheiten
       aus dem Lehrerzimmer. Die Mehrheit der Patres hatte aber kein Problem
       damit, offen ihre Sympathie für die damals in Spanien und Griechenland
       herrschenden faschistischen Regimes zu zeigen. Franco habe schließlich
       gegen den Kommunismus gekämpft! Über den griechischen Obristen Patakos hieß
       es: "Die Griechen wollen das ja. Die sagen, dass sie jetzt Ruhe und Ordnung
       haben" (Pater R.).
       
       Pater M. hatte seine eigene Vorstellung von Demokratie. "Da gibt es zwei
       Meinungen. Eine ist meine, die andere ist deine. Aber sei gewiss, meine ist
       bestimmt richtig." Er witterte überall politische Sünden. Als wir während
       einer Klassenfahrt nach Rom vom Attentat auf Rudi Dutschke hörten, zitierte
       er uns auf sein Zimmer: "Für Rudi Dutschke in der Kirche beten, am
       Karfreitag Eis essen und im Ausland den Spiegel lesen, das ist alles die
       gleiche politische Verirrung."
       
       "Triebbeherrschung - Keuschheit und Liebe in der Schuld" - diese
       Überschrift aus dem christlichen Moralbuch "Für fünfzehn- bis
       zwanzigjährige Jungen und Jungmänner" aus dem Jahre 1967 charakterisiert
       die Sexualerziehung am CK zu jener Zeit. Wir waren damals eine reine
       Jungenschule. Als ein Klassenkamerad knutschend mit seiner Freundin von
       einem Pater auf dem Kudamm gesichtet wurde, erhielten die Eltern wenige
       Stunden später einen Anruf der Schule. In religiösen Wochen wurden wir über
       die Gefahren der Onanie aufgeklärt: "Führt zu Rückenmarkserweichung". Nach
       den Theaterproben flüchteten immer alle blitzschnell aus der
       Umkleidekabine. Pater M. wollte liebend gern besonders einigen Jungen beim
       Umziehen helfen. Direkte Übergriffe sind mir zumindest aus meinem Umfeld
       aber nicht bekannt.
       
       An der Atmosphäre am heutigen Canisius-Kolleg mag sich vieles geändert
       haben. Was mich stutzig macht, ist, dass die Missbrauchsfälle 30 Jahre lang
       vertuscht wurden und kein Jesuit erklären kann, warum sie gerade jetzt
       veröffentlicht und aufgearbeitet werden sollen. Ist das wirklich eine
       Flucht nach vorn, wie der jetzige Leiter des CK, Pater Klaus Mertes, sagt?
       Warum ist er mit seinen Informationen über Missbrauchsfälle nicht früher an
       die Öffentlichkeit gegangen? Reicht die Verschwiegenheitspflicht gegenüber
       den Informanten angesichts der vielen neuen Opfer als Begründung aus?
       
       Sicher gibt es auch an anderen Schulen sexuelle Übergriffe von Lehrern auf
       SchülerInnen, jedoch bieten das Schweigekartell, die katholische
       Sexualmoral und der jesuitische Kadavergehorsam einen spezifischen
       Nährboden für deren Vertuschung.
       
       Pater R. schleuderte uns damals in einer Predigt beim wöchentlichen
       Schulgottesdienst entgegen: "Wer unter dem Vorwand, gegen Establishment und
       Reaktion zu sein, rebelliert, für den wäre es besser, dass ihm die Hand
       verdorre und seine Gebeine in der Wüste verblichen." Den heutigen Jesuiten
       wäre kein biblischer Fluch zu wünschen. Aber das Ende des Corpsgeistes und
       der Doppelmoral.
       
       11 Feb 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Norbert Böhnke
       
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