# taz.de -- Winnenden-Amoklauf in den Medien: Bis zur letzten Träne
       
       > Bald jährt sich der Amoklauf in Winnenden. Die Medien brachen damals
       > sämtliche Tabus. Zum Jahrestag droht eine neue Journalisten-Invasion.
       > Haben sie dazugelernt?
       
 (IMG) Bild: Kreidespuren zeigen den Umriss des Amokläufers Tim K. vor einem Autohaus in Wendlingen am Neckar.
       
       Erst ist ein vom Regen oder von Tränen halb verschwommener Brief zu sehen,
       die geschwungene Schrift stammt von einem Kind, es hat Herzen gemalt und
       Worte geschrieben wie: "Ich werde dich nie vergessen." Daneben flackert
       eine Kerze, Stofftiere, Blumen, noch mehr Briefe, ein ganzes Meer der
       Trauer breitet sich aus. Davor kauern und knien Schüler und Eltern, viele
       weinen oder halten sich in den Armen. Das alles vor einer Schule in einer
       deutschen Kleinstadt.
       
       Winnenden. Jeder kennt die Bilder. Am 11. März jährt sich der schreckliche
       Amoklauf zum ersten Mal, 15 Menschen wurden dabei ermordet, zwei davon in
       Wendlingen. "Winnenden" ist zum Argument in Diskussionen um Waffenrecht,
       Videospiele, Jugendschutz, dem Zustand der Schulen, dem sozialen
       Zusammenhalten geworden. Der Name der baden-württembergischen Kleinstadt
       hat sich ins kollektive Gedächtnis des Landes gebrannt wie Eschede oder
       Erfurt.
       
       Nicht zum ersten Mal kam die Frage auf, ob sich die Medien korrekt
       verhalten haben, als sie die Bilder einfingen. In jenen Tagen nach der Tat,
       in denen Journalisten, ihre Fragen, ihre Kameras, Mikrofone, Notizblöcke
       zur Bilderwelt des Traumas der Menschen dort wurden. Tage, in denen
       Journalisten für viele Winnender zu Aasgeiern der Informationsgesellschaft
       verkamen. Auch, weil die intimsten Details die meisten Leser finden.
       
       Es gibt nur wenige Journalisten, die näher am Geschehen dran waren, als der
       Chefredakteur des Magazins Werben & Verkaufen, Jochen Kalka. Er wohnt in
       Winnenden, seine Kinder gehen hier zur Schule. Mit seinem Wissen hätte er
       im vergangen Jahr viele Top-Geschichten haben können, mit Details über die
       Familien der Opfer oder die des Täters, er kennt viele Menschen im Ort.
       "Mir ist es schwergefallen, damit journalistisch umzugehen. Man kann viel
       kaputtmachen. Dann kann man nicht mehr durch den Ort gehen, weil man genau
       das tut, was man kritisiert", sagt er. Kurz nach dem Amoklauf stammelten
       traumatisierte Kinder etwas in Mikrofone. Manche Geschichten kennt Kalka
       aus erster Hand: Dass Journalisten Kindern und Jugendlichen bis zu 100 Euro
       für eine gute Szene boten. Stellt hier eine Kerze ab, dann umarmt euch -
       mit etwas Glück weinen sie vielleicht. Als die Opfer beerdigt wurden,
       standen Fotografen mit Leitern und armdicken Zoomobjektiven an der
       Friedhofsmauer. Soziale Netzwerke im Internet sind nach allen verfügbaren
       Bildern von Täter und Opfern abgegrast worden, natürlich ohne sich um so
       etwas wie Bildrechte zu scheren. Reporter zogen von Haus zu Haus und
       klingelten, um Freunde oder Angehörige der Opfer ausfindig zu machen. "Die
       Stadt ist so klein, diese Enge hat alle zusätzlich hochgepeitscht. Jeder
       wollte die bessere Geschichte haben", sagt Kalka. Als die zweite Welle der
       Berichterstattung über die Sensationsjagd der Medien anrollte, wurde es
       besser. Moralische Einsicht? "Nein, die Stories waren einfach durch", sagt
       Kalka.
       
       Auch er hat einen Fehler gemacht: Er stellte für einen Onlinebericht ein
       Zitat seiner eigenen Tochter ins Netz. Als sie es las, bekam sie einen
       Weinkrampf. Er bereut das, sagt er heute. Vor allem zeigt es, unter welchem
       enormem Druck Journalisten fatale Fehler machen. In der taz haben dem Autor
       dieses Textes zwei Schüler einer betroffenen Klasse den Tathergang
       geschildert. Darf man das drucken? Man kann sich tausend Mal sagen: Bevor
       ich als Journalist die Opfer eines solch traumatischen Erlebnisses
       behellige, hänge ich meinen Job an den Nagel. Und wenn es so weit ist, dann
       muss eine Zeitung voll werden. Auf einmal ist es sogar ein gutes Gefühl,
       die Geschichte zu haben.
       
       Jetzt naht der Jahrestag und mit ihm die nächste Presseinvasion. Deshalb
       hat die Stadt über drei Wochen vor dem 11. März 2010 Journalisten ins
       Rathaus geladen. Regionalzeitungen sind da, ein paar Kamerateams, auch
       Privatfernsehen. Die Rektorin der Albertville-Realschule, Astrid Hahn,
       richtet einen Appell an die Medien: "Wir wollen diese Zeit für uns
       verbringen. Es ist ein ganz, ganz wichtiger Meilenstein zur Verarbeitung.
       Wir brauchen das, um in eine gute Zukunft blicken zu können." Sie spricht
       von der Tatzeit, in der die Schüler privat ohne Medien trauern wollen.
       
       Beim Presserat gab es 47 Beschwerden über die Berichterstattung. Daraus
       wurden zwei öffentliche und eine nichtöffentliche Rüge. Böse Zungen
       behaupten, die Abgemahnten ließen sich davon so sehr beeindrucken wie
       Mahmud Ahmadinedschad von UN-Sanktionen. Es gab eine Rüge für eine
       3-D-Animation im Internet, die zeigte, wie der Täter durchs Schulhaus lief
       und wen er dann erschoss. Außerdem für eine Fotomontage in der Bild, sie
       zeigte den Täter im Kampfanzug (nur nebenbei: er trug keinen) und eine
       Grafik des Moments, in dem er abdrückte.
       
       "Die Grafik war sicherlich ein Grenzfall. Aber auch die berühmten Fotos des
       Napalm-versehrten Mädchens aus Vietnam wären aus Sicht der Opfer oder
       Angehörigen schwer erträglich. Wenn die Medien die Realität abbilden
       wollen, müssen sie manchmal auch harte Dinge zeigen - auch als Grafik",
       sagt Nicolaus Fest aus der Bild-Chefredaktion der taz. Ein Foto einer
       Überwachungskamera wäre schließlich rechtlich auch unproblematisch gewesen,
       so habe man sich eben, um die Dramatik der Situation zu illustrieren, für
       eine Grafik entschieden.
       
       Es gab auch Pressevertreter, die sich bei den Angehörigen entschuldigten,
       wie "Brisant"-Redaktionsleiter Hans Müller-Jahns auf der Jahrestagung des
       Journalistenverbands Netzwerk Recherche. Psychologen forderten zwar nach
       Winnenden eine Art Presseinterventionsteam, ähnlich wie die psychologischen
       Notdienste, um im Falle von Katastrophen oder Gewalttaten den Betroffenen
       sofort beratend zur Seite zu stehen. Allerdings ist die Diskussion im Sande
       verlaufen. Der Presserat will demnächst eine Broschüre mit Tipps
       herausbringen, wie sich Journalisten in Situationen wie Amokläufen beim
       Recherchieren verhalten sollten. Trotz der Rügen sagt Edda Kremer vom
       Beschwerdeausschuss des Presserats, die meisten Printmedien hätten sich in
       Winnenden verantwortungsbewusst verhalten.
       
       Dass Journalisten auch nach schrecklichsten Ereignissen bohrende Fragen
       stellen müssen, das sehen auch der Winnender Oberbürgermeister Bernhard
       Fritz oder Astrid Hahn so. Beide loben die Medien auch immer wieder und
       sprechen von einzelnen schwarzen Schafen. Der Psychologe Thomas Weber
       koordiniert die Betreuung der Betroffenen in Winnenden, dazu gibt es ein
       Büro in der provisorischen Schule. Manchmal, sagt er, kommen immer noch
       Fotografen einfach rein und schießen Bilder. "Besonders durch das
       unaufgeforderte, unkontrollierte Fragen erinnern sich die Kinder wieder an
       den 11. März. Dann kochen die Erinnerungen hoch und es kommt zu einer
       Retraumatisierung", sagt er.
       
       Dabei können Medien durchaus bei der Verarbeitung helfen, wenn die
       Betroffenen von sich aus an die Öffentlichkeit wollen. So ist es bei
       Kindern und Eltern. Sie haben sich beispielsweise im Aktionsbündnis
       Amoklauf Winnenden politisch engagiert. Wichtig sei, sagt Weber, dass die
       Betroffenen die Kontrolle behalten, denn die ging an dem Tag der Tat
       vollkommen verloren: "Wenn Kinder und Jugendliche Interviews und
       Medienarbeit mitgestalten können, dann kann das bei der Verarbeitung
       helfen", sagt Weber. Besonders regionale Zeitungen hätten das beherzigt. Er
       nennt einen Artikel des Waiblinger Zeitungsverlags als vorbildlich, der
       unter Beratung des Dart Centre Europe entstand. Die Organisation bildet
       unter anderem Journalisten fort, um sie auf eine sensible Berichterstattung
       über Gewalt und Tragödien vorzubereiten.
       
       Auch Kalka hat nach einem halben Jahr einen sehr sensiblen Text für das
       Magazin der Süddeutschen Zeitung verfasst. Drei Angebote, ein Buch zu
       schreiben, lehnte er ab. Ein Mitarbeiter eines renommierter Verlags sagte
       ihm, er sei nicht richtig betroffen, weil seine Kinder noch lebten.
       Momentan, sagt Kalka, liegt wieder viel Nervosität und Trauer über
       Winnenden, der Jahrestag zerrt an den Nerven. Astrid Hahn sagt, die
       Winnender wollen die Opfer zwar nie vergessen. Aber eine solche Gedenkfeier
       werde es nur dieses eine Mal geben. Dann wird sich der Medientross auf
       andere Themen stürzen. Das Synonym "Winnenden" aber wird bleiben.
       
       6 Mar 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ingo Arzt
       
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